31. März 2013

Frau Luna – Thomas Wicklein.
Landestheater Altenburg.

14:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 14


Das tut auch mal ganz gut: Eine Inszenierung ohne Tiefenpsychologie, ein Werk, das nichts will als unterhalten. Sind der Kopf erst mal ausschaltet und die Sinne auf Kurzweil eingestellt, kommt man in den Genuß eines abendfüllenden Knallbonbons mit Berliner Schnauze. Auch die Auslastung und Reaktionen des Publikums zeigen: Es muß nicht immer das hohe Lied der Kunst sein – manchmal reichen schon ein paar nett verpackte Gassenhauer.

Und die Verpackung stimmt in dieser Produktion. Eine überbordende Ausstattung mit aufwändig gemalten Postkarten-Bühnenprospekten und zum Teil aberwitzigen Kostümen, dazu Balletteinlagen und Auftritte von der Showtreppe – all das erinnert mehr an eine bunte Samstagabend-Revue als an Musiktheater. Aber der Reihe nach. Die Handlung ist schnell erzählt: Ein einfacher Berliner Mechaniker träumt zu Kaisers Zeiten von einer Karriere als Luftschiffer und verliert mit seiner hitzköpfigen Art Anstellung und somit Kreditwürdigkeit bei seiner Vermieterin, dem Hausdrachen des Stückes. Als Ausweg bleibt nur die Flucht mit Entourage zum Mond – Ein Unterfangen, das sich am Ende als (Alb-)Traum des Protagonisten herausstellen wird, für den sich natürlich schließlich doch Traumberuf und Liebesglück in wundersamer Fügung ergeben. So weit, so belanglos.

Der eigentliche Charme des Stückes liegt jedoch nicht in den mehr oder minder flachen Witzchen und Sprüchen, sondern in der wirklich urkomischen Erkenntnis, daß der Mond auch nur eine andere Erde ist. Dies gelingt durch den Kunstgriff, das irdische Geschehen nahezu deckungsgleich auf unserem Trabanten mit jeweils den selben Darstellern in gespiegelten Rollen zu doppeln, nur eben gewissermaßen durch die lunare Brille betrachtet. Im Grunde geht es hüben wie drüben zu:

Für Ordnung sorgt ein preußisch strenger Schutzmann, hier wie dort mit leichtem Hang zur Schürzenjägerei. Fährt im Berlin des Kaiserreiches der möchtegern-schneidige Leutnant als Repräsentant der elitär-militären Kaste selbstverliebt im Automobil vor, um der Chansonette Avancen zu machen, so hat auch dieser in Prinz Sternschnuppe ein ins Groteske gesteigertes, lamettabehangenes Gegenstück. Es sind gerade diese nonverbalen Seitenhiebe auf die Konventionen und Moden der Gesellschaft, wie das stolz präsentierte Einkaufswagen-Mondmobil des Prinzen, sein lächerlicher Mond-Stechschritt oder das affektierte Balzen um die Gunst der Frau Luna (das Pendant zum aufreizenden Berliner Sternchen), die zu den lustigsten Momenten der Regiearbeit gehören.

Zurück zu den Kostümen: Da dürfte die entsprechende Abteilung großen Spaß – oder auch großen Stress – gehabt haben. Wahrscheinlich beides. Solch eine Detailversessenheit und phantasievolle Fülle an Entwürfen ist alles andere als selbstverständlich und verdient größte Anerkennung. Zumal die prachtvollen, zum Teil unglaublich skurrilen Roben (und auch Frisuren!) einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Gelingen des spaßigen Getümmels für sich beanspruchen dürfen – das Auge hört in dieser Produktion mit. Besonders gelungen dabei ist der Bogen, der von den historischen bzw. historisierenden Kostümen der wilhelminischen Zeit zu deren Variationen auf dem Mond gespannt wird. Pickelhauben gibt es beispielsweise auf beiden Himmelskörpern, wobei der Trend auf dem Erdenbruder eindeutig zu modischem Silber geht, angereichert durch allerlei Glitter und Flitter. Die Hut- bzw. Helmmode der lunaren Bevölkerung treibt darüber hinaus die tollsten Blüten. Ob Glühbirne, Fischkopf oder Teekanne – bei Mondens weiß man im wahrsten Sinne zu glänzen.

Weitere lustige Einfälle der Regie runden das Gesamtpaket ab. Der Flug zu den Sternen erfolgt im mit Ballons zum Luftschiff aufgemotzten Bett, die zeternde Haushälterin nimmt die Verfolgung gar in einer überdimensionalen Kaffeedose auf. Natürlich wird die Mondlandung durch eine obligatorische Berlinflagge besiegelt, man merkt es dem Stück ohnehin an, für welche Spielstätte es dereinst verfasst wurde – Berliner Lokalpatriotismus ist eine der Triebfedern des Geschehens. So hält man es trotz Sternenfunkel und Becirzung durch die Mondkönigin persönlich dann doch nur eine gewisse Weile von der Hauptstadt getrennt aus. In Berlin ist es schließlich immer noch am schönsten – so die Moral von der Geschicht.

Am Ende klatscht das Publikum selig im Takt zur berühmten Berliner Luft. Berlin in Altenburg – eine gelungene Kombination, eine Produktion mit dem Prädikat Knorke.


Paul Lincke – Frau Luna
Musikalische Leitung – Thomas Wicklein
Regie – Steffen Piontek
Bühne, Kostüme – Mike Hahne
Choreografie – Winfried Schneider
Choreinstudierung – Ueli Häsler
Dramaturgie – Felx Eckerle

Mathilde Pusebach – Rosemarie Dittmann-Bennert a.G.
Marie, ihre Nichte – Mona Deibele a.G.
Fritz Steppke, Mechaniker – Alexander Voigt
Wilhelm Pannecke, Portier – Günter Matthes a.G.
August Lämmermeier, Schneider – Kai Wefer
Flora Huschke, Chansonette / Frau Luna – Jule Rosalie Vortisch a.G.
Egon von Schlettow, Leutnant / Prinz Sternschnuppe – Bernardo Kim
Theophil Finke, Schutzmann / Theophil – Günter Markwarth a.G.
Ella, Dienstmädchen / Stella – Iris Eberle
Lieschen, Panneckes Tochter / Jungfrau – Victoria Valo a.G.
Briefträger / Mondbote – Andreas Veit
Wirt / Merkur – Eberhard Dunkel
Anna / Venus – Cosima Schulenburg
Leierkastenmann – Winfried Roscher
Mars – Michael Rieger

Tänzerinnen und Tänzer des ThüringenBalletts
Opernchor von Theater & Philharmonie Thüringen
Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera

30. März 2013

Die tote Stadt – Arn Goerke.
Theater Hof.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Orchestersitze links, Reihe 2, Platz 32



Also ich müßte ja lügen, behauptete ich, das Theater Hof hätte ja schon immer auf meiner streng geheimen Liste der Geheimtipps ganz oben gestanden, aber nach heute Abend bin ich doch sehr versucht, eine derartige Mär zu stricken.

Ob man sich in Hof dessen bewußt ist, welche Qualität im knuffigen Kaff an der Saale geboten wird? Mein Eindruck belief sich eher auf das Gegenteil, zumindest in der besuchten Aufführung. Viele leere Plätze, die sich nach jeder Pause noch fleißig vermehrten, und eine Reaktion auf die präsentierte Extraklasse, die schon arg ans Schnarchnasige reicht. Bei Werken von Korngold oder auch Schreker bekomme ich es einfach nicht in die Birne – warum triumphieren diese Opern mit ihrer spätromantischen Klangsprache nicht mit wehenden Fahnen bei einem Publikum, das bei Wagner und Strauss die Musentempel einrennt? Als einziges, schwaches Argument fällt mir dazu ein, daß sie seltener gespielt werden, man sich daher weniger vertraut zeigt – was an sich schon eine Schande ist. Ich hatte ja bereits in Frankfurt einmal das Vergnügen (Link). Aber was soll’s, jammern hilft nicht, also konzentrieren wir uns auf die bemerkenswerte Darbietung.

