7. Oktober 2012

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny –
Markus Poschner. Theater Bremen.

18:00 Uhr, Stehplatz, Reihe 10, Platz 15



Der Opern- und Konzertbetrieb ist ja bekanntlich eine recht konservative, in höchstem Maße ritualisierte Angelegenheit. Abweichungen von der Norm, dem Altbekannten, seien es programmatische oder inszenatorische, laufen häufig Gefahr, eher mit Ablehnung oder Desinteresse denn mit Enthusiasmus vergütet zu werden. Umso tröstlicher, daß man hin und wieder dennoch Versuche erleben kann, aus der Präsentationsroutine auszubrechen.

Am Theater Bremen hat man dazu diese Spielzeit in der Mahagonny-Produktion besonders eindrucksvolle Gelegenheit. Das Regiekonzept sieht vereinfacht ausgedrückt die Verlagerung bzw. Ausweitung der Bühne auf verschiedene Räumlichkeiten in und vor dem Theater bei gleichzeitiger Einbindung des Publikums in die Handlung vor. Das Parkett ist bis auf einige löbliche Zugeständnisplätze für ältere Semester seiner Bestuhlung beraubt, das Orchester hat auf der eigentlichen Bühne Platz genommen, die abgedunkelten Foyers und Gänge sind als zusätzliche Spielorte von heimeligen Retrolampen illuminiert. Im ganzen Haus sind Monitore und Projektoren angebracht, auf denen das dezentrale Geschehen Dank mobiler Kamerateams verfolgt werden kann. Wer stets live am Puls der Handlung sein möchte, sollte besser gut zu Fuß sein, denn die Gründung der Netzestadt vollzieht sich in stetigem Ortswechsel.

Ich muß zugeben, daß mich dieses Konzept anfangs eher abgeschreckt hat. Als großer Verehrer des Stücks und seiner schier unerschöpflichen Reichtümer unterschiedlichster musikalischer Formen und Formeln befürchtete ich, daß hier einem großen Werk in übermotiviertem Aktionismus großes Leid zugefügt werden würde. So nahm ich in den ersten Minuten wie aus altem Trotz auf einem der wenigen vorhandenen Sitze Platz, ließ Konzept Konzept bleiben und schmollte ein wenig verunsichert in die Runde. Glücklicherweise überstimmten mich meine Neugier und die Erkenntnis, daß sich ja schließlich nicht allzu oft die Gelegenheit böte, ungestraft in einer Vorstellung herumzulatschen. Wenn schon, denn schon.

Mein Wagemut sollte belohnt werden: es folgte die Teilnahme an einer inspirierten, schlüssigen, im Wortsinne involvierenden Inszenierung, die vor allem für ihre vielschichtige Choreografie aller Beteiligten größten Respekt verdient. Insbesondere die Leistung der Choristen, die sich als Bewohner der Stadt unter das Publikum zu mischen hatten, teilweise in Interaktion zu ihm traten, kann in Bezug auf Konzentration und Aktivierung gar nicht hoch genug bewertet werden. Keine Ahnung, wie oder ob das geprobt werden konnte, aber faszinierend, wie aus kalkuliertem, dramaturgisch motiviertem, kein musikalisches Chaos wurde.

Die Regiearbeit im Detail sprüht nur so vor intelligenten Einfällen bzw. Umsetzungen des Librettos. Die Saufszenen finden standesgemäß an der Bar im Gastrobereich des Hauses statt, passenderweise wird die preisliche Entwicklung des Alkohols gleich am lebenden Objekt in Form des allerorten munter vollzogenen Sektausschanks umgesetzt. Die Holzfällertruppe um Jim betritt nach der Vorfahrt im Taxi den roten Teppich, der sie in die Mahagonny-Seligkeit führt. In Erwartung des nahenden Hurrikans werden alle Beteiligten inklusive Besucher in den Schutz des Zuschauerraums getrieben. Man verschanzt sich. Wärmende Decken und Klappstühle werden verteilt. So viel Nähe und Fürsorge im Angesicht der Gefahr schweißt zusammen. Vom Saalhimmel regnet es Flugblätter zum gemeinsamen Mitsingen. Das Treiben des verschonten Sündenpfuhls wird fortan äußerst plastisch und intensiv geschildert. Viel „realer“ kann im Theater kaum totgefressen oder –geschlagen werden. Auch hier: mein Respekt an die intensive Darstellung der Solisten und Choristen, die trotz aller szenischen Entäußerung das Singen nicht vergessen. Wenn beispielsweise Jakob zwischen den Fleischbrocken hindurch das nächste Kalb herbeisingt-sehnt, ist ein Grad der Verschmelzung von Theaterkunst, Anklage wider Voyeurismus und Tatenlosigkeit sowie Empathiegewinnung erreicht, wie sie Brecht und Weill im Sinn gehabt haben mögen.

Es ist keine Übertreibung, diesen Abend als (Theater-)Erlebnis von selten erreichter Intensität zu bezeichnen. Das kraft- und gehaltvolle Dirigat des GMD Markus Poschner hat daran – wie so oft im auch in dieser Hinsicht Glück behafteten Bremen – seinen Anteil. Beim Ensemble fällt neben sängerischer Qualität die zwingend typgerechte Rollenbesetzung und -Gestaltung auf. So ist Identifikation ein Leichtes. Eine Anmerkung noch zur Fassung: die ein oder andere Nummer (z.B. „Spiel von Gott in Mahagonny“) habe ich vermißt, dies ist wahrscheinlich dem Konzept der Aufführung ohne Pause geschuldet.

Fazit: Die ganze Produktion spiegelt die Liebe und Hingabe aller Beteiligten zu ihrer Arbeit wider und ist ein gelungenes Beispiel dafür, daß es sich von Zeit zu Zeit lohnt, die gewohnten Pfade zu verlassen, um Altbekanntes neu strahlen zu lassen.


Kurt Weill – Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Musikalische Leitung – Markus Poschner
Regie – Benedikt von Peter
Bühne – Katrin Wittig
Kostüme – Geraldine Arnold
Video – Bert Zander
Chor – Daniel Mayr
Werktätigenchor – Thomas Ohlendorf
Choreografische Mitarbeit – Jacqueline Davenport
Licht – Christian Kemmetmüller
Dramaturgie – Sylvia Roth

Leokadja Begbick – Nadja Stefanoff
Fatty, der Prokurist – Luis Olivares Sandoval
Dreieinigkeitsmoses – Karsten Küsters
Jenny Hill – Marysol Schalit
Jim Mahoney – Michael Zabanoff
Jakob Schmidt – Christian-Andreas Engelhardt
Bill, genannt Sparbüchsenbill – Loren Lang
Joe, genannt Alaskawolfjoe – Christoph Heinrich
Sechs Mädchen von Jenny – Karin Maria Brenner, Cordula Fritz-Karsten, Lusine Ghazaryan, Anna-mária Melkovics-Féher, Irina Ostrovskaia, Alina Wodnicka, Anne-Kathrin Auch, Caroline Klöckner

Chor des Theater Bremen
Werktätigenchor des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker