29. September 2011

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, Parkett rechts, Reihe 7, Platz 14


Robert Schumann – Szenen zu Goethes „Faust“

Juliane Banse – Sopran

Chen Reiss – Sopran
Anja-Nina Bahrmann – Sopran
Natascha Petrinsky – Mezzosopran
Iris Vermillion – Alt
Steve Davislim – Tenor
Simon Keenlyside – Bariton
Georg Zeppenfeld – Bass
Staatlicher Akademischer Chor „Latvija“
Tölzer Knabenchor



Eigentlich ist es doch beruhigend, gewisse Konstanten im Leben zu wissen und angenommene Entwicklungen bestätigt zu sehen. Es ist ein gutes Gefühl, Jeffrey Tate nach seiner Krankheit wieder am Pult sein wunderbares Orchester beflügeln zu erleben, das unter seiner Gestaltung und mit Hilfe von exzellenten Gesangssolisten eine weitere mustergültige Interpretation eines großen Werkes bietet.

Weniger beruhigend als vielmehr ernüchternd ist jedoch die Konstante, angesichts einer Komposition aus der Feder Schumanns die angesprochene Größe nur in Bezug auf Besetzung und Aufführungsdauer erkennen zu können: selten habe ich mich auf so hohem Niveau gelangweilt. Die Faszination an Schumann erschließt sich mir schlichtweg nicht. Ähnlich Mozart und Mendelssohn mag es zwingende Ausnahmen geben, aber es ist das Grundsätzliche, das Wesen dieser Musik ist mir zutiefst fremd. Als hörte ich eine Sprache eines anderen Kulturkreises, die mich nicht fasziniert, sondern einfach ausschließt.

Einige wenige Momente des Werkes sind mir haften geblieben: Die eigentümliche Kombination von Gretchens Gesang mit dem Dies Irae des Chores, der dämonische Auftritt der Sorge (hinreißend: Chen Reiss), Fausts „Augenblick verweile doch“ und die ein oder andere Kleinigkeit aus dem zweiten Teil. Für meinen Geschmack etwas wenig für zwei Stunden Dauerbeschallung.

Dabei waren mit den Solisten die besten Anwälte für das Werk zugegen, die sich denken lassen: Simon Keenlyside als stimmgewaltiger, aber auch sensibler Faust (evtl. durch eine Erkältung nicht ganz im Vollbesitz seiner Stimmschönheit – in mittlerer bis hoher Lage in gemäßigter bis geringer Lautstärke war die Stimme zuweilen brüchig). Georg Zeppenfeld – meine hohen Erwartungen wurden noch übertroffen – als nachtschwarzer Mephisto (perfekte Diktion, genialer Ausdruck, beeindruckendes Volumen). Chen Reiss als Krone des starken Damenquartetts (silbrig, kristallen; als Sorge stellte sie ihr dramatisches, dämonisch-verführerisches Talent unter Beweis). Dazu ein guter Tenor und eine sehr gute Juliane Banse (deren Stimme mir persönlich allerdings nicht so liegt), ergänzt durch solide Chöre. Kurz: an den Ausführenden lag es nicht, daß mich das Werk vollkommen kalt ließ.

Mir erscheint das alles so unendlich brav, so vorhersehbar, so unfordernd. Harmonisch ist da nichts, das mich faszinieren würde, alles bleibt hübsch in schulmeisterlich-klassischen, biederen Bahnen. Selbst die größten Steigerungen verpuffen – laute Musik, na und? Ich habe da immer einen Schumann im Kopf, der spricht: „jetzt wollen wir aber recht tüchtig auf den Putz hauen!“ Und das Ergebnis: gebremster Schaum. Mit domestizierter Leidenschaft kann ich nichts anfangen, ich erbitte mir in solchen Fällen Ekstase.

Und was genau möchte Schumann eigentlich? Opernszenen? Ein Oratorium? Eine Kantate? Von allem ein bißchen? Einzig in den bereits angesprochenen „dunklen“ oder lyrisch entrückten Momenten kann ich ihm (bedingt) folgen, ähnlich dem 4. Satz der „Rheinischen“. So oder so ist mir das zu wenig, da gibt es andere, lohnendere Pfründe der musikalischen Ernährung – bei der Beschäftigung mit Schumann fürchte ich doch langfristig das Auftreten von Mangelerscheinungen.

Nach dem Konzert zeigte sich Keenlyside vom Werk sehr begeistert, lobte vor allem den Ansatz „richtigen“ Goethe vertont zu wissen – im Gegensatz zu Berlioz und Gounod. Auch Reiss und Zeppenfeld schwärmten von dem Stück. Vielleicht haben sie ja den Schlüssel, den ich bislang vergeblich gesucht habe.