Was macht Daniel Kirch in Ulm? Er wird in Hamburg, in Berlin, in München gebraucht! Ein verdutzter Blick in seine Vita verrät – das hat man auch schon in Berlin, in München und anderswo bemerkt. Kaum verwunderlich, macht die Kombination aus frisch-jugendlicher, kraftvoller und doch extrem facettenreich schattierfähiger Stimme und einem vor Leidenschaft berstenden Agieren auf der Bühne Herrn Kirch zu einem Sängerdarsteller erster Güte, wie man ihn in dieser Intensität nicht so häufig antrifft. Sein Spiel zeichnet sich dabei neben einer mimischen Präsenz, die unter die Haut geht, vor allem auch durch eine enorme Körperlichkeit aus, die sehr viel zur glaubwürdigen Umsetzung der Rolle beiträgt. Gerade die Ambivalenz von Pauls Charakter – gespannte Andacht, wahnhafte Raserei, ekstatisch frommer Rausch, zerschlagene Verzweiflung – füllt Herr Kirch beängstigend plastisch aus. Ein flackernder Blick, blanker Hass, Güte, Tränen, Zerknirschung. Allein auch wie er sich gegen die Artistenfreunde Mariettas wirft, oder mit welcher Kraft er sich das umklammerte Bild Mariens nicht entreißen läßt – buchstäblich wie im übertragenen Sinne. Diesen Herrn sollte man erlebt haben, und damit meine ich gesehen UND gehört.

Glücklicherweise blieb es nicht allein bei dieser bemerkenswerten Einzelleistung der Hauptpartie, auch die übrigen Sänger trugen ihren Teil zum hervorragenden Gesamteindruck bei. Jennifer Maines als Marietta bzw. Marie liefert einen starken Gegenpol zum Paul-Darsteller, wenngleich mir ihre Stimme persönlich nicht ganz behagt, da sie teilweise etwas altzänkisch klingt. Technisch und vom Einsatz her ist aber alles, wie es sein soll. Es fällt auf, daß auch ihr Spiel sehr körperlich ausfällt (z.B. wilde Küsse, lustvolle Interaktion mit ihren Verehrern), was dem sinnlichen Charakter der Marietta glaubhaft Gestalt verleiht. Die Sänger der Haushälterin und des Freundes überzeugen mit sehr klarer Textverständlichkeit, Birger Radde zudem mit ausgesprochenem Wohlklang und Schmelz, was ihm in der Arie des Fritz eine regelrechte Sternstunde ermöglichte. Besser ist diese wehmütig-zarte Äußerung kaum vorstellbar. Bravo!

Ein weiterer Pluspunkt in Hof ist die Akustik des Saales, welche das tadellose Orchester weidlich zu nutzen weiß. Die reiche Instrumentation kommt differenziert rüber, gleichzeitig sitzt an den entsprechenden Stellen ordentlich Wumms dahinter. Allein die Einbindung der Orgel (vom Band) gerät akustisch ein wenig unausgewogen. Mein Kompliment auch an Herrn Goerke und seine intensive Ausgestaltung dieses Wechselbades der Emotionen.

Die Inszenierung von Jens Pesel besticht gleichermaßen durch Stringenz im Vorantreiben des Geschehens und Opulenz in der Umsetzung der Traumwelt. Das gestrandete Rettungsboot in Pauls Zimmer – Sinnbild für sein Inneres als Abbild Brügges, das große Auge bei der Anrufung Mariens, weitere Projetionen wie die Tanzvision am Ende des ersten Aktes oder später die Kirchenerscheinungen – die Liste starker visueller Eindrücke ist lang und ließe sich problemlos fortsetzen. Neben der Betonung des verzerrt Traumhaften – beispielsweise im Austausch der ursprünglichen Kerzen im Zimmer durch riesige Exemplare und eine expressive Lichtführung – versteht es die Regie immer wieder, die Zerrisenheit in Pauls Charakter bzw. seinen inneren Konflikt zwischen „Treue“ und Sehnsucht nach Rausch zu thematisieren, etwa in der Vermischung von kirchlicher Symbolik und Sexualität. Das Schlußbild, das dem die ganze Zeit so präsenten, verdorrten Baum blitzartig eine weitere Funktion zuweist, verfehlt seine erschütternde Wirkung nicht. Vielleicht ist Paul am Ende tatsächlich weniger geläutert, denn durch den Traum in seinem Entschluß bestärkt, die geliebte Stadt auf diesem Wege zu verlassen, der Geliebten zu folgen.

Ein beeindruckender, erschütternder, intensiver Abend, oder, um es im Rückgriff auf die Einleitung zu banalisieren: Ich hab’s ja schon immer gewußt – Auf nach Hof!


Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Arn Goerke
Inszenierung – Jens Pesel
Bühne und Kostüme – Siegfried E. Mayer
Chor –Cornelius Volke
Choreografie – Barbara Buser
Videographie – Kristoffer Keudel
Dramaturgie – Thomas Schmidt-Ehrenberg

Paul – Daniel Kirch
Marietta / Die Erscheinung Mariens – Jennifer Maines
Frank / Fritz – Birger Radde
Brigitta – Stefanie Rhaue
Juliette – Inga Lisa Lehr
Lucienne – Masako Iwamoto-Ruiter
Gaston – Florian Bänsch
Victorin – Mathias Frey
Graf Albert – Karsten Jesgarz

Ballett, Opernchor und Extrachor
Hofer Symphoniker

29. März 2013

Werther – Jens Troester.
Großes Haus Gera.

18:45 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 6, Platz 2

















Unter uns: Oper ist schon was für Perverse. Dieses ewige voyeuristische Weiden am Gesterbe auf großer Bühne. Gibt es auch immense Unterschiede in den Operntraditionen und -Vorlieben der verschiedenen Nationen, eint sie doch alle diese Lust am zelebrierten Siechtum.

Auch in Gera wurde wieder schön gestorben, technisch gesehen verbringt der gute Werther den gesamten vierten Akt damit, aus dieser Welt zu scheiden – wobei er eigentlich schon ab seinem ersten Auftritt (innerlich) zu Vergehen beginnt. Diesen Umstand nutzt die Regie für eine interessante Sichtweise auf den Charakter der Hauptfigur und deutet deren fortwährendes Schwelgen und Leiden als Ausdruck eines romantisch verklärten Narzissmus. In dieser Inszenierung dreht sich Werthers Welt in erster Linie um – Werther. Die anderen Beteiligten sind dabei Statisten auf seiner selbstverliebten und selbst auferlegten Herzschmerz-Tournee mit von Anfang an einkalkuliertem großem Abgang als letztem Bühneneffekt. Unter diesen Vorzeichen gerät die unerfüllbare Liebe zu Charlotte weniger zum Auslöser seiner Tragödie, als vielmehr zum Mittel, seinen autoaggressiv-schwärmerischen Neigungen nachzugehen.

Folglich betritt der Werther dieser Inszenierung die Bühne bereits in der selben schmerztrunkenen Pose, die er den gesamten Abend beibehalten wird. Sein wichtigster Bezugspunkt ist nicht Charlotte, sondern sein zweites Ich, das ihm in Form eines Schauspieler-Doppelgängers Impulse seines Handelns zu geben scheint und auch in seinem Abgesang eine zentrale Rolle spielen wird. Eine wirkliche Entwicklung ist jedoch bei ihm nicht festzustellen. So taumelt er als eine Art Emo-Prototyp im Rausch der Gefühle durch das Geschehen, das Rot des Weines im edlen Kristall in Händen als einzigen, symbolhaften Farbtupfer seiner stets schwarz gewandeten, bleichen Gestalt.

Überhaupt dominiert die Produktion eine reduzierte Schwarzweiß-Ästhetik, die deutliche Bezüge zur Stummfilmzeit, aber auch zu Scherenschnitten bzw. Schattenrissen des 18. und 19. Jahrhunderts herstellt. Die Lichtregie sorgt immer wieder für Gegenlichtsituationen, die Zwielicht und beklemmende Schattenwirkungen erzeugen. Roland Schwab geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er das ganze Werk als „Moritat vom Schatten“ inszeniert bzw. umbenennt, angefangen bei typischen Zwischentiteln in Stummfilmoptik, die den einzelnen Akten vorausgestellt sind bis hin zur Umdeutung der Figuren Schmidt und Johann zu Moritatensängern, die den Verlauf der Handlung immer wieder auch pantomimisch kommentieren.

Gerade dieser Kunstgriff mag befremdlich klingen, erwies sich in der Anwendung auf das Stück jedoch als gelungene zweite Ebene, die dem mitunter vielleicht naiv-romantisch überzeichnet scheinenden Moment der Oper seine schmerzliche, dabei auch allgemeingültig menschliche Seite abgewann. Gelungen auch deshalb, weil trotz aller Ironie, ja beißender Häme in den Kommentaren der stummen Bänkelsänger dem Werk und seiner schwärmerischen Musik kein Leid angetan, sondern deren Tragik eher noch gesteigert wurde. Weitere sporadische Details wie ein stummer Selbstmörder oder der marionettenhaft tanzende Chor, bleich geschminkt mit dunklen Augenhöhlen, unterstreichen die morbide Grundstimmung.

Das karussellartige Bühnenbild bietet durch die Drehungen viele Möglichkeiten der nahtlosen Szenenwandlungen und weckt mit seiner angedeuteten Weihnachtspyramiden-Anmutung Assoziationen zur heilen, gemütlichen Welt der Familie, die Werther gleichzeitig ersehnt und doch auch als Gegenentwurf auf seinem Weg als Märtyrer der Romantik zu brauchen scheint. Besonders beeindruckend wurde die Annäherung Werthers und Charlottes im dritten Akt realisiert. Die Steigerung der Musik fand hier in dem durch die Drehbühne endlos wirkenden, immer energischerem Nachsetzen Werthers, dem Charlotte unaufhörlich neue Absperrbänder in den Weg zu knüpfen versucht, eine starke visuelle Entsprechung.

Für das Orchesterzwischenspiel vor dem großen Sterbefinale wurde eigens ein kurzer Stummfilm angefertigt, der Werther auf seiner (Realitäts-)Flucht zeigt, verfolgt von Charlotte und den Dämonen des Hohns. Das Sterben an sich überläßt er dann seinem Doppelgänger, in dessen Brust das Nick Cave Zitat „Let Love in“ geritzt ist. Charlotte und der hinzukommende Damenchor schließlich rahmen als tableau vivant den Verstorbenen im Stile einer Pietà – Der Freitod als romantische Pose ist vollbracht. Werther selbst geht, wie er gekommen ist, mit dem Weinglas in der Hand. Er entzieht sich dem Geschehen durch die Tür des Theatersaales, so als wäre auch für ihn alles nur eine Inszenierung gewesen – seine Inszenierung.

Leider konnte die musikalische Umsetzung an diesem Abend nicht mit den Finessen der Regiearbeit mithalten. Sänger und Orchester lieferten eine ordentliche Leistung, insgesamt betrachtet liegen jedoch Welten zwischen heute und den Wonnen, die seinerzeit in Magdeburg der Partitur abgelauscht wurden (Link). Dennoch hat sich mein erster Eindruck bestätigt – Diese Oper ist eine Perle. Orchester und Dirigat stellten dies auch in Gera unter Beweis, wenn auch mit etwas weniger Nachdruck. Das heute vergleichsweise brav intonierte düstere Posaunenmotiv sei dafür nur ein kleines Beispiel. Intonation ist dann auch das Stichwort, wenn es um die Ensembleleistung geht. Die Sänger der Hauptpartien haben jeweils ihre Vorzüge, teilweise jedoch unüberhörbar mit dem Sitz der Töne zu kämpfen. Darüber hinaus neigt Herr Kim bei den Spitzentönen doch arg zum Forcieren – wobei er an sich eine recht schöne Stimme besitzt.

Nicht falsch verstehen – es gab diverse Momente musikalischer Schönheit an diesem Abend, namentlich in den innigen, ruhigen Passagen, auch und gerade in den Duetten des Paares und den solistischen Auftritten Frau Schneidereits, nur trauert ein Teil von mir dem nicht ganz umgesetzten Potenzial dieser Produktion nach, das vor allem in der verheißungsvollen Inszenierung begründet lag. So sind sie halt, die Perversen – halb schön gestorben reicht ihnen eben nicht.


Jules Massenet – Werther
Musikalische Leitung – Jens Troester
Inszenierung – Roland Schwab
Bühne, Kostüme, Video – Piero Vinciguerra
Dramaturgie – Felix Eckerle
Choreinstudierung – Ueli Häsler
Kinderchoreinstudierung – Susanne Hoch
Regieassistenz – Heike Kley
Studienleiterin – Claudia Gebauer

Werther – Bernardo Kim
Albert – Johannes Beck
Le Bailli, der Amtmann – Kai Wefer
Schmidt – Erik Slik
Johann – Heiko Retzlaff
Brühlmann – Gonzalo Diaz
Charlotte – Eva Schneidereit
Sophie – Katie Bolding
Kätchen – Annick Vettraino
Kinder des Le Bailli
Werthers Alter Ego – Marco Schmidt

Damen des Opernchores
Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera

26. März 2013

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 2, Reihe 1, Platz 2

 

Aron Kitzig – Spiegel (Videoinstallation)
Richard Wagner – Vorspiel und Karfreitagszauber aus „Parsifal“

(Pause)

Edward Elgar – Sinfonie Nr. 2



Ich bleibe dabei: Momentan stellen die Hamburger Symphoniker einfach das interessanteste Angebot für den geneigten Konzertgänger in der Hansestadt dar. Die Vorzüge liegen für mich auf der Hand:

Abwechslung.
Kein Abonnement in Hamburg bietet eine derart wohltuende Programmgestaltung abseits der ausgetretenen Pfade mit den üblichen Verdächtigen des Klassikbetriebs. Was spricht gegen Brahms, Beethoven oder Tschaikowsky? – Nichts! Ich verehre die Werke dieser und anderer Dauergäste der Konzertprogramme und höre sie gern und oft, aber ich bin den Hamburger Symphonikern dankbar dafür, daß sie offen für „Neues“ sind und über den Abo-Tellerrand hinausschauen. Und mal im Ernst: Wir reden hier ja schließlich nicht von irgendwelchen Ausgrabungen drittklassiger Komponisten, mit denen man sich vielleicht profilieren möchte, sondern schlicht und einfach von der reichhaltigen Erweiterung des Kernrepertoires um gewichtige Stücke von Komponistengrößen wie z.B. Sibelius, Britten oder Elgar – oder auch Haydn, Schumann oder Strauss, um nicht nur die „Exoten“ ins Feld zu führen. Eigentlich ist es ja ganz einfach, bzw. könnte auch andernorts so einfach sein – es ist immer eine Frage der Ausgewogenheit. Auch bei den Hamburger Symphonikern ist ja alles da: Die Neuner-Straßenfeger von Beethoven und Dvořák, Mozart-Konzerte, Brahms, Bruckner, Mahler ... Aber eben fast immer verbunden mit dem Angebot, seinen (musikalischen) Horizont zu erweitern. Ich finde, das verdient Respekt, und falls es tatsächlich – wie heute – dazu führen sollte, mal nicht die Hütte auf Alt-Abonnent komm raus voll zu bekommen, erst recht Hochachtung ob dieses Engagements.

Innovationsfreude.
Ich mag den Gedanken, das Konzertwesen nicht als unabänderliches, ewig wiederkäuendes Konstrukt, sondern auch als Spielwiese für Experimente zu begreifen. Mit Ideen wie dem als Konzert-Theaterstück (oder doch Theater-Konzert?) aufgeführten Shakespeareschen „Sturm“ aus Sibelius’ Feder oder der mit großem Einsatz unter Hinzuziehung neuer Wege (Stichwort Crowdfunding) realisierten DVD-Produktion „Divine“ (Link) beweist man auch hier den Willen zur Innovation. Das heutige Unterfangen, dem eigentlichen Konzert eine visuelle Ouvertüre in Form einer Videoinstallation voranzustellen, zeugt einerseits allein durch den betriebenen Aufwand von großer Ambition, brachte darüber hinaus jedoch ganz konkret eine äußerst ungewohnte Form der Poesie, der Kontemplation in die Laeiszhalle.

Qualität.
Ich habe es bereits viele Male thematisiert, aber ich werde nicht müde es zu wiederholen: Die Hamburger Symphoniker sind ein wunderbares Orchester mit einem Chefdirigenten, unter dessen Händen sich die Gestaltung von Klang und Struktur bei jedem Konzert auf das Eindringlichste manifestiert. Diesen Gestaltungsprozess hautnah miterleben zu können, erleichtert wiederum gerade den Zugang in Bezug auf musikalische Erstbegegnungen. Zumindest geht es mir persönlich so, weil sich dadurch mein Fokus auf die Entwicklung der Musik noch weiter schärft und einfach mehr schon beim ersten Hören hängenbleibt. Auch die heutige Darbietung der Elgar-Sinfonie bestätigte diesen Effekt. Sei es die Vermittlung des Aufbaus der Sinfonie im Ganzen oder ein Detail wie die Gänsehaut bringende Präsentation des verwunschen aufblühenden Seitenthemas aus dem ersten Satz – zunächst in pulsierend marschähnlicher Anmutung auf Trommelgrund intensiviert, schließlich bei seiner Wiederkehr zum Höhepunkt des Rondos mit pochendem Schlagwerk noch gesteigert – Eindrücke wie diese sind ideale Fürsprecher einer großen Musik, die offenbar viel zu selten im hiesigen Konzertbetrieb erklingt. Daß ich dabei besonders gern auf den klanglichen Charakter dieses Orchesters vertraue, ist auch kein Geheimnis und wurde schon im ersten Teil des Programmes beim Ausspinnen der Wagner-Wonnen wieder mal mit soghafter Wirkung und fein abgestuftem Klangfarbenfächer belohnt.

Man könnte noch viele Worte verlieren, aber der Fall liegt denkbar einfach: Sollten Sie Gelegenheit haben, die Hamburger Symphoniker, vor allem mit seinem Chefdirigenten, einmal zu erleben – tun Sie sich und Ihren Ohren einen Gefallen und schlagen – oder vielmehr hören – Sie zu!

18. März 2013

Junge Deutsche Philharmonie – Jonathan Nott.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 9


Krankenbericht.

Erneuter Ausbruch der gefürchteten Mahleritis ohne vorherige Anzeichen. Nach minimaler Inkubationszeit zeigte der Patient heftigste Symptome des bekannten Leidens, insbesondere nach Kontakt mit dem vierten Satz des Erregers: Bedenklicher Anstieg der Herzfrequenz; flache, stoßweise Atmung; das unvermittelt einsetzende Verlangen, sich jeglicher Tränenflüssigkeit zu entledigen; das schrittweise Ertauben der Hände, Arme und Beine, schließlich ergänzt durch Krämpfe in der muskulären Substanz der genannten Extremitäten.

Ferner klagte der Patient über einen stechenden Schmerz in der Brust sowie Schwindel mit einhergehender signifikanter Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinns (insbesondere bei den Bemühungen festzustellen, nach dem Verklingen des Bazillus den Saal zu verlassen). Das restlose Fernbleiben der Befähigung zu verstandesgemäßer Wahrnehmung für eine nicht zu unterschätzende Zeitspanne legt weiterhin den Verdacht nahe, daß diese Art der infektiösen Freizeitgestaltung einem gesunden Lebenswandel nach ärztlichem Ermessen aller Wahrscheinlichkeit nach in höchstem Maße abträglich gegenübersteht.

Um das konsequente Fernbleiben von Seufzermotiven jeglicher Art sowie Sinfoniesätzen über Haydn-Dimensionen hinaus wird im Hinblick auf das Wohl des Patienten nachdrücklichst ersucht und zwecks baldiger Genesung dringend zur Verbringung in ein nahegelegenes ruhiges Komponierhäuschen an einem Gebirgssee ihrer Wahl geraten.


Konzertbericht.

Wir halten fest: Die Junge Deutsche Philharmonie ist ein sehr gutes, wenn auch vielleicht nicht in allen Punkten überragendes Orchester, aber was der werte Herr Nott an diesem Abend im Glanz der alten Laeiszhalle mit den jungen Damen und Herren zu Gehör brachte, war buchstäblich unbeschreiblich.

Oder besser: es ließe sich schon vieles beschreiben – wenn man denn wollte. Angefangen bei Details der Ausführung, die gar nicht mal als perfekt im technischen Sinne zu bezeichnen wäre. Die üblichen Unsicherheiten hier, ein verspäteter Einsatz da, eine zu grob angemischte Klangfarbe in einer bestimmten Phrase dort – aber eben auch ein unerschütterliches Fundament für eine ganz besondere Darbietung voller Leidenschaft und Sensibilität.

Es ließe sich nachspüren, mit welchen Mitteln der Interpretation es Herrn Nott gelungen ist, ein derartiges Erlebnis zu schaffen – zumindest bezogen auf die ersten drei Sätze, in denen ich noch phasenweise bei Verstand war. Schärfste Kontraste in Dynamik und Tempo, energische Wechsel, ohne dabei je den Faden zu verlieren, dazu die ganze Ausdruckspalette in all ihren Schattierungen, kurz: Mahler, wie man ihn besser nicht bringen kann.

Aber all diese möglichen Beschreibungen vermöchten doch nicht die Summe des Konzerterlebnisses zu bilden. An einen solchen Abend gebührt es der ratio zu Schweigen, denn er gehört einzig und allein dem Mysterium der Empfindung.

16. März 2013

André Chénier – Markus L. Frank.
Theater Nordhausen.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Parkett rechts, Reihe 4, Platz 91



Nordhausen kann es. Aber so richtig. Das fängt schon damit an, daß der Regisseur selbst die Einführung hält, in der er Inhaltsangabe sowie musikgeschichtliche Einordnung liefert und Neugierde für sein Regiekonzept weckt, ohne zu viel vorwegzunehmen. Die Inszenierung selbst gehört zum Besten, das ich mir in letzter Zeit bei meinen Bühnenausflügen einverleiben durfte, da sie einen der seltenen und glücklichen Fälle darstellt, in denen ein schlüssiges Konzept den Inhalt des Werkes eigenständig verarbeitet, kommentiert und bereichernde Bezüge herstellt, ohne dabei seiner Vermittlung an das Publikum im Wege zu stehen – mehr noch, stattdessen diese mit jedem einzelnen Regieeinfall zu bereichern und zu intensivieren.

Die Idee einer Art „Revolutionsgalerie“, eines Museums der Revolutionsgeschichte durch die Zeiten als Spielort für die Handlung, erweist sich von Anfang an als spannender, vielschichtiger Nährboden für die überaus kreative Regie. In einer Rückblende, die letztendlich die gesamte Oper umschließt, erlebt hier Gérard als hoher Beamter sein Versagen erneut. Die Ereignisse beginnen bei offenem Vorhang, eine beklemmende Soundkulisse etabliert das (Alb-)traumhafte, manchmal fast Surreale, das der Entwicklung im Folgenden anhaftet. Gérards Vater, Diener der feinen Gesellschaft, staubt die Gemälde des Museums ab, die ausnahmslos aus Klassikern der Revolutionsikonografie bestehen. Der Sturm auf die Bastille, Portraits von Robespierre, Mao und Stalin, aber auch eine Fotografie von Demonstranten des sogenannten Arabischen Frühlings und weitere Motive – Ein Tourist besucht mit seiner Tochter (gleichzeitig die junge Maddalena) diese Ausstellung und macht Fotos. Im weiteren Verlauf wird er nach und nach in die Handlung eingebunden, bis er schließlich als einer der Ankläger Chéniers auftritt. Auf dem Weg dahin degradiert sein freudig getragenes Che T-Shirt revolutionäres Gedankengut zur bloßen Pop-Pose. Die Gegenwart läßt grüßen.

Doch zurück zu den Anfängen, dem lupenreinen Weiß der Rokoko Kostüme des einzig um sich selbst kreisenden Adels. Ein hübsches Aristokratenpaar macht es sich auf einem Sitzmöbel der entsprechenden Epoche gemütlich, gezogen von Gérards Vater. Diese Chaiselongue fungiert als Konstante die gesamte Inszenierung hindurch, bis sie sich am Ende umgeworfen in Chéniers Zelle wiederfindet. Als das Paar dem Publikum zum Verlassen des Raumes den Rücken zuwendet, sieht man blutige Wirbelsäulen aus den ansonsten unbefleckten Roben hervortreten, eine Vorwegnahme des adligen Schicksals. Im späteren Verlauf baumeln beide stellvertretend für einen ganzen Stand am Galgen. Doch in dieser ersten Szene der Oper ahnt der Adel noch nichts von seinem Untergang, eine illustre Schar blütenweißer Vergnügungssüchtiger bevölkert die Bühne. Umso schmerzlicher wirkt da, wie rührend, aber gleichzeitig verständnislos Gérard mit seinem Vater umgeht, wie ihn dessen Dienerdasein beschämt, ja wütend macht – und als Motivation für sein revolutionäres Streben offenkundig wird.

Die Regie setzt sein Handeln und dessen Folgen, bzw. die Erlebnisse aller Beteiligten im weiteren Verlauf konsequent in den übergreifenden Zusammenhang revolutionärer Bestrebungen aller Zeiten, ohne dabei die Dramatik der konkreten, individuellen Schicksale der vorhandenen Bühnenhandlung aus den Augen zu verlieren – im Gegenteil. Das spannende an der Inszenierung ist gerade, daß sie auf beiden Ebenen funktioniert, mehr noch, fesselt.

Das Bühnenbild vollzieht den fließenden Wandel durch verschiedene Epochen nach, zum einen durch geschickte Projektionen, die von der Rokoko-Tapete über den Blick auf Elendsviertel des Neunzehnten, vielleicht frühen zwanzigsten Jahrhunderts und Szenen aus Eisensteins Filmschaffen bis hin zu den Vergrößerungen der Gedichte Chéniers reichen, die die Wände seiner Gefängniszelle bedecken. Zum anderen gibt es bei den Szenenwechseln stets interessante Varianten des Aufbaus, es entstehen immer wieder Durchsichten, die das Gefüge auch auf dem begrenzten Bühnenraum immens organisch wirken lassen.

Inhaltlich gelingt es der Regie, einen kritischen Blick auf die Energien zu bewahren, die durch die Revolution(en) freigesetzt werden. Marats Badewanne wird als eine Art Altar inszeniert, der einen klaren Seitenhieb auf Märtyrer- und Personenkult darstellt. Als Regierungsbeamter reicht es aus, sich eine Kokarde anzustecken, um im Geschäft zu bleiben – Spitzel und Unterdrücker werden schließlich immer gebraucht. Die Tricolore verkommt im Laufe der Handlung mehr und mehr zum Accessoire, das sich auf Absperrbändern und Krawatten wiederfindet. Das Leid der hungernden Bevölkerung wird eindringlich in Erinnerung gerufen, als es in den Räumen der Revolutionsbeamten zu schneien beginnt.

Besonders plastisch gelingt die Inszenierung von Massenszenen, vor allem die Darstellung von Tumult und Gewalt ist überaus realistisch – das Durcheinanderrufen, die Raserei des Mob, beklemmend echt auch die Folter durch wiederholtes unter Wasser Drücken des Opfers. Ebenso die intensive Gerichtsszene, in der Chéniers Schicksal besiegelt wird. Das Volk jubelt zu den Bildern von Mao, Stalin, Castro, Mursri und anderen – eine Revolution ist wie die andere? Diesen kritischen, ja pessimistischen Anklängen setzt die Regie zum Finale einen Ausblick der Hoffnung entgegen: Nach Gewalt und gesellschaftlichem, aber auch persönlichem Leid endet das Stück mit den Montagsdemonstrationen der DDR, Menschen stehen friedlich mit Kerzen in den Händen für den Wandel ein – ein unglaublich intensiver Abschluß einer beeindruckenden Inszenierung. Gérard, das Kind der Revolution, sieht in dem kleinen Mädchen noch einmal Maddalena, sie findet zurück zu ihrem Vater, Gérard selbst bekommt einen Revolver gereicht.

Neben all der Begeisterung für die Regiearbeit, darf man keinesfalls die musikalische Leistung unter den Tisch fallen lassen. Im Gegenteil, wurde doch der erstklassigen Inszenierung ein nicht weniger begeisterndes Ergebnis durch Dirigat, Orchester, Ensemble und Chor an die Seite gestellt. Was für ein wunderbares Orchester! Vor allem dieses Bombenblech, das auch in Kombination mit dem Chor für wahrhaft überwältigende Klangeruptionen sorgte. Die gute Akustik trug ihren Teil zum Gelingen bei. Zudem konnten sich die drei Hauptpartien mehr als hören lassen. Hugo Mallet ist vielleicht kein Tenor-Schönling, aber wahrscheinlich gerade auch deshalb ungemein glaubwürdig in seiner Rolle. Eine Stimme mit Kraft, Schmelz und hinreißendem Ausdruck. Sabine Mucke als Maddalena stimmlich manchmal vielleicht eine Spur zu reif, aber sehr facettenreich und mit feinem Piano. Kai Günther gibt den Bösewicht in bester Scarpia-Manier – eine Wucht. Auch die weiteren Rollen halten das hohe Niveau des Abends. Thomas Kohl als Chéniers Freund etwas gaumig, aber mit schöner Stimme, imposant auch der Bariton des „Heerrufer“-Revolutionsschergen Mathieu/Gustavo Zahnstecher.

Und Apropos Scarpia – die schon in der Einführung angesprochene „Verwandtschaft“ des Stückes zur bekannteren, aber erst einige Jahre später entstandenen Tosca von Puccini blitzt doch immer wieder auf, vor allem was die Dreierkonstellation der Hauptpartien angeht – wahrscheinlich Illica sei Dank. Das Verdienst Giordanos ist es jedoch, daß sich das Werk keinesfalls ob seiner weltberühmten Nachfolgerin zu schämen braucht. André Chénier ist ein dramatisches Meisterwerk, fesselnd und mitreißend nicht zuletzt durch die Kraft einer mal betörenden, mal niederschmetternden Musik. Das Duett am Schluß des zweiten Aktes gehört mit seinem Blechbläsergrund ohne Zweifel zur ersten Liga der Opernliteratur, das Finale des Stückes ist eine Offenbarung.

Fazit: Nordhausen legt die Meßlatte für zukünftige Begegnungen mit diesem wundervollen Werk ungemein hoch – mein aufrichtiger Dank geht nach Thüringen!


Umberto Giordano – André Chénier
Musikalische Leitung – Markus L. Frank
Inszenierung – Toni Burkhardt
Bühne – Wolfgang Kurima Rauschning
Kostüme – Udo Herbster
Choreinstudierung – Elena Pierini
Dramaturgie – Anja Eisner

André Chénier – Hugo Mallet
Carlo Gérard – Kai Günther
Maddalena di Coigny – Sabine Mucke
Bersi – Brigitte Roth
Gräfin di Coigny – Anja Daniela Wagner
Madelon – Anja Daniela Wagner
Roucher – Thomas Kohl
Pietro Fléville – Yoontaek Rhim
Fouquier-Tinville – Yoontaek Rhim
Mathieu – Gustavo Zahnstecher
Abate – Marian Kalus
Dumas – David Johnson
Schmidt – Yavor Genchev
Harfenistin – Cecilia Domuncu

Opernchor und Statisterie des Theaters Nordhausen
Loh-Orchester Sondershausen

15. März 2013

Der Vampyr – Johannes Rieger.
Großes Haus Halberstadt.

19:30 Uhr, Rechts, Reihe 10, Platz 12 



Manchmal braucht der Funke eben einen Moment, bis er überspringt. So geschehen in Halberstadt, als ich, nach einigen langen Minuten des Befremdens, schlußendlich doch Freundschaft mit dem Regiekonzept des Abends schloß. Offenbar liegt es am Werk selbst, bzw. seiner Wirkung auf ein Publikum der Gegenwart, dem mit der Schauerromantik der Marschner-Zeit weniger Gänsehaut denn mehr ein nostalgisches Schmunzeln zu entlocken ist, daß die Regie bei dieser Oper gern zu Mitteln greift, diesen Umstand besonders hervorzuheben. 


Auch in der Produktion der Hamburger Kammeroper aus dem Jahr 2011 (Link) begegnete man dem Umstand, daß den meisten Zuschauern ein unvoreingenommener Blick auf den Vampyr-Stoff durch eine von diversen Dracula-Schattierungen der Filmgeschichte getönte Brille kaum mehr möglich sein dürfte – und spielte just mit jenen Klischees. Beiden Ansätzen gemein ist der Einsatz von Humor, eben auch über die ohnehin komödiantisch angelegten Passagen des Werkes hinaus. War ich seinerzeit in Hamburg schon über Stummfilmgesten und freiwillig unfreiwillig Komisches anfangs irritiert, wiederholte sich dieser Eindruck in noch gesteigerten Maße in Halberstadt.

Die außergewöhnlich opulenten, ja filmreifen Kostüme der Darsteller sowie das gleichzeitig aufwändig „realistisch“ ausgeführte und dabei doch untrüglich kulissenhaft anmutende Bühnenbild, kombiniert mit einem seltsam affektierten Auftreten der Darsteller, ließen die Fallhöhe der Bruchkante zwischen „groß gedacht“ und Schmierentheater bedenklich steigen. Dabei sollte sich insbesondere die bizarr-artifizielle Personenführung nach kurzer Eingewöhnungsphase als ebenso zwingend wie förderlich für die ganze Inszenierung erweisen.

Verlegte man sich in Hamburg auf einen bisweilen unbeschwerten Humor der leichten Hand, aus dem ein Kontrast zu den innig melancholischen Momenten gewonnen wurde, so folgt man in Halberstadt einer Art Abstraktion oder artifiziellen Überhöhung des Dargestellten. Häufig sind es marionettenhafte Gesten, oder vielmehr Gesten-Zitate, puppengleich ausgeführt, wie das fortwährende mechanische Wippen mit dem Zeigefinger zum Takt der Musik als Ausdruck von Emmis innerem Widerstreit gegen Ruthven, die mit der Naivität der Worte spielen.

Insbesondere auch der Chor liefert eine ganze Fülle dieser übertheatralischen Äußerungen: Das ruckartige Winken zum Abschied, eine Vielzahl betont einstudiert wirkender, wie auf Knopfdruck abgerufener Gesten des Entsetzens oder der Verzückung, oder auch das gesamte Bild, das der sich gebannt zugeneigt lauschende Chor bei Emmis Erzählung vom bleichen Mann abgibt, all dies dient einer Art pantomimischen Kommentars, soll die Gefahr einer Verkitschung bannen (Besagte Erzählung kann übrigens als eine Art Vorläufer für Sentas Ballade im Holländer aufgefasst werden – mit dem kleinen Unterschied, daß hier der Unselige brav verteufelt und nicht ersehnt wird). Für meine Begriffe geht dieses Konzept auf, wenn auch etwas zu Lasten der in Hamburg so rührend herausgearbeiteten zart-romantischen Stellen – was ist schon Verwerfliches daran, sich auf ungebrochene Naivität im Sinne von Reinheit und Unschuld einzulassen?

Auch das aufwändige Bühnenbild entpuppt sich als weit weniger konservativ, als es auf den ersten Blick scheint. Die ehrwürdigen Bögen verkörpern durch geschickt gesetzte wechselnde Lichtstimmungen und geringe Veränderungen mal Gruft, mal Herrenhaus, am Ende die Kirche der anberaumten Hochzeit zwischen Malwina und Ruthven. Ein besonderer Clou liegt nun darin, die im Boden der Gruft eingelassenen Gräber auch jeweils in den anderen Bildern einzubinden. So entsteigen beispielsweise in einer Szene, die die Hoffnungen von Emmis Bräutigam zum Inhalt hat, mehrere untote Bräute dem Boden der guten Stube und nehmen damit das Unheil vorweg, daß dem Paar widerfahren wird.

Effekte wie diese unter Einbindung sorgsam choreografierter Statisten können vor allem auch dank einer ausgefeilten, detailverliebten und dadurch organischen Personenregie zur Entfaltung gelangen. Bereits in der ersten Szene wird bei Vampirens bereits sehr wohltuend individuell gekrochen und sich gewunden, generell heben sich Chor, aber auch Solisten, vom üblichen Rumgestehe oder kollektiver Planlosigkeit ab. Wer steht zu wem in welcher Beziehung – das ist alles vorbildlich herausgearbeitet, zudem mit dem Konzept des überinszenierten Auftretens verzahnt.

Noch einmal zurück zum Licht. Das Licht ist zweifelsfrei einer der Hautdarsteller dieser Produktion. Welch stimmungsvolle Lichtführung! Ein besonders schönes Beispiel dafür: Der Schluss des ersten Bildes – Ruthven beschienen vom Mondlicht, das auch Janthes Wiederkehr als Vampir, ihr laszives Recken und Räkeln, in gespenstisches Zwielicht taucht. Oder auch ganz im Dienste der inneren Handlung: Das warm ausgeleuchtete Herrenhaus wird beim Gedanken an den unheilvollen Grafen schlagartig wieder zur kalten Gruft. Schließlich die durch ein Leuchten akzentuierte, zentral angebrachte Uhr, an Ruthvens verbleibende Zeit gemahnend – all dies und vieles mehr zeugen auch hier von großer Liebe zum Detail.

Zu guter Letzt sei darauf hingewiesen, daß es die Regie auch inhaltlich nicht bei einer bloßen Ausführung der Geschichte beläßt, die Handlung erfährt im Gegenteil eine zentrale Wendung: Triumphiert laut Libretto das Gute eindeutig über das Böse und ist mit Ruthvens Scheitern das Unheil gebannt, so sehen wir in Halberstadt mit dem Ableben des Grafen die Welt keineswegs wieder in Ordnung. Die Vampirseuche hat vielmehr im Laufe der Geschehnisse immer weiter um sich gegriffen, so daß am Ende der Vorstellung nahezu alle Beteiligten die Eckzähne blecken. Schon früh wird deutlich, wie Ruthven die Menschen zu Marionetten seines Willens macht, indem er sie buchstäblich an unsichtbaren Fäden dirigiert.

Spätestens, wenn in der Trinkszene nicht nur am Wein, sondern vor allem an Suse genippt wird, ist klar, daß die brave Landbevölkerung Gefallen am roten Lebenssaft gefunden hat. Einzig Malwina widersteht bis zum Schluß dem Einfluß des Vampirfürsten, sieht sich im finalen Bild dann jedoch von einer Traube Vertrauter umringt, die ihr allesamt an den Hals wollen – allen voran ihr „Retter“ Aubry.

Musikalisch verläuft der Abend mehr oder weniger dürftig. Das Orchester tritt in jeder Beziehung ziemlich hölzern und undifferenziert auf, das wird gleich in der Ouvertüre deutlich, die eher als ein verzerrtes Abbild ihrer selbst den Graben verläßt. Intonation, Einsätze, Struktur insgesamt – es läuft nicht wirklich rund in Halberstadt. Dabei war mir das Orchester bei seinem Gastspiel in Bernburg (Link) gar nicht so sauer aufgestoßen. Nun ja, der Selbsterhaltungstrieb des Gehörs sorgt mit fortlaufender Dauer der Aufführung dafür, alles in milderem Licht wahrzunehmen, zumal die Inszenierung ja genug Ablenkungsmöglichkeiten bereitstellt.

