29. Januar 2012

Staatsorchester Stuttgart – Emilio Pomàrico.
Liederhalle Stuttgart.

11:00 Uhr, Parkett Eingang C, Reihe 10, Platz 51
















Richard Strauss – Till Eulenspiegels lustige Streiche

(Pause)

Ferruccio Busoni – Klavierkonzert (Carlo Grante)



Ein ursprünglich neben Strauss vorpausig veranschlagtes Werk Bernhard Langs, Don Quichotte, hatte seinen Weg nun doch nicht ins Konzert geschafft. Wahrscheinlich wollte man die sonntagmittägliche Vordinnerstimmung des erlauchten Publikums nicht über Gebühr strapazieren. Am Ende ist gar das heimische Süppchen kalt oder der Fensterplatz beim Lieblingsitaliener vergeben. Das Programm ist ja so schon lang genug. Also sputen auch wir uns mit unseren Ausführungen.

Nach dem gestrigen kalten Buffet der Philharmoniker kam ich heute wieder in den Genuß des À la carte-Sounds der Operntruppe. Der gute Eindruck vom November hat sich bestätigt, das Staatsorchester ist ein erstklassiger Klangkörper. Daß heute dennoch nur mild gewürzte Wonnen verköstigt wurden, lag am taktgebenden Küchenchef, der die Sache eher lässig anging. So besaß der Eulenspiegel Kraft des Orchesters alles was er braucht – nur eben von allem zu wenig. Zu wenig Schärfe, zu wenig Biss, zu wenig Genauigkeit, Kontur und Struktur. Nicht eben öde, aber doch arm an Kontrasten, nach denen die Partitur ja geradezu schreit. So macht das Stück zwar immer noch Spaß, angesichts des Orchesterpotentials bleibt aber das Grummeln einer verpaßten Chance im Magen.

Kommen wir zum Hauptgang der Aufführung, dem busonischen Klavierkonzert, das mich diesmal aus dem Norden ins Ländle gelockt hatte – ich sollte nicht enttäuscht werden. Das Orchester besitzt alle Farben und Finessen, um den sagen wir mal heterogenen Charakter des Werkes meistern zu können. Und auch Herrn Pomàrico scheint diese Musik zu liegen. Das konnte sich durchaus hören lassen. Insgesamt weniger breit als die Postnikova-Einspielung, ohne jedoch in Hetze zu verfallen. Wie hier das Tempo bisweilen massiv angezogen wurde, das hatte schon was. Wie gesagt, ich glaube es ist wichtig, daß dabei der grüblerische, den Klängen nachsinnende, fast schon mystische Grundzug der Angelegenheit nicht verloren geht, insbesondere natürlich in den langsamen Sätzen. Die „italienischen“ Momente kamen dafür mit der richtigen Portion Schmackes und Eleganz daher. Der Solist trug darüber hinaus seinen Teil dazu bei, beiden Gesichtern der Komposition gebührend Rechnung zu tragen. Sehr zu gebrauchen. Bleibt mir nur wieder einmal festzustellen, daß es Busoni sehr leicht mit mir hat. Seine Musik spricht mich persönlich an wie sonst vielleicht nur Britten oder Berlioz. Der hybride Charakter, das zwischen den Stühlen Sitzen, das Nebeneinander des Schweren, Weihevollen, häufig Dämonischen und des mediterranen Schwungs, des Geschmeidig-Feinen – für meine Ohren ergibt das alles, zusammen mit der das Konzertformat sprengenden Form, eine Vollkommenheit des Unausgewogenen.

Am Ende besaß Herr Pomàrico dann folgerichtig den Feuereifer, als Zugabe gleich den ganzen vierten (?) Satz als Zugabe spielen zu lassen und ließ sich erst durch den leise insistierenden Solisten (der plötzlich neben ihm stand) von seiner Mission der Busonifikation der Liederhalle abbringen. Meine Sympathien sind ihm jedenfalls gewiß.


28. Januar 2012

Stuttgarter Philharmoniker – Jonathan Stockhammer.
Liederhalle Stuttgart.

19:00 Uhr, Parkett Mitte, Reihe 12, Platz 50


















Charles Ives – Psalms a capella
Charles Ives – The Unanswered Question
Francis Poulenc – Gloria

(Pause)

Igor Strawinsky – Bläsersinfonie

Igor Strawinsky – Psalmensinfonie

(Jeanette Köhn – Sopran, Gächinger Kantorei Stuttgart)



Ein Programm ausschließlich mit Werken, die mehr oder weniger offen geistliche Bezüge aufweisen – da ist es zumindest nachvollziehbar, daß der Redner der Einführung als Klammer für seinen Vortrag die Werke mit dem konfessionellen Hintergrund der Komponisten (nicht allein den persönlichen, sondern auch den auf den jeweiligen Kulturkreis bezogenen) in Verbindung bringt. Die Formel, die dann am Schluß im Raum steht – hier protestantische, da katholische und dort orthodoxe Musik – scheint mir dann aber doch ein wenig zu vereinfacht.