28. September 2011

Rotterdams Philharmonisch Orkest – Yannick Nézet-Séguin.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Wolfgang Amadeus Mozart – Konzert für Violine und Orchester G-Dur KV 216 (Veronika Eberle)
Zugabe: Sergej Prokofjew
Sonate für Violine solo D-Dur op. 115 (2. Satz: Thema und Variationen: Andante dolce)

(Pause)

Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 8 c-Moll (Robert Haas)



Wird Herr Nézet-Séguin allen Ortens schon als neuer Stern am Dirigentenhimmel gepriesen, kann ich nach dem heutigen Abend nur bedingt in diesen astrologischen Chor einstimmen. Mein schlichtes Fazit: ein guter Dirigent mit seinem guten Orchester (nebst guter Solistin) sorgt für ein gutes Konzert – nicht mehr und nicht weniger.

Im Einzelnen: Das Orchester ist nicht schlecht, besitzt allerdings in keiner Instrumentengruppe etwas, das es in meiner Wahrnehmung besonders hervortreten ließe. So entsteht ein ordentlicher, ein guter Klang - aber eben kein außerordentlicher. Auch der Solistin im Mozartkonzert läßt sich nichts vorwerfen, außer daß mich ihr Ton Mozart eben nicht näher gebracht hat. Es geht nun mal zarter, virtuoser, geschmeidiger ...

Nezét-Séguins Mozartinterpretation gibt mir nichts. Sie erwärmt mich nicht für eine Musik, zu der ich ohnehin kaum Zugang besitze. Sein Bruckner ist nicht schlecht, in jedem Fall gestaltet und nicht nur abgespult, aber auch keine Offenbarung. Wie gesagt, sicher ein brauchbarer Mann, jedoch in meinen Augen kein Überflieger. Jugend allein ist keine Auszeichnung, auch wenn sie offenbar beim Publikum gut ankommt.

26. September 2011

John Malkovich: The Giacomo Variations.
Staatsoper Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 20


Die Erkenntnis des Abends: Massenmord steht mir als Konzept eindeutig näher als Vielweiberei. Der vermeintlich größere Unstern, der als unheilvolles Signum über, vielmehr vor dem Gelingen des Abends stand, war die in Aussicht stehende Speisung aus rein mozartscher Quelle. Bedenkt man diese erschwerten Bedingungen, kann ein wunderbarer Abend konstatiert werden – der allerdings dem Erlebnis im Schauspielhaus leider nachstand, nachstehen mußte.

War Malkovich in „The Infernal Comedy“ noch Dreh- und Angelpunkt des Stücks, agiert er hier mehr in das Ensemble integriert, gewissermaßen als erster unter gleichen. Dies kommt der ganzen Struktur des Stückes zugute, das deutlich runder, homogener daherkommt – auch in der szenischen Einbindung der musikalischen Partien. Doch eben diese Homogenität birgt die Gefahr einer gewissen Glätte, wie sie beim Unterweger-Ego-Trip nie zu befürchten war. Sicher, auch dieses Stück bietet Malkovich eine Bühne für all das, was die Zuschauer an ihm kennen und lieben und sehen wollen. Diese Momente treten hier allerdings deutlich dosierter zu Tage.

Die durch Malkovich Unterweger in den Mund gelegte unverblümte Offenheit mit der selbst produzierten und erwünschten doppelbödigen Wirkung auf andere, das permanente Spiel Malkovichs mit der Erwartungshaltung seines durch seine Rollentradition geprägten Publikums – all das ist in dieser Form im Giacomo nicht Hauptthema, nicht in dieser monologischen Form. Sicher, das Prinzip ist ähnlich, ob Malkovich in seinem Metier als Psychopath oder in Anbindung an seine Rolle des Valmont Reminiszenzen wachruft – in beiden Fällen darf er genüsslich drangsalieren, ausrasten, Monologe halten, mit einer Mischung aus Staunen und Entrückung schauen oder betont beiläufig die wuchtvollsten Dinge sagen. Nur, daß nach meinem Empfinden in der Infernal Comedy absolut kein Hehl daraus gemacht wurde, Malkovich eine möglichst breite Spielwiese bieten zu wollen. Wie gesagt, der Struktur des aktuellen Stücks hat diese Entegomanisierung gut getan – es hat diesmal eine.

