9. März 2012

Klavierabend – Grigory Sokolov.
Die Glocke Bremen.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 1, Platz 15















Jean-Philippe Rameau – Suite in re
Wolfgang Amadeus Mozart – Sonate a-Moll KV 310 (300d)

(Pause)


Johannes Brahms – Variationen über ein Thema von Händel op. 24

Johannes Brahms – Drei Intermezzi op. 117
Sechs Zugaben



Nach Hamburg, Lübeck und Köln nun also Bremen als Schauplatz für mein viertes Sokolov-Konzert. Erste Reihe Mitte, direkt „unter“ dem Flügel – sicher nicht der ausgewogenste Höreindruck, aber die Chance, möglichst ohne menschliche und raumakustische Störfaktoren unmittelbar am Spiel des mit kaum steigerungsfähiger Erwartungshaltung bedachten Solisten teilzuhaben.

Und was soll ich sagen? Ich habe (wieder) etwas Magisches erhofft – und Sokolov liefert zuverlässig. Ich fasse noch einmal zusammen, was ihn in meinen Ohren zum besten Pianisten der Welt macht: Der differenzierteste Anschlag – von den machtvollsten, voluminösesten Schlägen bis zum mikroskopisch geformten Schatten eines Hauchs. Damit verbunden eine nicht mehr steigerungsfähige Bandbreite der Dynamik. Eine Technik, die ihm in jeder Situation das Ungeahnte erlaubt, als Ausdruck bestaunenswertester, weil dienlichster Virtuosität.

Das Ergebnis: Unanzweifelbare Interpretationen, gespeist aus einer unerbittlichen (An-)Spannung, die einer elektrischen Ladung gleich auf den empfangsbereiten Hörer überspringt. Anspannung trifft den ganzen Komplex Sokolov wohl recht gut. Die immer gleichen, regelrecht einstudiert wirkenden Abläufe des Betretens und Verlassens der vorsorglich gedimmten Bühne; das scheinbar regungslose Entgegennehmen des Beifalls als weiteres „Modul“ in dieser Routine, in der ein Blumenstrauß eher für eine gewisse Unwucht zu sorgen scheint; die leicht auf den Rücken genommene linke Hand. Es geht mir dabei weniger um die Frage, ob Herr Sokolov seine Schritte zählt oder privat den Inhalt seines Kühlschranks nach Farben sortiert, sondern um die Feststellung dieser Anspannung, dieser federnden Anspannung – man könnte einfach auch von gelebter Konzentration sprechen – und ihrer Auswirkungen auf sein Spiel: die Realisation eines permanent-fokussierten Schöpfungsaktes ohne Beispiel.

Auf mein Hören übertragen erzeugt diese Anspannung kein Gefühl der Beklommenheit, sondern des Berauschens, einer Gewißheit der Unverletzlichkeit im Auge des Zyklon. Unter diesen Händen wird es keine Enttäuschung geben. Eine Art Tunnelblick stellt sich ein, eine Form des Gebanntseins, das die eigene physische Teilhabe am Gelingen dieser Situation suggeriert. Soghafte Steigerungen. Dynamische Eruptionen. Und immer wieder: Kontraste.

Apropos: Ich hätte nie gedacht, daß die Musik Rameaus (ohne daß ich zuvor eine konkrete Vorstellung von ihr gehabt hätte) so viel Freude, so viel Abwechslungsreiches für mich bereithalten würde. Eine lebendige, eine durch und durch elegante Musik, in der Darbietung Sokolovs keineswegs verstaubt oder akademisch. Vieles wirkte auf mich geradezu modern, wobei ich angesichts meiner Unkenntnis der Stücke dies nicht genauer belegen kann. Im Mai werde ich Sokolov mit dem gleichen Programm in Hamburg besuchen, vielleicht sehe ich dann bereits etwas klarer. In jedem Fall freue ich mich auf eine Wiederbegegnung mit diesem Werk (und Sokolovs Triller-Gatling), das mich auf dem Programmheftpapier ehrlicherweise eher abgeschreckt hatte. Auch die Mozart-Sonate hat mir – Trommelwirbel – musikalisch sehr zugesagt. Was war da los? Ein Moment der Schwäche? Ein perfider Zauber? Wohl eher der Zauber großer Musik, der heute durch den passenden Fürsprecher seine Wirkung zeigen konnte.

Kaum zeigt sich das zarte Pflänzchen mozartschen Schulterschlusses im heimischen Musiktreibhaus, entzündet sich nach der Pause ungleich heftiger die alte Liebe zur brahmsschen Borke. Bei soviel Saft und Kraft, aber auch entrückter Zartheit, bleibt einzig das Gefühl tiefer Dankbarkeit, sich an diesem Abend an diesem Ort befunden haben zu dürfen. Sechs Zugaben sorgen für sechs weitere Ausbaustufen der Verzückung.

Darf’s auch etwas weniger Pathos sein? Aber bitte: (aufgeschnappt während der Pause, in der – wie immer bei Sokolov-Konzerten – der Flügel nachgestimmt wurde) Er zu Ihr: „Schau mal, der Flügel war verstimmt ... deshalb ist er auch gleich gegangen, ohne eine Mine zu verziehen – der ist sauer!“ Ich denke, da hätte sich selbst der Meister nicht ein Schmunzeln verkneifen können. In diesem Sinne freue ich mich auf weitere wohltemperierte Momente mit Herrn Sokolov.