Das Konzert nahm mit der nahtlosen Wiedergabe der beiden Ives-Stücke seinen Anfang, wobei die Darbietung von „The Unanswered Question“ als eine Art Rauminstallation durchgeführt wurde. Die Streicher spielten vor den Blicken der Zuhörer verborgen, die Solotrompete stellte ihre Frage von wechselnden Standorten im Saal, allein die Holzbläser befanden sich auf der Bühne. Leider trug diese Art des Vortrags, neben der offenkundigen „Neuheit“ des Stücks nicht dazu bei, das Interesse und die Konzentrationsfähigkeit der Hörerschaft zu wecken: Unverstandene Musik im Lungensanatorium. Sehr schade, war die Aufführung an sich doch durchaus gelungen. Das Publikum schien an diesem Abend generell mit der Programmzusammenstellung überfordert. Die Psalmensinfonie wurde mir regelrecht kaputtgequatscht.

Die musikalische Durchführung geriet ordentlich, mehr jedoch leider nicht. Die Philharmoniker scheinen mir ein brauchbares Orchester zu sein, das hier und da zu glänzen vermag, insgesamt jedoch beispielsweise hinter den Kollegen der Oper deutlich zurücksteht. Einzig die Solo-Oboe möchte ich von jeglicher Kritik ausnehmen – der Herr stach mit seinem virtuosen, butterweichen Spiel eindeutig hervor. Das Dirigat ging in Ordnung, im Gloria, das mir im Gegensatz zu den Strawinsky-Stücken besser geläufig ist, bestand deutlich Luft nach oben, was Differenzierung und Präzision anging. Die Sopranistin hat keine schlechte Stimme, da ist schon viel von der Zart- und Klarheit, die man für die Partie braucht. Leider hat sie darüber hinaus die Angewohnheit, angesetzte Tonhöhen permanent korrigieren zu müssen (zu Recht!), so daß von sicherer Stimmführung nicht die Rede sein kann. Rückhalt des Abends war eindeutig der Chor, der sich keine Blöße gab.

Lohnende Neuentdeckungen stellten für mich die beiden Strawinsky-Werke dar. Insbesondere die Psalmensinfonie mit ihren glockenhaften, erhabenen Harmonien hat es mir angetan. Da werde ich doch zu Hause gleich mal die entsprechende Solti-Aufnahme hervorkramen, um das zu vertiefen.

22. Januar 2012

Ariadne auf Naxos – Karen Kamensek.
Staatsoper Hannover.

16:00 Uhr, Parkett links, Reihe 1, Platz 16














Wie man sich an dieser Inszenierung stören kann, ist mir ein Rätsel. Anders: wie man von der Ehrlichkeit, Sensibilität und Wärme dieser Inszenierung nicht angefaßt sein kein, ist mir ein Rätsel. Und offenbar ist es doch diese Inszenierung, die nicht wenige Hannoveraner der Vorstellung fernbleiben läßt, mißt man den für einen Strauss-Abend doch recht zahlreichen verwaisten Plätzen eine Bedeutung bei. Vielleicht lag’s ja auch einfach am Wetter.

Die Inszenierung richtet übrigens nichts Schlimmeres an, als die ohnehin im Stück angelegte Doppelbödigkeit – eine Oper in der Oper – auszukosten. Theaterleute spielen Theaterleute, die Rollen spielen. Am Ende des Tages (und der Aufführung) bleibt Bacchus doch der Tenor und Ariadne die Primadonna (oder eben gerade nicht ...), daß diese Rollen von Sängern der Staatsoper Hannover gegeben werden ist weder ein Geheimnis, noch tut es der Magie des Augenblicks einen Abbruch. Eben dieser Abend hat mir wieder einmal eindrucksvoll bewiesen, daß es zum Gelingen eines „hehren Moments“ weder Sänger mit Modelmaßen noch eine „standesgemäße“ Kostümierung bedarf. Und hehre Momente habe ich heute nicht eben wenige erleben dürfen.