Aber genug davon und nun zum Abend im Detail. Schon der erste Blick auf das Bühnenbild, der gleich mit dem Betreten des Saales gewährt wird (es wird komplett auf den Gebrauch des Bühnenvorhangs verzichtet), hält eine mehr als deutliche Anspielung auf das Kommende bereit: Drei Pavillon-ähnliche Séparées in der Form riesenhafter, überzeichneter Reifröcke, unter deren ausladenden Vorhang-Hüften verschiedene Räume angedeutet werden können. Die beiden äußeren Lauben sind zudem auf Rollen dreh- und verschiebbar, die zentral postierte, größte, fungiert als Schlafzimmer. Etwas Mobiliar und wenige Requisiten schaffen Giacomos Schreibstube in der rechten Laube und verorten das Geschehen – abgesehen von den prächtigen Gewändern – in der Zeit des Herzensbrechers. Zudem wird mittels Lichtregie die Atmosphäre ggf. verändert.

Das Stück beginnt gleich mit einem Knalleffekt. Malkovich erleidet auf der Bühne eine Herzattacke, die ihn zu Boden streckt, wobei bewusst damit gespielt wird, ob hier nur „gespielt“ oder tatsächlich gestorben wird. Nicht wenige im Saal erlagen dieser Ungewißheit, genährt von besorgten Blicken aus dem Orchestergraben und hastig aus dem Publikum zu Hilfe Eilenden – bis die Sopranistin im Arztornat des Rokoko per Elektroschockbehandlung Hand an den aufgebahrten Herren legt.

Eine Slapstick-Einlage später ist der Gute wieder auf den Beinen. Schon hier zeigt sich das musikalische Konzept des Abends: Die „Krankenbehandlung“ wird als darstellerische Plattform für eine Mozartsche Szene genommen. Dieses Prinzip zieht sich durch den Abend, wobei die (musikalischen) Szenen durch die Einbindung in andere Zusammenhänge – immer bezogen auf das Leben Casanovas, seien es „aktuelle“ Gedanken oder Erinnerungen – zum Teil deutliche „Uminterpretationen“ erfahren, ohne daß ein Wort der Arie, des Terzetts usw. geändert worden wäre.

Das Ensemble machte seine Sache sehr gut, wobei auch hier der „demokratische“ Ansatz der Produktion deutlich wird. Während die beiden Sänger auch als Schauspieler agieren, kommen Malkovich und seine Schauspielkollegin auch beim Gesang zum Zuge, zumeist in unterstützender Form bei Terzetten/Quartetten. Natürlich ist Malkovich kein Opernsänger, darum geht es auch gar nicht, vielmehr geht es um die Realisation von Konflikten, Unterredungen usw. im dramatischen Gefüge. Opernminiaturen, die gewissermaßen das Leben Casanovas illustrieren, wechseln mit Schauspiel, beides bildet eine Einheit, das vorliegende Stück ist Musiktheater im Wortsinne.

Sophie Klußmann besitzt nicht nur einen wunderbaren, zarten Sopran, der mit ihren lyrischen Momenten für die musikalischen Höhepunkte des Abends sorgt, sondern Kraft ihrer Anmut und Ausstrahlung auch enorme darstellerische Intensität. Florian Boeschs Bariton ist mehr als brauchbar, darstellerisch gibt er mit viel Freude am Spiel die jugendliche Inkarnation Casanovas und diverse andere Herren.

Das Stück ist reich an starken Momenten, musikalischer wie darstellerischer Art. Ob es nun die Schauspielerin ist, deren Tränen ihre verzweifelten Vorwürfe gegenüber Giacomo fast ersticken lassen, oder die Sopranistin, die sich unter zartestem Gesang dem Liebhaber hingibt, oder Casanova selbst, der am Schluß in einem zerbrechlichen, wenn nicht gebrochenen Duett mit seinem Alter Ego von der Bühne abgeht.

Dabei wird beileibe nicht nur Feinsinniges geboten, es ist durchaus Platz für Klamauk – der vom Publikum entsprechend honoriert wird. Es ist doch so: Anzüglichkeiten, sexuelle Anspielungen und der gemeine Schenkelklopfer verfehlen offenbar bildungs- und ständeübergreifend nicht ihr Ziel.

Gern hätte ich an diesem Abend weiter vorn gesessen, die Nähe meines Platzes im Schauspielhaus hat sicher auch seinen Teil zu der insgesamt stärker empfundenen Intensität beigetragen. Bleibt nur zu hoffen, daß Herr Malkovich auch weiterhin dieser Art von Grenzgängertum, dieser Form von Musiktheater, zugeneigt bleibt und man auf neuerliche Besuche hoffen darf.


John Malkovich – Giacomo
Ingeborga Dapkunaite – Elisa
Sophie Klußmann (Sopran) – Elisa II
Florian Boesch (Bariton) – Giacomo II
Wiener Akademie – Martin Haselböck

11. September 2011

Kammermusik im Foyer – Hindemith-Quartett.
Oper Frankfurt.