Auch nur kurz zu den Sängern: Herr Koskela als Ruthven mit recht schöner Stimme, aber nur schmal ausgebildeter Textverständlichkeit (oder sollte es doch am Gebiss gelegen haben?) In der Beziehung hatte ihm Herr Nijskamp als Sir Humphrey einiges voraus. Die Sängerin der Malwina, Frau Pierags, war schon als Violetta in Bernburg die Stütze des Ensembles und auch heute sorgte sie – neben dem äußerst wohltuenden Sopran der Emmi-Darstellerin Annabelle Pichler – für die musikalischen Höhepunkte des Abends. Beispielsweise beim dann doch insgesamt zart gelungenen Schluß des ersten Aktes. Der Held vom Dienst, Edgar Aubry, bzw. Herr Schöner als sein Mime, konnte kaum mit gebührendem Schmelz aufwarten und verlegte sich rein auf das Deklamatorische – seine zauberhafte Arie „Wie ein schöner Frühlingsmorgen“ verpuffte.

Die Akustik des auch architektonisch interessanten Hauses hat mir gefallen, leider blieben viele Plätze leer. Alles in allem trotz musikalischer Schwächen ein lohnenswerter Ausflug durch das Tor zum Harz ins Herz der Marschnerschen Schauerromantik.


Heinrich Marschner – Der Vampyr
Musikalische Leitung – MD Johannes Rieger
Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme – Hinrich Horstkotte
Dramaturgie – Susanne Range
Chöre – Jan Rozehnal

Sir Humphrey, Lord von Davenaut – Gijs Nijkamp
Malwina, seine Tochter – Bettina Pierags
Edgar Aubry – Tobias Amadeus Schöner
Lord Ruthven – Juha Koskela
Sir Berkley – Klaus-Uwe Rein
Janthe, seine Tochter – Nina Schubert
George Didbin, in Davenauts Diensten – Manfred Wulfert a. G.
Emmy, seine Braut – Annabelle Pichler
Tom Blunt, ihr Vater, in Ruthvens Diensten – Klaus-Uwe Rein
Suse, seine Frau – Marlies Sturm
James Gadshill – Kwonsoo Jeon
Richard Scrop – Carol-Virgil Herca
Robert Green – Norbert Zilz
Der Vampyrmeister – Klaus-Uwe Rein
Ein Diener Berkleys – Norbert Zilz

Opernchor, Statisterie und Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters

3. März 2013

Les Troyens – Donald Runnicles.
Deutsche Oper Berlin.

16:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 19










Hmm, heute war’s n bißchen zäh. Warum eigentlich? Die Oper selbst hat nicht so gezündet, wie es der erste Eindruck (Link) erhoffen ließ. Sind auf jeden Fall geniale Sachen drin (bezogen auf Instrumentation – z.B. zweite Geistererscheinung; Bezogen auf musikalische Eingebung – insbesondere die Musik im Zusammenhang mit Dido, hier als Krone ganz klar die Passage vor (Ensemble) und während des Liebesduetts). Aber für ein abschließendes Urteil ist es eh zu früh und die Partitur zu komplex, außerdem reden wir hier wohlgemerkt von Berlioz – und der hat mich bekanntlich noch nie enttäuscht.

Die Besetzung empfand ich beim letzten Mal ebenfalls glücklicher, obwohl sich diese nur auf wenigen, dafür maßgeblichen Positionen verändert zeigte. Hatten sicher viele Besucher dem Dido-Rollendebüt Elīna Garančas entgegengefiebert, das dann eben doch nicht zustande kam, war das für mich gar nicht der Punkt. Daniela Barcellona hatte die Partie schon im letzten Jahr sehr beeindruckend gegeben und daran gedachte sie glücklicherweise auch heute nichts zu ändern. Eine große Stimme mit exemplarischer Bandbreite des Ausdrucks. Eben jene konnte der Aeneas-Einspringer aber leider nicht vorweisen. Eine insgesamt eher bemühte, angestrengte und somit anstrengende Vorstellung. Auch die Kassandra war ehedem stärker besetzt, wobei Frau Komlosi jetzt nicht schlecht ablieferte – dennoch führen solche Details eben zu einem „ok“ statt „fulminant“ – um meine eigene Bewertung vom vorletzten Jahr nicht ganz dem Verdikt der Willkür anheimfallen zu lassen.

Auch das Dirigat hatte ich ja explizit gelobt. Und sicher gab es heute eine Vielzahl äußerst gelungener Passagen, in denen man sich vom schieren Wohlklang des Orchester berauscht fühlen durfte. Dennoch möchte ich in den beschwingt leichten, wieselflinken – „urfranzösischen“ – Manövern durchaus hier und da eine gewissen Trägheit kritisieren. Das fiel mir gleich zu Beginn auf, als das Ganze nicht so richtig Fahrt aufnehmen wollte, etwas behäbig daherkam. Perlende Virtuosität, wie sie hier von Nöten gewesen wäre, klingt anders.

Um den Nörgelreigen komplett zu machen: Selbst die an Schauwerten überbordende Inszenierung traf heute nicht zwingend meinen Nerv, bzw. nur in Teilen. Ästhetisch betrachtet ist das wirklich eine runde Sache. Auf der einen Seite die aggressive Kriegswelt der Trojaner in Rot- und Erdtönen, auf der anderen die lieblich milde Sphäre der friedensliebenden Carthager in Gelb, Grün und Weiß. Vor allem die mannigfaltigen Kostüme sind ein wahrer Augenschmaus.

Bei der zweiten Durchsicht der Regiearbeit traten mir aber bestimmte Details ins Blickfeld, die mir beim ersten Mal nicht störend aufgefallen waren, die mich nun jedoch irritierten. Chormassen, die doch eher planlos umherlaufen, Kassandras Strickpferdchen oder das Trojanische Geisterquartett, das sich seltsam albern gebärdet und Aeneas Aufbruch schließlich mit der peinlichsten aller möglichen Bühnen-Gesten feiert– dem berufsjugendlich-bräsigen Abklatschen. Wie gesagt, auch hier geht es „nur“ um Details, die das Gesamtkonzept lediglich von Zeit zu Zeit eintrüben.

Hatte mich die gigantische Holzpferd-Maschinerie seinerzeit noch begeistert, vielmehr verblüfft, verpufften derlei Effekte jetzt weitestgehend. Auf der anderen Seite wäre es unfair, die zweifellos sehr abwechslungsreichen und aufwändigen Bühnenwirkungen madig zu machen, die durchweg von Fantasie und Inspiration zeugen. Manches wirkt fast schon zu verspielt, wie die Seifenblasenseligkeit um das Liebespaar, unter dem Strich muß man solch eine Produktion aber erst mal derart vielfältig stemmen – der Respekt überwiegt. Besonders gelungen erfolgte die Einbindung der Balletteinlagen, allen voran die lange Choreografie der ganz in Grün getauchten Jagdszene.

Welcher Eindruck besteht also am Ende? So ganz sicher bin ich mir da selbst nicht. Vor allem der Schluß mit dem nicht enden wollenden Lamentieren der Dido, ihrem Sterbenwollen und dann weiteres Lamentieren und „endlich“ der Vollzug, an den sich wiederum ein weiteres Chorlamento anschließt, zog sich für mein Empfinden – auch musikalisch bzw. auf die Struktur des Finales bezogen – so ungemein in die Länge, daß als letzter Gemütszustand eher Ermattung als Erschütterung hängen blieb. Habe ich Werk (und Umsetzung) doch überschätzt? Ich werde dem wohl am heimischen CD-Regal in Ruhe auf den Zahn fühlen. Das bin ich meinem Freund Berlioz schließlich schuldig.