Daß daran die rein musikalische Qualität der Darbietung einen nicht unwesentlichen Anteil ausmachte, sei an dieser Stelle auch nicht verschwiegen. Frau Kamensek waltet über ein wunderbares Orchester, daß unter ihrem Dirigat alle Stärken hervorbringt, um den unverwechselbaren Strauss-Klang lebendig werden zu lassen. Da möchte ich gar nicht weiter ins Detail gehen – richtig ist eben richtig und fühlt sich in diesem Falle mehr als beseelt an. Ich beglückwünsche Hannover zu seiner Generalmusikdirektorin, die mich wieder einmal von ihrer Ausnahmequalität überzeugt hat.

Über Qualität verfügt auch die gesamte Sängerbesetzung, für mich gekrönt vom Siegfried-würdigen Stahl des Herrn Künzli und der Wärme von Frau Hobbs. Dieses Paar würde ich gern im dritten Siegfried-Akt erleben. Wobei mir der heutige Abend die Schönheit der Ariadne-Partitur mit aller Macht, aber auch eben Zartheit, vor Augen geführt hat. Und Hofmannsthal ist daran kein Unschuldiger, wenn die Kernfrage eines anderen Strauss-Werkes so zwingend-versöhnlich aufgelöst wird, wie in so vielen Momenten der Aufführung Ton und Wort gemeinsam das hervorbringen, was über bloßes „Theater“ dann doch hinauszugehen scheint.


Richard Strauss – Ariadne auf Naxos
Musikalische Leitung – Karen Kamensek
Inszenierung – Ingo Kerkhof
Bühne – Anne Neuser
Kostüme – Inge Medert
Licht – Claus Ackenhausen
Dramaturgie – Dorothea Hartmann
Choreographie – Mathias Brühlmann

Der Haushofmeister – Sigrun Schneggenburger
Ein Musiklehrer – Stefan Adam
Der Komponist – Julia Faylenbogen
Der Tenor (Bacchus) – Robert Künzli
Ein älterer Herr – Edgar Schäfer
Perückenmacher – Roland Wagenführer
Brighella – Ivan Turšič
Ein Lakei – Frank Schneiders
Zerbinetta – Ina Yoshikawa
Primadonna / Ariadne – Dara Hobbs
Harlekin – Christopher Tonkin
Scaramuccio – Tivadar Kiss
Truffaldino – Young Kwon
Najade — Dorothea Maria Marx
Dryade – Julie-Marie Sundal
Echo – Isabelle Razawi
Souffleuse – Katharina Hickmann

Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

21. Januar 2012

The Rake's Progress – Karl Prokopetz.
Theater Greifswald.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 73















Bislang habe ich Premieren und den damit verbundenen Trubel ja eher gemieden und lieber Vorstellungen besucht, bei denen davon auszugehen ist, daß etwaige Kinderkrankheiten der Inszenierung behoben und das Ensemble ohne Premierenstress zu erleben sind. Außerdem habe ich mir jedesmal in panischen Gedanken ausgemalt, wer wohl alles die Vorstellung rein aufgrund eben jenes Premierenfaktors – und nicht aufgrund des Werkes oder gar der Musik – als Bühne bildungsbürgerlichen Schaulaufens beehrt und daher die Tuschel- und Knisterlegionen speist. Bei der heutigen Premiere in Greifswald lösten sich dann aber all meine Bedenken in Wohlgefallen auf – gerade weil der ominöse Premierenfaktor zum Programm erhoben wurde.

Dazu muß erst einmal erläutert werden, daß die Handlung der Oper in der Inszenierung eine Aktualisierung erfährt, die diesmal nicht bemüht oder platt, sondern im besten Sinne bühnenwirksam ausfällt. Die Grundgeschichte bleibt dabei unangetastet: Tom Rakewell, der Tunichtgut vom Lande, verläßt seine Liebe Anne Trulove und die Gewißheit auf sichere Anstellung beim Schwiegervater in spe, um in der großen Stadt das große Geld zu machen – verleitet und gelenkt vom mephistohaften Verführer Nick Shadow. Nur befinden wir uns nicht im England des 18. Jahrhunderts, sondern im Hier und Jetzt. Dabei geht die Inszenierung weit über das häufig übliche Kostüm-Update hinaus, läßt keine Ungereimtheiten zwischen Libretto und Aktualisierung aufkommen und gewinnt dem Stück mehrere, wirklich aktuelle Facetten ab, die absolut plausibel aus dem Stoff abgeleitet werden.

Ein roter Faden ist dabei die Faszination der modernen Medien bei Toms Suche nach Geld und Geltung. Schon in den ersten, scheinbar noch unbeschwerten Minuten der Aufführung, wenn Tom und Anne ihr zukünftiges Glück besingen, liefert der heimische Fernseher mit naiv-romantischen Naturaufnahmen bereits einen ersten Kommentar zum Stellenwert einer Instant-Medienwelt, die die Protagonisten den Abend hindurch beeindrucken und beeinflussen wird. Für sich allein wechselt Tom dann auch folgerichtig bereits vor Nick Shadows Erscheinen das Programm von Naturfilm auf Celebrity-Gala. Dort sehnt er sich hin und sein Dämonen-Schatten wird ihn dort hinführen. Die Umwandlung der nächsten Station, des Bordells von Mother Goose, als Gala-Empfang einer medienumschwirrten Schickeria erfolgt bruchlos. Wer hier angesichts Nerz und Stöckelschuhen, Goldkettchen und Sonnenbrille befremdet ist, dürfte für die Lehren, die das Stück bereit hält, unrettbar sein. Ich für meinen Teil finde es mindestens so „abwegig“ und köstlich, wenn an Stelle von trunkenen Huren und Schlägern die Damen und Herren des Medienzirkus ihr Altlateiner-Loblied auf Venus und Mars anstimmen. Die abschließende Orgie (bei der selbst die Kameraleute einsteigen, jedoch erst nachdem man das Treiben mit dem Handy festgehalten hat) illustriert auf wunderbare Weise die Zielsetzung beider Welten – Jeder macht's mit Jedem.

Bevor ich weiter in der Chronologie der Inszenierung fortfahre, möchte ich den Blick etwas genauer auf die angesprochenen Premieren-Begleitumstände lenken. Das Mother-Goose Bild stellt nämlich gewissermaßen die Auflösung eines Kniffs dar, mit dem schon das Premierenfeuer geschürt wurde, noch bevor sich der Vorhang gehoben hatte. Das Haus war hübsch hergerichtet und illuminiert, wie es für einen besonderen Anlaß wie diese Opernpremiere statthaft ist. Die lokalen Medien standen Kamera bei Fuß, Häppchen und gefüllte Stilgläser in ausreichender Menge bereit. Eben wie es sich gehört. Aber spätestens nach der informativen, eloquenten und geistreichen Einführung (in dieser Qualität selten erlebt – perfekte Beleuchtung von Inhalt, Entstehung, Musik und Inszenierung) verwischten die Grenzen zwischen tatsächlichem und inszeniertem „Event“: Fanfaren schallten durch die Gänge, die „Stars“ der Inszenierung hielten über einen roten Teppich Einzug ins Theater, begleitet vom frenetischen Gekreische ihrer „Fans“. Begleitet von Kamerateams und den Blicken der (zum Teil auch gerade erst eintreffenden) Theaterbesucher – Neugierde, Verwirrung, Unmut, Gleichgültigkeit – all das konnte man den Minen entnehmen; in meinem Fall konnte ich mich eines Schmunzelns nicht erwehren.

Komplett aufgelöst war die Trennung dann auf der „richtigen“ Premierenfeier nach der Aufführung, als die Akteure – immer noch im Kostüm – von der Greifswalder Speerspitze der Kulturkonsumenten (mich eingeschlossen) gefeiert wurden. Der Vertreter des Hauptsponsors erhält Gelegenheit zu einer kleinen Dankesrede, bei der ihm durch ein (diesmal unbeabsichtigtes!) Missgeschick das Micro abgewürgt wird. Besser hätte man das auch nicht inszenieren können. Wer feiert hier wen? Worum geht es? Um Gratissekt? Sehen und Gesehen werden? Gar um die Kunst? Ich glaube das Regieteam, allen voran der äußerst charismatische Regisseur, hatte an diesem Abend seine helle Freude. Und ich ebenso, was ich Herrn Blüml dann auch persönlich aufschwatzen mußte.

Aber nun zurück zum eigentlichen Ereignis des Abends, den Geschehnissen im Theatersaal selbst, wo wir uns immer noch im ersten der drei Akte befinden und sich Anne librettogemäß auf die Suche nach dem verschollenen Tom begibt. Dieser hat es im nächsten Bild zu einer gleichermaßen geräumigen wie kahlen Loftwohnung gebracht, in der er, die obligatorischen Puder und Pillen zu sich nehmend, die Inhaltslosigkeit seiner Existenz bejammert. Über ihm thront ein gewaltiger Flatscreen, auf dem sein „Freund“ Nick ihm gleich Abhilfe präsentiert – in Form von Lady Baba, im Original eine Jahrmarktsattraktion, hier eine schrill-abschreckende Mischung aus Lady Gaga und heruntergekommener Diva. Durch die Ehelichung dieser Attraktion der (Medien-)Gesellschaft könne sich Tom wieder in deren Mitte etablieren. Als Babas Ehemann – Annes Rettungsversuch scheitert – findet sich Tom dann tatsächlich im ersehnten Scheinwerferlicht wieder.

