20. April 2012

Werther – Michael Balke.
Theater Magdeburg.

19:30 Uhr, Parkett rechts, Reihe 1, Platz 14

















Verkehrte Welt in Magdeburg. Man stelle sich vor: die wahrscheinlich schlechteste Auslastung einer Aufführung, der ich je beizuwohnen die Ehre hatte, kombiniert mit einer Gesamtleistung, die eine qualitative Unterscheidung zwischen kleinen und großen Häusern auf Basis der verfügbaren Sitzplätze oder landläufigen Renommees ad absurdum führt. Zwischendurch kam mir der Gedanke, jemand spielt mir einen – dann doch recht aufwändigen – Streich und hat zum einen die Magdeburger Opernfreude durch Freikarten für Bayreuth zum Fernbleiben bewogen, zum anderen die Berliner Staatskapelle eingeladen, um mein Gehör und meine Fassung auf die Probe zu stellen. Ich übertreibe keineswegs: die Magdeburgische Philharmonie klingt wie, falsch, ist – zumindest an diesem Abend – ein absolutes Spitzenorchester.

Vor lauter akustischer Verblüffung blieb dann auch kein Raum, sich gebührend über die gähnende Leere im Saal aufzuregen. Ja, der Saal. Ich würde behaupten, daß ich selten einen Raum gehört habe, der meinem Opern-Akustik-Ideal näher gekommen wäre. Ein durch alle Dynamikstufen differenzierter, unglaublich präsenter, klarer Klang aus dem Orchestergraben verbindet sich mit einer Gesangsübertragung, auf die Selbiges zutrifft, zum perfekten Hörerlebnis. Dabei ist dieser Ort Architektur gewordene Unscheinbarkeit. Schwarz, schmucklos, kühl. Und an diesem Tag von keinen hundert Besuchern „gefüllt“ (ich bin sicher nicht der Beste im Schätzen, aber Begriffe wie „spärlich“ oder „vereinzelt“ treffen es ganz gut). Später erklärte man mir, dies sei ja eine Wiederaufnahme, generell würde hier nach den Premieren bzw. den ersten Aufführungen das Interesse nachlassen. Musical ginge aber immer.

Heute ging besuchertechnisch wie gesagt nicht viel, das Rückgrat des Häufleins bildete zudem eine Schar Schüler, die wahrscheinlich im Zuge eines Deutsch Grundkurses dazu verdonnert wurden, der Vertonung ihres Unterrichtstoffes zu lauschen. Für mich war es ja die zweite Goetheumsetzung für den Pariser Opernbetrieb nach Gounods Faust im Februar. Doch welch ein Unterschied zu dem seichten Ohrgeschmeichle in Hamburg – Massenet ist ein Guter! Das gefällt mir alles von vorne bis hinten. Angefangen bei den lieblich-wehmütigen Klängen des Beginns, ein zauberisches Idyll ausbreitend, in das Werthers unerfüllbares Sehnen umso schmerzlicher schneidet. Gleich sein erster Auftritt zieht in den Bann, schließlich der Sog seines Ausbruchs gegen Ende des ersten Aktes („Traum! Ekstase! Freude!“).

Womit wir bei den Sängern wären. Die Besetzung dieses Abends ist nahezu makellos, bedenkt man zudem, daß dies alles mit Ensemblemitgliedern gestemmt wird, könnten größere Häuser durchaus vor Neid erblassen. Iago Ramos ist ein lyrischer Tenor, wie man ihn sich für diese Rolle wünscht. Abgesehen von ihrem Wohlklang bringt seine Stimme alles an Phrasierungsvermögen, Flexibilität, Schmelz und Kraft mit, welches unweigerlich zu wahrhaft schönem, keineswegs oberflächlichem Gesang führt. An seiner Seite gibt Lucia Cervoni ein Beispiel für die sinnlichen, berührenden Möglichkeiten der Mezzostimmlage, warm und ergreifend. Kartal Karagedik als Albert steht den beiden Hauptpartien in nichts nach. Sein Bariton geht sprichwörtlich runter wie Öl. Voll, rund, mit einer Ernsthaftig- und Unerbittlichkeit, die in mir das Bild eines jungen Scarpia heraufbeschwört. Der zarte Sopran von Julie Martin du Theil schafft den passenden Gegenpol zu den Melancholien Charlottes. Auch die Rollen des Vaters sowie der beiden Bacchusfreunde sind adäquat besetzt, der kleine Kinderchor sorgt für Momente Klang gewordener Unschuld und Unbeschwertheit.

Besondere Beachtung verdient das Dirigat von Michael Balke, laut Einführung (wie bei einigen Sängern auch) ist es seine Werther-Premiere. Ich wüßte nicht einen einzigen Takt, der den stetigen Fluß einer bis ins letzte Detail ausgefeilten Lesart unterbrochen hätte, von den fragilsten Pianissimi bis zu den erhabensten Steigerungen. Und wenn dann ein solcher Spitzenapparat unter seinen Händen, mit dem Fundament eines nicht schwärzer zu denkenden Blechs, das drohende Schicksalsmotiv mit jedem Auftreten gewaltiger intoniert, bleibt nach kurzer Verblüffung nur pures Eintauchen. Immer wieder kommt es zu solch unglaublichen Klangwirkungen. Der häufig anzutreffende Umstand, daß es an kleineren Bühnen, wenn auch nicht an Einsatz, so doch häufig an letzter Finesse und vor allem Klangfarbenreichtum mangelt, wird hier mit jedem Bogenstrich, jedem Bläseransatz weggewischt.

Die Inszenierung stellt sich voll und ganz in den Dienst dieser herrlichen Musik und schafft mit ihren historischen Kostümen und betont kulissenhaften Szenerien, eingebettet in eine modulare Wand, die Konzentration auf die inneren Vorgänge der Handelnden. Das irreale Spiegelkabinett-Element ist als Bild für den unerreichbaren Traum der Zweisamkeit passend gewählt. Der Wechsel der Jahreszeiten wird mit einfachsten Mitteln umgesetzt, etwas Laub und Schnee genügen.

Am Ende gibt es zwei Vorhänge und einen Jetzt-erst-recht-Applaus des mächtigen Zuschauerhäufleins, unter dem Strich aber ist es mehr als schade, wenn nicht eigentlich frustrierend, daß sich nicht mehr Theaterfreunde zu diesem Abend auf den Spuren der Perfektion entschlossen haben.


Jules Massenet – Werther
Musikalische Leitung – Michael Balke
Inszenierung – Walter Sutcliffe
Bühne und Kostüme – Kaspar Glarner
Co-Ausstattung – Miriam Draxl
Dramaturgie – Ulrike Schröder
Kinderchoreinstudierung – Martin Wagner

Werther – Iago Ramos
Albert – Kartal Karagedik
Der Amtmann – Paul Sketris
Schmidt – Chan Young Lee
Johann – Wolfgang Klose
Charlotte – Lucia Cervoni
Sophie – Julie Martin du Theil
Marie, Gretel, Clara, Hans, Max, Karl, Fritz – Hendrikje van de Ven, Anna Kalvelage, Klara Schuldt, Leonard Becker, Götz Wagner, Lauritz Wagner, Franz Scholl

Statisterie des Theaters Magdeburg
Magdeburgische Philharmonie