29. Februar 2012

Benefizkonzert – Anna Netrebko.
Philharmonie Berlin.

20:00 Uhr, Block B rechts, Reihe 3, Platz 22














Richard Strauss – Till Eulenspiegel
Richard Strauss – Lieder für Sopran und Orchester: Wiegenlied / Morgen! / Caecilie

(Pause)

Hector Berlioz – Marche hongroise aus La Damnation de Faust

Arrigo Boito – L’altra notte (Romanze der Margherita aus Mefistofele)
Giuseppe Verdi – Ouvertüre zu I vespri siciliani
Giuseppe Verdi – Mercè, dilette amiche (Siciliana der Elena aus I vespri siciliani)
Zugaben: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – zwei Lieder mit Klavierbegleitung


(Anna Netrebko – Sopran, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim)



Etwa eine halbe Stunde vor Einlaß am Eingang der Philharmonie. Das muntere Treiben der örtlichen Ticket-Drückerkolonne sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Offenbar sind noch genug Karten auf dem Markt, die Preise sinken mit den Mundwinkeln der Verkäufer. Einer hat seinen komischen Moment, als er das wartende Volk fragt, wie denn dieser Lang Lang so sei, der heute hier auftrete – kurzzeitig irritierte Blicke der grau ondulieren Schar.

Eine informative, gut strukturierte Einführung später sitze ich auf meinem Platz im Saal. Was zu diesem Zeitpunkt nicht alle Netrebko-Aficionados so halten. Da möchte man gleich in bester Eulenspiegel-Beckenschlagweise einfach mal reinschlagen, wenn das Pack erst nach den straussschen Narreteien aus seinen Löchern kommt. Einzelfälle sicher, aber offenbar werden diese von „Events“ wie der Stimmschau der berühmten Russin magisch angezogen. Apropos, Russen waren viele zugegen, worüber neben diversen aufgeschnappten Gesprächsfetzen insbesondere die dezent-geschmackvolle Erscheinung mancher Dame Zeugnis ablegte.

Die Akustik der Philharmonie und ich werden wohl keine Freunde mehr werden. Selbst eine so farbenreiche Partitur wie der Eulenspiegel wird von ihr leicht angegraut. Man hört die einzelnen Stimmen wunderbar durch, aber was nützt es, wenn der Gesamteindruck ein kalter, nüchterner, aseptischer ist. In der Musik hege ich nun mal keinerlei Interesse für Neutralität. Der Gesangsstimme hingegen bot der Saal deutlich mehr Berührungsmoment.

Dabei waren es gerade die reinen Orchesterstücke, die für mich die Höhepunkte des Abends ausmachten. Barenboim und die Staatskapelle sorgten für ganz großes symphonisches Kino. Ohne wieder auf die einzelnen Orchesterstimmen einzugehen – ich schwärme einfach für diesen Klangkörper. Und Barenboim hat sowohl bei Strauss, Berlioz als auch bei Verdi eine Interpretation vorgelegt, die schlicht und ergreifend Weltklasse war. Einfach Stöpsel rein, Aufnahmegerät an und fertig ist die Top-Einspielung. Die Charakteristika: weniger breit als vermutet, regelrecht forsch, knackig, zupackend, fesselnd, rhythmisch pointiert – aber nicht eckig, organisch, kontrastreich, in einem Wort: perfekt.

Leider war Frau Netrebko heute nur bedingt in der Lage, ihrerseits Perfektion zu vermitteln. Hätte ich nur den ersten Teil des Konzerts besucht, stünde wohl ein sehr ernüchternder Ersteindruck der wohl berühmtesten Sängerin unserer Tage zu Buche. Strauss-Lieder und Netrebko, das geht für mich nicht zusammen. Abgesehen von der mangelnden Aussprache und einer verblüffend unpräzisen Intonation gibt mir ihr Vortrag nichts, das andere Sängerinnen nicht inniger, lebendiger, leidenschaftlicher formuliert hätten. Am ehesten zu überzeugen weiß sie in „Morgen“ – von einer aufs Ganze gehenden, im entscheidenden Moment brutalst heruntergeregelten Interpretation Barenboims beflügelt, entlockt es ihr die zartesten Töne des Abends. Aber selbst hier: so arrogant es klingen mag – nichts Ungehörtes/Unerhörtes.

In diese Kategorie stieß sie dann nach der Pause mit dem Boito vor. In dieser Opernszene blühte Frau Netrebko regelrecht auf, schien mir wie ausgewechselt. Intensiver Ausdruck, eine wunderschöne, volle Stimme, die sich ohne eine Spur an Wärme und Schmelz zu verlieren in höchste Höhen aufschwingt und tiefste Abgründe auslotet. Wie kann das sein? Offenbar ist die Netrebko in erster Linie eine dramatische Darstellerin, der die großen Bögen des Musiktheaters ungleich mehr liegen als die Miniaturen des Liedgesangs. Natürlich ist das eine nicht streng von dem anderen zu trennen, doch der Unterschied zwischen Strauss und Boito war einfach eklatant. Hat sie bei Strauss „nur“ gesungen, so ist sie bei Boito eben jene Margherita, nicht nur mit ihrer Stimme, mit ihrem ganzen Wesen, ihrer Körpersprache. Sehr, sehr beeindruckend. In der Verdi-Siciliana trat für meine Begriffe dieser Effekt weniger in Erscheinung, was aber für meinen Teil auch an der Musik selbst liegt, der ich den gleichen Grad an Tiefe absprechen möchte. Dennoch, auch hier eine beeindruckende Stimme, in der immer ein nicht zu leugnender Teil Erotik mitschwingt.

Die beiden Tschaikowsky-Zugaben, am Flügel begleitet durch Herrn Barenboim, haben zwar einiges an Liedreputation der Russin zurückgewonnen, mich unter dem Strich aber weder musikalisch noch stimmlich restlos überzeugt. Zumindest bin ich nun mit der Hebebühnentechnik der Philharmonie vertraut – welch ein Akt, um den Flügel aus den Eingeweiden des Baus ans Licht zu befördern.

Was gibt es sonst noch zu berichten? Die Netrebko besitzt ohne Zweifel das Charisma, einen Saal durch ihre bloße Präsenz zu begeistern. Ähnliches konnte ich seinerzeit beispielsweise auch bei Rolando Villazon beobachten. Wie sie hier Kußhände verteilt und dem Publikum Royal-like zuwinkt, das
ist schon fast filmreif. Generell scheint sie großen Wert darauf zu legen, es allen Recht machen zu wollen, weite Teile ihres Vortrags vollzieht sie in stetigem Wechsel der Singrichtung, damit jeder Winkel der Halle zumindest zeitweise direkter Beschallung habhaft wird. Im Zweifel fühlte ich mich durch dies Gebaren aber eher abgelenkt und als Erstkategorieler um den Lohn meiner Platzwahl gebracht. Der Beginn von „Morgen“ war mehr ein Ständchen für den solistisch tätigen Konzertmeister als ein ernst gemeinter Liedvortrag. Besonders nervig waren darüber hinaus nicht wenige Hobbyfotoreporter aus dem Publikum, die – allen Durchsagen zum Trotz – gern an allen möglichen und unmöglichen Stellen in die Ahnung von etwas wie Konzentration reinblitzten und -blinkten. Herrlich.

Fazit: Auf Barenboim und seine Staatskapelle ist Verlaß, Anna Netrebko ist eine außergewöhnliche, mit dem richtigen Material ohne Zweifel konkurrenzlos atemberaubende, genreübergreifend jedoch sicher nicht unfehlbare Sängerin.