Doch die Freude über seine Tat als wahrhaft freier Mann, der die Konventionen außer Kraft setzt, über die gelandete Sensation, währt wie das Glück des Geldwunsches nur kurz, sieht er nun seine Designerbude in eine Art Streichelzoo für Stofftiere verwandelt, die Baba in jeder Form und Größe zu Horten scheint. Doch ungleich schwerer als die Anwesenheit der stummen Knuddelgesellen wiegt das gnaden- und interpunktionslose Geschnatter seiner Angetrauten (der Garderobe nach einem Manga ala Sailor Moon entsprungen), die er letzten Endes effektvoll mit einem Riesenstofftierkopf zum Schweigen bringt, den er über ihr eigenes Haupt stülpt (laut Libretto bringt er sie mit seiner eigenen Perücke zum Schweigen).

Der folgenden Heilsbringerwunsch-Szene ringt der Regisseur eine weitere Aktualisierung ab, die ich persönlich nicht gebraucht hätte, die aber durchaus dazu beiträgt, über die Intentionen des Stücks hinaus den Wahn der Gegenwart zu thematisieren: Die „Geschäftsidee“ besteht hier nicht darin, Steine in Brot, sondern Brot in Geld zu verwandeln. Zitat Blüml: „... und auf den Feldern der dritten Welt gedeiht unser Biodiesel statt Hirse.“ Die gescheiterte Massenproduktion der Erlösermaschine wird als globaler Börsencrash „in den Medien“ dargestellt, es schließt sich die Auktion an, die als Quell bühnenwirksamen, herzhaften Tumults fungiert. Daß hier am Schluß die Schlammschlacht zwischen Anne und Baba weit größeres Interesse als die Versteigerung (der Stofftiere) weckt, schlägt wieder den Bogen zum Medienfokus der Inszenierung, ohne auch nur ein Wort am Libretto ändern zu müssen.

Es folgt Toms verzweifeltes Spiel um seine Seele, dargestellt als Quizshow auf dem Friedhof mit Nick als Showmaster. Die Rezitative werden während dieser Szene ausnahmsweise nicht vom Klavier, sondern Synthieklängen begleitet – ich fand's originell. Tom liegt, bereits in ein Leichenhemd gewandet, in einem Sarg im Zentrum der Bühne. Nach hinten wird das Bild durch ein schmiedeeisernes Tor begrenzt, den Rahmen bilden an zwei Wänden verteilte Grabsteine, deren Rückseiten die verschiedenen Spielkarten zieren. Dreimal muß Tom die Karte erraten, dreimal setzt der Leuchtrahmen-Reigen der Grabsteine ein, dreimal wird eine Karte von den belackstiefelten (Todes-)Assistentinnen herumgedreht. Schließlich gewinnt Tom sein Leben und verliert seinen Verstand.

Das Abschiedsbild in der Anstalt (bzw. hier letztlich ein Altersheim) entfaltet eine unglaublich poetische, anrührende Kraft. Das Erscheinen Annes als Venus, die ihren „Adonis“ schließlich findet, schirmt, tröstet, hebt diesen Abend abseits aller sprühenden Einfälle und begeisternden Momente auf eine andere, den Kern menschlichen Sehnens berührende Ebene. Der Wunsch nach Geborgenheit, danach angekommen zu sein, sich ganz und gar am Ziel zu wissen, durchdringt die todtraurige Szene. Das Glück, das Tom in seinem Wahn empfindet, ist jedenfalls mit rein weltlichen Maßstäben nur unzureichend zu bemessen, für mich besonders eindringlich durch das Friedhofstor dargestellt, das in dieser gänzlich veränderten Beleuchtung, einem tiefen, milden Blau, eher Pforte als Einzäunung zu sein scheint. Sicher, am Ende bleibt Tom – wie alle „Vergessenen“ – allein zurück und stirbt, aber starb als Gott in den Armen einer Göttin.

Die Oper schließt mit der letzten stückimmanenten Brechung, der Verkündung der Moral durch das Ensemble vor dem Vorhang. Dem Publikum wird der Spiegel in Form der Kameras vorgehalten, die uns alle filmen und auf der großen Leinwand in Szene setzen. Möge der Kreislauf der Eitelkeiten aufs Neue beginnen.

