21. Januar 2012

The Rake's Progress – Karl Prokopetz.
Theater Greifswald.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 73















Bislang habe ich Premieren und den damit verbundenen Trubel ja eher gemieden und lieber Vorstellungen besucht, bei denen davon auszugehen ist, daß etwaige Kinderkrankheiten der Inszenierung behoben und das Ensemble ohne Premierenstress zu erleben sind. Außerdem habe ich mir jedesmal in panischen Gedanken ausgemalt, wer wohl alles die Vorstellung rein aufgrund eben jenes Premierenfaktors – und nicht aufgrund des Werkes oder gar der Musik – als Bühne bildungsbürgerlichen Schaulaufens beehrt und daher die Tuschel- und Knisterlegionen speist. Bei der heutigen Premiere in Greifswald lösten sich dann aber all meine Bedenken in Wohlgefallen auf – gerade weil der ominöse Premierenfaktor zum Programm erhoben wurde.

Dazu muß erst einmal erläutert werden, daß die Handlung der Oper in der Inszenierung eine Aktualisierung erfährt, die diesmal nicht bemüht oder platt, sondern im besten Sinne bühnenwirksam ausfällt. Die Grundgeschichte bleibt dabei unangetastet: Tom Rakewell, der Tunichtgut vom Lande, verläßt seine Liebe Anne Trulove und die Gewißheit auf sichere Anstellung beim Schwiegervater in spe, um in der großen Stadt das große Geld zu machen – verleitet und gelenkt vom mephistohaften Verführer Nick Shadow. Nur befinden wir uns nicht im England des 18. Jahrhunderts, sondern im Hier und Jetzt. Dabei geht die Inszenierung weit über das häufig übliche Kostüm-Update hinaus, läßt keine Ungereimtheiten zwischen Libretto und Aktualisierung aufkommen und gewinnt dem Stück mehrere, wirklich aktuelle Facetten ab, die absolut plausibel aus dem Stoff abgeleitet werden.

Ein roter Faden ist dabei die Faszination der modernen Medien bei Toms Suche nach Geld und Geltung. Schon in den ersten, scheinbar noch unbeschwerten Minuten der Aufführung, wenn Tom und Anne ihr zukünftiges Glück besingen, liefert der heimische Fernseher mit naiv-romantischen Naturaufnahmen bereits einen ersten Kommentar zum Stellenwert einer Instant-Medienwelt, die die Protagonisten den Abend hindurch beeindrucken und beeinflussen wird. Für sich allein wechselt Tom dann auch folgerichtig bereits vor Nick Shadows Erscheinen das Programm von Naturfilm auf Celebrity-Gala. Dort sehnt er sich hin und sein Dämonen-Schatten wird ihn dort hinführen. Die Umwandlung der nächsten Station, des Bordells von Mother Goose, als Gala-Empfang einer medienumschwirrten Schickeria erfolgt bruchlos. Wer hier angesichts Nerz und Stöckelschuhen, Goldkettchen und Sonnenbrille befremdet ist, dürfte für die Lehren, die das Stück bereit hält, unrettbar sein. Ich für meinen Teil finde es mindestens so „abwegig“ und köstlich, wenn an Stelle von trunkenen Huren und Schlägern die Damen und Herren des Medienzirkus ihr Altlateiner-Loblied auf Venus und Mars anstimmen. Die abschließende Orgie (bei der selbst die Kameraleute einsteigen, jedoch erst nachdem man das Treiben mit dem Handy festgehalten hat) illustriert auf wunderbare Weise die Zielsetzung beider Welten – Jeder macht's mit Jedem.

Bevor ich weiter in der Chronologie der Inszenierung fortfahre, möchte ich den Blick etwas genauer auf die angesprochenen Premieren-Begleitumstände lenken. Das Mother-Goose Bild stellt nämlich gewissermaßen die Auflösung eines Kniffs dar, mit dem schon das Premierenfeuer geschürt wurde, noch bevor sich der Vorhang gehoben hatte. Das Haus war hübsch hergerichtet und illuminiert, wie es für einen besonderen Anlaß wie diese Opernpremiere statthaft ist. Die lokalen Medien standen Kamera bei Fuß, Häppchen und gefüllte Stilgläser in ausreichender Menge bereit. Eben wie es sich gehört. Aber spätestens nach der informativen, eloquenten und geistreichen Einführung (in dieser Qualität selten erlebt – perfekte Beleuchtung von Inhalt, Entstehung, Musik und Inszenierung) verwischten die Grenzen zwischen tatsächlichem und inszeniertem „Event“: Fanfaren schallten durch die Gänge, die „Stars“ der Inszenierung hielten über einen roten Teppich Einzug ins Theater, begleitet vom frenetischen Gekreische ihrer „Fans“. Begleitet von Kamerateams und den Blicken der (zum Teil auch gerade erst eintreffenden) Theaterbesucher – Neugierde, Verwirrung, Unmut, Gleichgültigkeit – all das konnte man den Minen entnehmen; in meinem Fall konnte ich mich eines Schmunzelns nicht erwehren.