11:00 Uhr, freie Platzwahl


Anton Webern – Langsamer Satz
Joseph Haydn – Streichquartett D-Dur op. 76 Nr. 5
Claude Debussy – Streichquartett


(Ingo de Haas – 1. Violine, Joachim Ulbrich – 2. Violine, Thomas Rössel – Viola, Daniel Robert Graf – Violoncello)



Webern: tonal gehaltener, spätromantischer Satz versonnener Stimmung (vgl. „Im Sommerwind“). Haydn: Haydn halt. Debussy: starkes, abwechslungsreiches (pizzicato-Elemente 2. Satz) Werk mit einem ausgesprochen innigen 3. Satz, der mich musikalisch und dem Gehalt nach am meisten anspricht.

Alle Werke werden mit entsprechendem Einsatz und Ausdruck wiedergegeben, minimale Intonationseintrübungen hier und da können das durchweg gelungene Konzert nicht schmälern.

10. September 2011

Die tote Stadt – Erik Nielsen.
Oper Frankfurt.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 12














Gute, kompakte, wenn auch etwas steif abgelesene Einführung, die alle wesentlichen Punkte knapp zusammenfaßte (Inhalt des Werks, Vita des Komponisten, Inszenierung, Vorstellung der Sänger der Hauptpartien). Nette Unterhaltung mit meinem Alter Ego in 30, 40 Jahren: heute war sein 105. Konzert- bzw. Opernbesuch in diesem Jahr!

An diesem Abend hätte ich doch gern etwas weiter vorn gesessen. Die nicht unbedingt kleinen Stimmen (Fritz) sind mir heute zu fern, zu distanziert. Werde mir noch mal meine Platzhistorie in Frankfurt zu Gemüte führen. Wahrscheinlich gibt es „den“ Platz einfach nicht. Trotzdem insgesamt ausgewogenes, harmonisches Klangbild.

Die Oper Frankfurt schafft es immer wieder, einfach stimmige Produktionen auf die Bühne zu bringen. Ich kann mich gerade nicht an einen wirklichen Reinfall erinnern – im Gegenteil, manch besonders starke Opernerlebnis hatte ich in Frankfurt (Palestrina, Fausts Verdammnis, Der Zwerg ... und natürlich alles überragend Death in Venice). Daß es heute nur zu einem guten Abend reicht, liegt wie so oft eher im Detail, als am Gesamtkonzept. Die wunderbare Inszenierung trifft dabei diesmal keinerlei Mitschuld.

Das Orchester ist gut aufgelegt, leistet sich keine nennenswerten Schwächen, wird aber – und hier sehe ich das Hauptmanko des Abends – von Herrn Nielsen nicht genug befeuert. Insbesondere die geradezu auf Messers Schneide angelegten Zerreißproben zwischen Paul und Marietta geraten mir allem Getöse zum Trotz zu harmlos, zu brav. Da muß der Furor einfach Funken aus dem Orchestergraben schlagen. Schlägt er aber nur bedingt.

Die Sängerschar ist durchweg stark besetzt, aber auch hier fehlt mir das letzte Quäntchen zum Glück. Burkhard Fritz als Paul ist stimmlich wie darstellerisch eine gute Wahl. Sein Tenor spielt immer dann seine Stärke aus, wenn er strahlen darf. Aber Paul strahlt nur von Zeit zu Zeit. Darüber hinaus sehnt er, fleht er, verzehrt er sich. Gerade das Zärtliche, Zerbrechliche kommt mir bei Fritz angesichts seiner Stimme, die zwar frisch und jung ist, aber in letzter Konsequenz keine wirklich lyrische Facette besitzt, in der Ausgestaltung des Paul zu kurz. Dennoch bin ich froh, solch einen versierten Sänger als meinen „Erstpaul“ zu erleben.

Die Sängerin der Marietta bzw. Marie, Nicola Beller Carbone, hinterläßt bei mir einen gemischten Eindruck. Sie besitzt eine gute, wenn auch keine überragende Stimme, schwingt sich jedoch teilweise zu sehr intensiven Momenten auf. Intensiv durch und durch ist hingegen ihre Darstellung der Marietta. Ihre anmutigen Bewegungen stellen nie in Zweifel, daß es sich bei Marietta (und sie selbst?) um eine wahrhaftige Tänzerin handelt. Sie ist die eigentlich starke Persönlichkeit des Abends. Der Sänger des Frank, der auch den Pierrot übernimmt, ist stimmlich wie szenisch eher unauffällig.