War die Inszenierung auch untrüglich der „Star“ des Abends, verdient auch die musikalische Ausgestaltung Beachtung. Die Orchesterleistung ist angemessen, hier und da fehlt es etwas an Feinheiten. Der Anteil des Dirigats am Gelingen der Vorstellung ist für mich schwer zu bestimmen, da ich nicht gut genug mit der Partitur vertraut bin. Die Besetzung ist gemessen an der Größe des Hauses ohne Schwächen. Der stärkste Protagonist ist dabei der Sänger des Tom. Er verfügt gleichermaßen über eine kraftvolle, ausdrucksstarke, mit vorbildlicher Sensibilität und vor allem Lyrik agierende Stimme wie über die überzeugendste darstellerische Qualität. Der Sänger des Shadow hat ein gutes Organ, es fehlt ihm jedoch ein eigener Charakter, hinzu kommt das Problem der Textverständlichkeit (mehrere wichtige Sätze trägt er gemäß Inszenierung auf Deutsch vor) – davon abgesehen agiert er mit ungemeiner Spielfreude und Witz, wird seiner Entertainerfunktion mehr als gerecht. Die Sängerin der Anne besitzt zwar Unschuld und Lyrik in ihrer Stimme, offenbart aber hin und wieder Schwächen bei der Intonation. Baba und der Auktionator sorgen vor allem Kraft ihrer Bühnenpräsenz für die Knalleffekte des Abends, der Sänger des Trulove komplettiert die starke Gesamtleistung.


Igor Strawinsky – The Rake's Progress
Musikalische Leitung – Karl Prokopetz
Inszenierung – Georg Blüml
Bühne – Sabine Lindner
Kostüme – Christine Becke
Chöre – Anna Töller
Dramaturgie – Katja Pfeifer

Trulove – Bernhard Leube
Anne – Susanne Niebling
Tom Rakewell – Kerem Kurk
Nick Shadow – Chul-Ho Jang
Mother Goose – Christina Winkel
Baba – Doris Hädrich
Sellem – Noriyuki Sawabu

Philharmonisches Orchester Vorpommern
Opernchor des Theaters Vorpommern

19. Januar 2012

Trio Nexus.
Kampnagel Hamburg.

19:00 Uhr, freie Platzwahl


Morton Feldman – For Philip Guston

Trio Nexus (Erik Drescher – Flöte, Sebastian Berweck – Klavier und Celesta, Matthias Engler – Schlagzeug)



Es entspricht sicher nicht der idealen Herangehensweise, gänzlich unvorbereitet und dazu mit einer ausgewachsenen Erkältung ein Konzert zu besuchen, in dem das einzige, mir völlig unbekannte, einsätzige Werk des Abends mit viereinhalb Stunden Dauer ohne Pause ausgelobt wird. Unter diesen erschwerten Bedingungen verlief jedoch alles überraschend reibungslos. Nun ja, sieht man einmal von Details ab, daß es beispielsweise der Konzentration mitunter recht abträglich sein kann, ab etwa Stunde zwei nicht mehr durch die Nase atmen zu können. Aber das ist ja unter selbst gewähltem Leid zu verbuchen. Ansonsten gelang es mir, nicht etwa durch Husten oder gar Niesen aufzufallen und konnte dem Werk angesichts einer weitgehend vorbildlichen Konzentration im Saal – Pardon, Halle – meine ungeteilte Aufmerksamkeit angedeihen lassen.

Das „weitgehend“ lag diesmal in der Anlage der Veranstaltung, die den allzu menschlichen Bedürfnissen der Zuhörer über die doch recht beeindruckende Dauer Rechnung zu tragen gewillt war. Der erwartungsfreudige Festivalleiter (offenbar ein ausgemachter Feldmanianer) brachte dann auch in einer kleinen Ansprache, die mehr den Charakter der Sicherheitseinweisung in Flugzeugen hatte, zum Ausdruck, wie man sich zu verhalten habe (!). Sitzverhalten, Flüssigkeitszufuhr, Pinkelpause – alles hübsch ordentlich durchorganisiert. Eben wie sich das für so einen alternativen Abend abseits des Mainstreams und sein erlesenes Publikum gehört. Das sollte man auch im klassischen Konzert und in der Oper einführen. „Wer knistert, fliegt!“ – oder etwas in der Art. Das wär doch ein Anfang. Mein Lieblingszitat: „das soll hier kein Wanderkonzert werden.“ Recht hat er, der Herr Festivalleiter, setzt sich in seinen Sessel (man konnte zwischen Sofas, Sesseln und Klappstühlen wählen) und verfiel daraufhin in den Feldman-Ehrerbietungsmodus. Unsereins hatte es sich auf einem Klappstuhl der Güte Bayreuth 2.0 bequem gemacht und konnte in den folgenden Stunden die Einhaltung des Regelwerks bewundern.

