16. März 2013

André Chénier – Markus L. Frank.
Theater Nordhausen.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Parkett rechts, Reihe 4, Platz 91



Nordhausen kann es. Aber so richtig. Das fängt schon damit an, daß der Regisseur selbst die Einführung hält, in der er Inhaltsangabe sowie musikgeschichtliche Einordnung liefert und Neugierde für sein Regiekonzept weckt, ohne zu viel vorwegzunehmen. Die Inszenierung selbst gehört zum Besten, das ich mir in letzter Zeit bei meinen Bühnenausflügen einverleiben durfte, da sie einen der seltenen und glücklichen Fälle darstellt, in denen ein schlüssiges Konzept den Inhalt des Werkes eigenständig verarbeitet, kommentiert und bereichernde Bezüge herstellt, ohne dabei seiner Vermittlung an das Publikum im Wege zu stehen – mehr noch, stattdessen diese mit jedem einzelnen Regieeinfall zu bereichern und zu intensivieren.

Die Idee einer Art „Revolutionsgalerie“, eines Museums der Revolutionsgeschichte durch die Zeiten als Spielort für die Handlung, erweist sich von Anfang an als spannender, vielschichtiger Nährboden für die überaus kreative Regie. In einer Rückblende, die letztendlich die gesamte Oper umschließt, erlebt hier Gérard als hoher Beamter sein Versagen erneut. Die Ereignisse beginnen bei offenem Vorhang, eine beklemmende Soundkulisse etabliert das (Alb-)traumhafte, manchmal fast Surreale, das der Entwicklung im Folgenden anhaftet. Gérards Vater, Diener der feinen Gesellschaft, staubt die Gemälde des Museums ab, die ausnahmslos aus Klassikern der Revolutionsikonografie bestehen. Der Sturm auf die Bastille, Portraits von Robespierre, Mao und Stalin, aber auch eine Fotografie von Demonstranten des sogenannten Arabischen Frühlings und weitere Motive – Ein Tourist besucht mit seiner Tochter (gleichzeitig die junge Maddalena) diese Ausstellung und macht Fotos. Im weiteren Verlauf wird er nach und nach in die Handlung eingebunden, bis er schließlich als einer der Ankläger Chéniers auftritt. Auf dem Weg dahin degradiert sein freudig getragenes Che T-Shirt revolutionäres Gedankengut zur bloßen Pop-Pose. Die Gegenwart läßt grüßen.

Doch zurück zu den Anfängen, dem lupenreinen Weiß der Rokoko Kostüme des einzig um sich selbst kreisenden Adels. Ein hübsches Aristokratenpaar macht es sich auf einem Sitzmöbel der entsprechenden Epoche gemütlich, gezogen von Gérards Vater. Diese Chaiselongue fungiert als Konstante die gesamte Inszenierung hindurch, bis sie sich am Ende umgeworfen in Chéniers Zelle wiederfindet. Als das Paar dem Publikum zum Verlassen des Raumes den Rücken zuwendet, sieht man blutige Wirbelsäulen aus den ansonsten unbefleckten Roben hervortreten, eine Vorwegnahme des adligen Schicksals. Im späteren Verlauf baumeln beide stellvertretend für einen ganzen Stand am Galgen. Doch in dieser ersten Szene der Oper ahnt der Adel noch nichts von seinem Untergang, eine illustre Schar blütenweißer Vergnügungssüchtiger bevölkert die Bühne. Umso schmerzlicher wirkt da, wie rührend, aber gleichzeitig verständnislos Gérard mit seinem Vater umgeht, wie ihn dessen Dienerdasein beschämt, ja wütend macht – und als Motivation für sein revolutionäres Streben offenkundig wird.

Die Regie setzt sein Handeln und dessen Folgen, bzw. die Erlebnisse aller Beteiligten im weiteren Verlauf konsequent in den übergreifenden Zusammenhang revolutionärer Bestrebungen aller Zeiten, ohne dabei die Dramatik der konkreten, individuellen Schicksale der vorhandenen Bühnenhandlung aus den Augen zu verlieren – im Gegenteil. Das spannende an der Inszenierung ist gerade, daß sie auf beiden Ebenen funktioniert, mehr noch, fesselt.