Komplett aufgelöst war die Trennung dann auf der „richtigen“ Premierenfeier nach der Aufführung, als die Akteure – immer noch im Kostüm – von der Greifswalder Speerspitze der Kulturkonsumenten (mich eingeschlossen) gefeiert wurden. Der Vertreter des Hauptsponsors erhält Gelegenheit zu einer kleinen Dankesrede, bei der ihm durch ein (diesmal unbeabsichtigtes!) Missgeschick das Micro abgewürgt wird. Besser hätte man das auch nicht inszenieren können. Wer feiert hier wen? Worum geht es? Um Gratissekt? Sehen und Gesehen werden? Gar um die Kunst? Ich glaube das Regieteam, allen voran der äußerst charismatische Regisseur, hatte an diesem Abend seine helle Freude. Und ich ebenso, was ich Herrn Blüml dann auch persönlich aufschwatzen mußte.

Aber nun zurück zum eigentlichen Ereignis des Abends, den Geschehnissen im Theatersaal selbst, wo wir uns immer noch im ersten der drei Akte befinden und sich Anne librettogemäß auf die Suche nach dem verschollenen Tom begibt. Dieser hat es im nächsten Bild zu einer gleichermaßen geräumigen wie kahlen Loftwohnung gebracht, in der er, die obligatorischen Puder und Pillen zu sich nehmend, die Inhaltslosigkeit seiner Existenz bejammert. Über ihm thront ein gewaltiger Flatscreen, auf dem sein „Freund“ Nick ihm gleich Abhilfe präsentiert – in Form von Lady Baba, im Original eine Jahrmarktsattraktion, hier eine schrill-abschreckende Mischung aus Lady Gaga und heruntergekommener Diva. Durch die Ehelichung dieser Attraktion der (Medien-)Gesellschaft könne sich Tom wieder in deren Mitte etablieren. Als Babas Ehemann – Annes Rettungsversuch scheitert – findet sich Tom dann tatsächlich im ersehnten Scheinwerferlicht wieder.

Doch die Freude über seine Tat als wahrhaft freier Mann, der die Konventionen außer Kraft setzt, über die gelandete Sensation, währt wie das Glück des Geldwunsches nur kurz, sieht er nun seine Designerbude in eine Art Streichelzoo für Stofftiere verwandelt, die Baba in jeder Form und Größe zu Horten scheint. Doch ungleich schwerer als die Anwesenheit der stummen Knuddelgesellen wiegt das gnaden- und interpunktionslose Geschnatter seiner Angetrauten (der Garderobe nach einem Manga ala Sailor Moon entsprungen), die er letzten Endes effektvoll mit einem Riesenstofftierkopf zum Schweigen bringt, den er über ihr eigenes Haupt stülpt (laut Libretto bringt er sie mit seiner eigenen Perücke zum Schweigen).

Der folgenden Heilsbringerwunsch-Szene ringt der Regisseur eine weitere Aktualisierung ab, die ich persönlich nicht gebraucht hätte, die aber durchaus dazu beiträgt, über die Intentionen des Stücks hinaus den Wahn der Gegenwart zu thematisieren: Die „Geschäftsidee“ besteht hier nicht darin, Steine in Brot, sondern Brot in Geld zu verwandeln. Zitat Blüml: „... und auf den Feldern der dritten Welt gedeiht unser Biodiesel statt Hirse.“ Die gescheiterte Massenproduktion der Erlösermaschine wird als globaler Börsencrash „in den Medien“ dargestellt, es schließt sich die Auktion an, die als Quell bühnenwirksamen, herzhaften Tumults fungiert. Daß hier am Schluß die Schlammschlacht zwischen Anne und Baba weit größeres Interesse als die Versteigerung (der Stofftiere) weckt, schlägt wieder den Bogen zum Medienfokus der Inszenierung, ohne auch nur ein Wort am Libretto ändern zu müssen.