Ach ja, Musik gab's auch – aber dazu später mehr, das „Drumherum“ war an diesem Abend einfach zu faszinierend. Das Publikum bestand aus etwa vierzig Tapferen, die es sich auf ihrem um die zentral postieren Musiker angeordneten Mobiliar bequem gemacht hatten. Für einige wenige ganz verwegene (oder vorausschauende?) Besucher lagen Teppiche mit (Sitz-)Kissen bereit, die dann von geneigten Konzertliegern okkupiert wurden (an einer Stelle meinte man gar ein Schnarchen zu vernehmen ...). Das Verlassen des Saales war als Einbahnstraße konzipiert – durch den Vorhang heraus, einmal um das Gebäude herum, und durch die Hintertür auf Zehenspitzen (oder halt groben Stiefeln) wieder herein. Wobei im Laufe der Veranstaltung sich auf das „Heraus“ immer seltener ein „Herein“ anschloß. Ohne auf den Gehalt der Musik oder die Motivation der Besucher Rückschlüsse ziehen zu wollen, drängte sich mir unweigerlich der Eindruck auf, den inoffiziellen Kampnagel-Meisterschaften im Experimentalmusik-Pfahlsitzen beizuwohnen. Allerdings in Kombination mit dem beliebten Spiel „Reise nach Jerusalem“, denn nicht selten folgte dem „Heraus“ und „ Herein“ ein ungläubiges „Hallo“. In der Schule sagte man in solchen Fällen immer: „weggegangen – Platz vergangen!“ Dabei war man ja durch die Festivalleitung gewarnt – Stichwort Wanderkonzert. Wobei man sich da von offizieller Seite mit der Installation der Wasserstelle in einer Hallenecke selbst eine Hundetür ins Regelbollwerk geschnitzt hatte, von der das durstige Volk reichlich Gebrauch machte. Die Ankündigung, es gäbe dort „Stilles Wasser“(!), löste übrigens bei einer Dame einen Lachflash aus. Ungeachtet meiner despektierlichen Darlegung muß ich dem Publikum insgesamt mein Kompliment aussprechen. Vor allem vor dem Hintergrund der Aufführungsdauer war es eine äußerst konzentrierte, disziplinierte Angelegenheit.

Von den angesprochenen Umständen abgesehen war man mucksmäuschenstill und lauschte dem Dargebotenen. Kein Getuschel, kein Bonbongeraschel, kein Gehuste. Von solch einer Atmosphäre kann man im „normalen“ Konzertbetrieb nur träumen – wobei der Vergleich 2000, alle Interessegrade aufweisender Laeiszhallenbesucher mit diesen vierzig „Berufenen“ natürlich hinkt. Ich möchte meine Erörterungen der Begleitumstände mit der verblüfften Feststellung abschließen, daß die angesprochenen „Wanderungen“ nicht etwa mit fortschreitender Dauer zunahmen, sondern sich in Wellen vollzogen. Sehr putzig zu beobachten. Herdentrieb? Zufall? Darüber sind sicher bereits an anderer Stelle entsprechende Studien getätigt worden.

Kommen wir also zur Musik. Die Kompositionen Feldmans waren mir bis dahin vollkommen unbekannt, der Name ist mir zwar hier und da begegnet, mehr aber auch nicht. Ich kann daher nicht sagen, inwiefern dieses Werk stellvertretend für seine Arbeit ist, angesichts der ausgedehnten Dauer konnte ich mir zumindest hiervon ein Bild machen. Erst einmal wird das gewaltige Ausmaß nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, dazu genutzt, großformatige Strukturen zu realisieren. Lange Bögen, große Steigerungen oder Ähnliches sind offenbar nicht Feldmans Sache. Darüber hinaus gibt es kaum Variation in Tempo und Dynamik. Das Werk besteht vielmehr aus vielen, meist recht kurzen, mehr oder weniger miteinander verbundenen Einheiten, die sehr getragen im piano, maximal mezzoforte vorbeiziehen. Bei den einzelnen Segmenten sind allerdings durchaus unterschiedliche Prinzipien, sagen wir mal Charakterzüge zu erkennen. Diese verschiedenen Prinzipien werden über den Abend hin variiert, häufig auch wiederholt, infolge dessen man schließlich immer wieder „Vertrautes“ hört.