Den Lorbeer des Abends trägt kein Darsteller, sondern die Inszenierung davon. Wie schon angesprochen wieder mal ein gelungenes Gesamtpaket in Frankfurt. Angefangen beim stimmigen, dienlichen Bühnenbild mit seinen Lamellen, die Pauls Behausung für die realen oder traumhaften Erscheinungen Brügges öffnen und dem alles beherrschenden Kubus seines Totenkultzimmers. In diesem ebenfalls durch Lamellen verschließbaren Raum sind die Reliquien seiner Frau arrangiert, deren Abbild sich nicht auf Fotografien, sondern mehreren, von der Decke hängenden Flatscreens zeigt – sofern Paul sie mittels Fernbedienung wieder zum Leben erweckt.

Paul selbst erscheint, in seinem reduzierten Anzug und mit Glatze, wie ein Mönch in seinem Privatkloster, das er zur Anbetung seiner verstorbenen Gattin errichtet hat. Die stets aufnahmebereite Videokamera auf dem Stativ unterstreicht Pauls Konservierungsobsession, die er an Marietta aufs Neue auszuleben versucht. Diese bricht mit ihrem geblümten Mantel auch optisch in seine Welt ein. Ihr rotes Kleid bleibt als zentrales Bild allgegenwärtig, ob in der Erscheinung der mahnenden Toten oder schließlich im dritten Akt in der multiplen Erscheinung der greisen Marie(n).

Besonders wirkungsvoll gerät besagte Erscheinung Maries im ersten Akt, die durch eine Videoprojektion wahrhaft soghaft suggestiven Charakters unterstützt wird. Wobei es sich „nur“ um Zeitlupenaufnahmen der Sängerin handelt, wie sie sich dem Betrachter durch einen dunklen Gang nähert bzw. wieder entfernt, abgewechselt mit Nahaufnahmen in denen sie mal lächelt, mal ernst blickt, in Bezugnahme auf Pauls höchste Reliquie – eine Strähne – ihr Haar kokett-verträumt fliegen läßt. In Kombination mit spiegelbildlichen Überlagerungen, Mehrfachbelichtungen ihres Gesichts ergibt sich zusammen mit der zum Zerreißen gespannten Musik die Verbildlichung von Pauls surrealem (Alb-)Traum.

Gleichsam dieser (Innen-)Welt entsprungen scheinen die bizarren Erscheinungen der Nonnen, der Gaukler und der Heiligen im späteren Verlauf der Oper. Der Brückenschlag zwischen der bis zum Äußersten getriebenen Jenseits- und Frömmigkeits-Selbstzerfleischung Pauls und der burlesken, todeswissenden Welt der Gaukler gelingt zum einen durch die grotesken Kostüme, zum anderen in der Betonung des Robert-der-Teufel-Intermezzo als Sinnbild für Pauls Situation. Ist Marietta Verderberin oder (potentielle) Erlöserin?

Am Schluß seines (Selbst-)„Exorzismus“, bei dem nicht er, sondern die greisenhaften Marie-Erscheinungen Marietta „töten“, sie in ihr Reich ziehen, weiß er, daß er fort muß. Er schließt jeder der nun leblosen Marie-Klone die Augen und verläßt mit seinem Freund endgültig das Mausoleum, das er aus seiner Wohnung gemacht hatte, ebenso wie er Marietta verläßt, bevor er sie – über seine unheilvolle Vision hinaus – im wirklichen Leben kennen lernen kann.

Fazit: Eine Inszenierung, die einen idealtypischen Zugang zu diesem Werk bietet, das überreich an musikalischen Kostbarkeiten ist und angesichts seiner zwingenden Dramatik grübeln läßt, warum es nicht zum festen Repertoire eines jeden Hauses gehört.


Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Erik Nielsen
Regie – Anselm Weber
Szenische Leitung der Wiederaufnahme – Tobias Heyder
Bühnenbild – Katja Haß
Kostüme – Bettina Walter
Licht – Frank Keller
Dramaturgie – Norbert Abels
Video – Bibi Abel
Choreografie – Alan Barnes
Chor – Matthias Köhler
Kinderchor – Michael Clark

Paul – Burkhard Fritz
Marietta – Nicola Beller Carbone
Frank – Sungkon Kim
Brigitta – Nadine Weissmann
Juliette – Anna Ryberg
Lucienne – Jenny Carlstedt
Victorin – Simon Bode
Graf Albert – Hans-Jürgen Lazar
Gaston (Tanz) – Alan Barnes
Gaston (Gesang) – Simon Bode

Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Chor und Kinderchor der Oper Frankfurt