Es folgt Toms verzweifeltes Spiel um seine Seele, dargestellt als Quizshow auf dem Friedhof mit Nick als Showmaster. Die Rezitative werden während dieser Szene ausnahmsweise nicht vom Klavier, sondern Synthieklängen begleitet – ich fand's originell. Tom liegt, bereits in ein Leichenhemd gewandet, in einem Sarg im Zentrum der Bühne. Nach hinten wird das Bild durch ein schmiedeeisernes Tor begrenzt, den Rahmen bilden an zwei Wänden verteilte Grabsteine, deren Rückseiten die verschiedenen Spielkarten zieren. Dreimal muß Tom die Karte erraten, dreimal setzt der Leuchtrahmen-Reigen der Grabsteine ein, dreimal wird eine Karte von den belackstiefelten (Todes-)Assistentinnen herumgedreht. Schließlich gewinnt Tom sein Leben und verliert seinen Verstand.

Das Abschiedsbild in der Anstalt (bzw. hier letztlich ein Altersheim) entfaltet eine unglaublich poetische, anrührende Kraft. Das Erscheinen Annes als Venus, die ihren „Adonis“ schließlich findet, schirmt, tröstet, hebt diesen Abend abseits aller sprühenden Einfälle und begeisternden Momente auf eine andere, den Kern menschlichen Sehnens berührende Ebene. Der Wunsch nach Geborgenheit, danach angekommen zu sein, sich ganz und gar am Ziel zu wissen, durchdringt die todtraurige Szene. Das Glück, das Tom in seinem Wahn empfindet, ist jedenfalls mit rein weltlichen Maßstäben nur unzureichend zu bemessen, für mich besonders eindringlich durch das Friedhofstor dargestellt, das in dieser gänzlich veränderten Beleuchtung, einem tiefen, milden Blau, eher Pforte als Einzäunung zu sein scheint. Sicher, am Ende bleibt Tom – wie alle „Vergessenen“ – allein zurück und stirbt, aber starb als Gott in den Armen einer Göttin.

Die Oper schließt mit der letzten stückimmanenten Brechung, der Verkündung der Moral durch das Ensemble vor dem Vorhang. Dem Publikum wird der Spiegel in Form der Kameras vorgehalten, die uns alle filmen und auf der großen Leinwand in Szene setzen. Möge der Kreislauf der Eitelkeiten aufs Neue beginnen.

War die Inszenierung auch untrüglich der „Star“ des Abends, verdient auch die musikalische Ausgestaltung Beachtung. Die Orchesterleistung ist angemessen, hier und da fehlt es etwas an Feinheiten. Der Anteil des Dirigats am Gelingen der Vorstellung ist für mich schwer zu bestimmen, da ich nicht gut genug mit der Partitur vertraut bin. Die Besetzung ist gemessen an der Größe des Hauses ohne Schwächen. Der stärkste Protagonist ist dabei der Sänger des Tom. Er verfügt gleichermaßen über eine kraftvolle, ausdrucksstarke, mit vorbildlicher Sensibilität und vor allem Lyrik agierende Stimme wie über die überzeugendste darstellerische Qualität. Der Sänger des Shadow hat ein gutes Organ, es fehlt ihm jedoch ein eigener Charakter, hinzu kommt das Problem der Textverständlichkeit (mehrere wichtige Sätze trägt er gemäß Inszenierung auf Deutsch vor) – davon abgesehen agiert er mit ungemeiner Spielfreude und Witz, wird seiner Entertainerfunktion mehr als gerecht. Die Sängerin der Anne besitzt zwar Unschuld und Lyrik in ihrer Stimme, offenbart aber hin und wieder Schwächen bei der Intonation. Baba und der Auktionator sorgen vor allem Kraft ihrer Bühnenpräsenz für die Knalleffekte des Abends, der Sänger des Trulove komplettiert die starke Gesamtleistung.


Igor Strawinsky – The Rake's Progress
Musikalische Leitung – Karl Prokopetz
Inszenierung – Georg Blüml
Bühne – Sabine Lindner
Kostüme – Christine Becke
Chöre – Anna Töller
Dramaturgie – Katja Pfeifer

Trulove – Bernhard Leube
Anne – Susanne Niebling
Tom Rakewell – Kerem Kurk
Nick Shadow – Chul-Ho Jang
Mother Goose – Christina Winkel
Baba – Doris Hädrich
Sellem – Noriyuki Sawabu

Philharmonisches Orchester Vorpommern
Opernchor des Theaters Vorpommern