Freunde der Melodie, gar der thematischen Entwicklung, kommen allerdings nicht auf ihre Kosten. In der Regel besteht die Musik aus einzelnen, getrennten Akkorden oder Intervallen, die ein Musiker „vorgibt“(häufig der Pianist), auf die die anderen Musiker ebenfalls mit einzelnen, kargen Äußerungen antworten. Dabei wechselt das „tonangebende“ Instrument immer wieder. Andere Einheiten bestehen im Kern aus Ostinatofiguren, die diesen Stellen ein rudimentäres Philip-Glass-Gepräge geben. Dies sind auch die einzigen Momente der Partitur, in denen das Spiel leicht Fahrt aufnimmt. Wobei wir hier von Abstufungen zwischen „nahezu Stillstand“, „sehr breit, zerfasert“ über „langsam“ bis maximal „gemächlich“ sprechen. Zerfasert trifft es insgesamt ganz gut. Ein wirkliches „Entstehen“ ist nicht zu beobachten, ist offenbar auch nicht intendiert.

Worin liegt also der Reiz in dieser Musik? – Um dies vorwegzunehmen: mir hat er sich nicht erschlossen. Zum einen geht es wie gesagt nicht um die große, komplexe Form, die den Hörer fordert. Die einzelnen Zutaten sind dafür – neben der Strukturfrage – zu simpel, ja zum Teil regelrecht gefällig. Die Ton- und Akkordfolgen sind weitgehend harmonisch, unkompliziert – nur eben sehr zerdehnt. Der Hörer wird nicht mit Dissonanzen (oder überhaupt interessanten Kombinationen ...) konfrontiert. Auf der anderen Seite scheint es Feldman aber auch nicht darum zu gehen, die Zeit zu nutzen, um den Zuhörer in einen Fluß kommen zu lassen. Dazu sind die einzelnen Segmente viel zu kleinteilig und darüber hinaus rhythmisch zu komplex, um fließen zu können. Ein wiederkehrendes Element besteht beispielsweise darin, daß die Musiker „asynchron“, dabei stetig verlangsamend spielen. Als pseudospiritueller Trip für Trancejünger ist die Musik daher auch denkbar ungeeignet.

Welches Konzept steht also hinter dieser Musik? Nun, ich bin nicht dahinter gekommen. Ich bin insbesondere überfragt, was den Komponisten bewogen hat, die beschriebenen Prinzipien über viereinhalb Stunden auswalzen zu müssen. Angesichts einer unleugbaren Nicht-Großform, vor allem auch in Betracht der Fülle an Wiederholungen, nähme das Material, der Gehalt des Stückes meiner Ansicht nach keinerlei Schaden, wenn er auf sagen wir mal zwanzig bis dreißig Minuten eingedampft präsentiert würde. Womit ich nicht das musikalische Material als solches schlecht machen möchte. Ich gebe zwar zu, daß wohl insgesamt wenig für mich dabei rum kommt, da ich am Ende des Tages kein Freund der rein – ich betone rein – experimentellen Musik bin. An Experimenten als solchen habe ich wenig Interesse. Trotzdem habe ich durchaus interessante Passagen erlebt, die ich jetzt ganz sicher nicht wie die Stecknadel im Heuhaufen in etwaigen CD-Mitschnitten suchen werde. Dafür gibt es dann doch für mich ergiebigere Quellen.

Über die Qualität der Aufführung kann ich nicht viel sagen, außer, daß die Musiker allein für die Durchführung Respekt verdienen. Der Pianist besitzt einen differenzierten Anschlag, dem Flötisten (der stetig zwischen drei Instrumenten zu wechseln hatte) war zum Ende hin durchaus die Anstrengung anzumerken – da half auch sein Flötenständer offenbar nur bedingt. Ganz kalt gelassen hat mich das Konzert in keinem Fall. Vielleicht müßte ich mich mal mit jemandem unterhalten, der mir etwas zu Feldmans Vita und Beweggründen erzählen kann. Im Zweifel hätte das einer der vierzig Tapferen sein können. Denn bei aller Witzelei hoffe ich inständig, daß die Motivation bei den meisten unter den Besuchern sich nicht allein darin erschöpft hat, beim nächsten Intellektuellentreff die Runde zu beeindrucken: „ach ja, und dann war ich noch auf diesem Festival für experimentelle Musik, ein Konzert viereinhalb Stunden ohne Pause – Feldman, ihr wisst schon ...“