Hector Berlioz – Les Troyens
Musikalische Leitung – Donald Runnicles
Inszenierung – David Pountney
Bühne – Johan Engels
Kostüme – Marie-Jeanne Lecca
Chöre – William Spaulding
Licht – Davy Cunningham
Choreographie – Renato Zanella

Énée – Daniel Magdal
Chorèbe – Markus Brück
Panthée – Seth Carico
Narbal – Ante Jerkunica
Iopas / Hylas – Yosep Kang
Ascagne – Jana Kurucová
Cassandre – Ildiko Komlosi
Didon – Daniela Barcellona
Anna – Clémentine Margaine
Priam – Lenus Carlson
Ein griechischer Heerführer – Marko Mimica
Hector – Stephen Bronk
Hélénus – Alvaro Zambrano
Ein Soldat – Andrew Harris
Erster trojanischer Soldat – Markus Brück
Zweiter trojanischer Soldat – Lenus Carlson
Mercure – Stephen Bronk
Hécube – Hulkar Sabirova
Andromache – Étoile Chaville
Astyanax – Alberto Garcia Minguez

Orchester der Deutschen Oper Berlin
Chor der Deutschen Oper Berlin
Extrachor der Deutschen Oper Berlin
Opernballett der Deutschen Oper Berlin
Statisterie der Deutschen Oper Berlin

2. März 2013

Ballett-Gala. Staatsballett Berlin.
Brandenburger Theater

19:30 Uhr, Parkett, Reihe C, Platz 9















Was verschlägt einen als Hamburger ans Brandenburger Theater – außer der fixen Idee, stetig neue Häuser kennenlernen zu wollen? Ein Gastspiel des Berliner Staatsballetts beispielsweise. Am Sonntag locken die Trojaner in die Hauptstadt, das läßt sich doch wunderbar kombinieren.

Das Theater, genauer das multifunktionale Cultur Congress Centrum, ist nicht unbedingt eine Augenweide, bzw. angesichts der historischen Straßenzüge ringsum ein veritabler Fremdkörper, aber hübsch in eine kleine Parkanlage am Wasserlauf eingebettet. Außerdem geht es ja darum, Tanz- und Tonkunst auf sich wirken zu lassen – und weniger die Tristesse der Baukunst der Gegenwart. Bezüglich der technischen Gegebenheiten und Akustik kommt der geneigte Ästhet dann auch durchaus auf seine Kosten: Ein mehr als brauchbarer Konzertsaal inklusive standesgemäßem Orchestergraben und großzügiger Bühne erwartet den Besucher im Inneren des nüchternen Komplexes.

Die Gala scheint restlos ausverkauft – nicht zu Unrecht, wie sich schnell herausstellt. Die Brandenburger Symphoniker sind kein schlechtes Orchester und werden von Herrn Reimer munter befeuert. Die Kombination beweist Schmiss und Elan, aber ebenso Fingerspitzengefühl. Orchestraler Höhepunkt der Veranstaltung ist die Scheherazade-Szene, in der getanzte Exotik und Erotik in den Wirkungen des Klangkörpers eine bedingungslos leidenschaftliche Entsprechung finden. Auf der anderen Seite braucht man wiederum auch kein Geheimnis daraus machen, daß es das Solocello im „Sterbenden Schwan“ mit dem Siechtum doch etwas zu wörtlich genommen hat – möchte man der gewagten Intonation noch eine interpretatorische Aussage abgewinnen. Im Allgemeinen besteht jedoch kein Anlaß zu Lästerei und Unmut – das Brandenburger Orchester bietet Potenzial für inspirierte Konzert- und Opernabende.

Oder eben in Kombination mit Ballett. Wobei mehrere Szenen nicht direkt aus dem Graben, sondern vom Band begleitet wurden. Das hatte wohl hauptsächlich organisatorische, bzw. rein pragmatische Gründe, da man beispielsweise keinen Chor nur für das Lacrimosa antreten lassen und sich der Konzertmeister wahrscheinlich auch nicht als todesmutiger Virtuose für das Paganini- Capriccio hervortun wollte. Ein Stück beinhaltete eine Collage aus Musik und Geräuscheffekten, ein anderes war mit einem Song von Tom Waits unterlegt. Eine bunte Mischung, wie man sich denken kann, eine Art „Best of“ aus verschiedensten Ballettwerken – Gala halt.

Und genau daraus ergab ich für mich der einzige Wermutstropfen des Abends. So wie ich mich nur schwer mit dem Arien-Gulasch der beliebten Operngalas anfreunden kann, erging es mir mit der sehr heterogenen Abfolge der Ballettszenen. Aus dem Kontext der Ursprungswerke gerissen und mit dadurch vorprogrammierten Stimmungswechseln von jetzt auf gleich, hatte das Ganze ein wenig die Tendenz, zur virtuosen Bonbonverkostung zu verkommen. Wohlgemerkt berührt diese Einschätzung keineswegs die Qualität der dargebotenen Szenen als solche – ich bin zwar im Ballett ein seltener Gast, war jedoch sehr von den Leistungen – mehr noch vom Ausdruck – der meisten Tänzer angetan. Dennoch sind meine Lehren daraus: Lieber ein komplettes Stück als Szenen-Zapping, lieber eine getanzte Geschichte als rein virtuose Sprunggelenk- Präsentation.

Und ein letzter Kritikpunkt: Den Abend mit einer ausgedehnten, tänzerreichen, jedoch ermüdend inhaltsarmen Szene krönen zu wollen, die darüber hinaus von der eintönigsten und uninspiriertesten Musik beplätschert wurde, die das 19. Jahrhundert zum Zwecke der Spaßvollbremsung bereithält, halte ich für gewagt, ja dramaturgisch fragwürdig, kurzum: verfehlt. Mehr ist mitunter schon mal mehr, aber ob jetzt zwei, vier, sechs oder ein Dutzend Paar trippelnder Füßchen den Dienst an der getanzten Belanglosigkeit verrichten, ist einfach unerheblich. Das Konzept „Tänzer als Deko-Elemente“ erschließt sich mir nicht.

Aber wie gesagt, auch diese Nullszene schmälert nicht die Leistung der Compagnie, verwehrte dem Abend aus meiner Sicht lediglich einen gehaltvollen Abschluß. Der verdiente Jubel war den Ausführenden dadurch ohnehin nicht zu nehmen. Werde ich eine weitere Ballettgala besuchen – unwahrscheinlich. Werde ich noch mal an der Havel Halt machen – warum nicht?


Brandenburger Symphoniker – Robert Reimer

Le Spectre de la rose
Musik von Carl Maria von Weber – Aufforderung zum Tanz (orchestriert von Hector Berlioz) Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzer: Iana Salenko, Dinu Tamazlacaru

Lacrimosa
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart – Requiem KV 626, Lacrimosa
Choreographie von Gyula Pandi
Tänzer: Marian Walter

Les Sylphides
Musik von Frédéric Chopin – Walzer op. 64 Nr. 2 (orchestriert von Alexander Glasunow)
Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzer: Shoko Nakamura, Mikhail Kaniskin

Scheherazade
Musik von Nikolai Rimski-Korsakow – Scheherazade op. 35, Auszüge
Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzer: Elisa Carrillo Cabrera, Ibrahim Önal

Der sterbende Schwan
Musik von Camille Saint-Saens
Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzerin: Beatrice Knop

Das Sofa
Musik von Tom Waits – Nobody
Choreographie von Itzik Galili
Tänzer: Soraya Bruna, Michael Banzhaf, Leonard Jakovia

(Pause)

Elegie der Herzen
Musik von Arvo Pärt
Choreographie von Raimondo Rebeck
Tänzer: Iana Salenko, Marian Walter

Caravaggio
Musik von Bruno Moretti nach Claudio Monteverdi
Choreographie von Mauro Bigonzetti
Tänzer: Beatrice Knop, Leonard Jakovina

C/24
Musik von Nicolo Paganini
Choreographie von Mauro de Candia
Tänzer: Dinu Tamazlacaru

La Péri
Gartenszene Divertissement
Musik von Friedrich Burgmüller (eingerichtet und arrangiert von Roland Bittmann und Torsten Schlarbaum)
Choreographie von Vladimir Malakhov
Tänzer: Shoko Nakamura, Mikhail Kanisin, Stephanie Greenwald, Sarah Mestrovic, Krasina Pavlova, Anastasia Kurkova, Taras Bilenko, Alexej Orlenco, Kévin Pouzou sowie Damen des Corps de ballet