Das Bühnenbild vollzieht den fließenden Wandel durch verschiedene Epochen nach, zum einen durch geschickte Projektionen, die von der Rokoko-Tapete über den Blick auf Elendsviertel des Neunzehnten, vielleicht frühen zwanzigsten Jahrhunderts und Szenen aus Eisensteins Filmschaffen bis hin zu den Vergrößerungen der Gedichte Chéniers reichen, die die Wände seiner Gefängniszelle bedecken. Zum anderen gibt es bei den Szenenwechseln stets interessante Varianten des Aufbaus, es entstehen immer wieder Durchsichten, die das Gefüge auch auf dem begrenzten Bühnenraum immens organisch wirken lassen.

Inhaltlich gelingt es der Regie, einen kritischen Blick auf die Energien zu bewahren, die durch die Revolution(en) freigesetzt werden. Marats Badewanne wird als eine Art Altar inszeniert, der einen klaren Seitenhieb auf Märtyrer- und Personenkult darstellt. Als Regierungsbeamter reicht es aus, sich eine Kokarde anzustecken, um im Geschäft zu bleiben – Spitzel und Unterdrücker werden schließlich immer gebraucht. Die Tricolore verkommt im Laufe der Handlung mehr und mehr zum Accessoire, das sich auf Absperrbändern und Krawatten wiederfindet. Das Leid der hungernden Bevölkerung wird eindringlich in Erinnerung gerufen, als es in den Räumen der Revolutionsbeamten zu schneien beginnt.

Besonders plastisch gelingt die Inszenierung von Massenszenen, vor allem die Darstellung von Tumult und Gewalt ist überaus realistisch – das Durcheinanderrufen, die Raserei des Mob, beklemmend echt auch die Folter durch wiederholtes unter Wasser Drücken des Opfers. Ebenso die intensive Gerichtsszene, in der Chéniers Schicksal besiegelt wird. Das Volk jubelt zu den Bildern von Mao, Stalin, Castro, Mursri und anderen – eine Revolution ist wie die andere? Diesen kritischen, ja pessimistischen Anklängen setzt die Regie zum Finale einen Ausblick der Hoffnung entgegen: Nach Gewalt und gesellschaftlichem, aber auch persönlichem Leid endet das Stück mit den Montagsdemonstrationen der DDR, Menschen stehen friedlich mit Kerzen in den Händen für den Wandel ein – ein unglaublich intensiver Abschluß einer beeindruckenden Inszenierung. Gérard, das Kind der Revolution, sieht in dem kleinen Mädchen noch einmal Maddalena, sie findet zurück zu ihrem Vater, Gérard selbst bekommt einen Revolver gereicht.

Neben all der Begeisterung für die Regiearbeit, darf man keinesfalls die musikalische Leistung unter den Tisch fallen lassen. Im Gegenteil, wurde doch der erstklassigen Inszenierung ein nicht weniger begeisterndes Ergebnis durch Dirigat, Orchester, Ensemble und Chor an die Seite gestellt. Was für ein wunderbares Orchester! Vor allem dieses Bombenblech, das auch in Kombination mit dem Chor für wahrhaft überwältigende Klangeruptionen sorgte. Die gute Akustik trug ihren Teil zum Gelingen bei. Zudem konnten sich die drei Hauptpartien mehr als hören lassen. Hugo Mallet ist vielleicht kein Tenor-Schönling, aber wahrscheinlich gerade auch deshalb ungemein glaubwürdig in seiner Rolle. Eine Stimme mit Kraft, Schmelz und hinreißendem Ausdruck. Sabine Mucke als Maddalena stimmlich manchmal vielleicht eine Spur zu reif, aber sehr facettenreich und mit feinem Piano. Kai Günther gibt den Bösewicht in bester Scarpia-Manier – eine Wucht. Auch die weiteren Rollen halten das hohe Niveau des Abends. Thomas Kohl als Chéniers Freund etwas gaumig, aber mit schöner Stimme, imposant auch der Bariton des „Heerrufer“-Revolutionsschergen Mathieu/Gustavo Zahnstecher.

Und Apropos Scarpia – die schon in der Einführung angesprochene „Verwandtschaft“ des Stückes zur bekannteren, aber erst einige Jahre später entstandenen Tosca von Puccini blitzt doch immer wieder auf, vor allem was die Dreierkonstellation der Hauptpartien angeht – wahrscheinlich Illica sei Dank. Das Verdienst Giordanos ist es jedoch, daß sich das Werk keinesfalls ob seiner weltberühmten Nachfolgerin zu schämen braucht. André Chénier ist ein dramatisches Meisterwerk, fesselnd und mitreißend nicht zuletzt durch die Kraft einer mal betörenden, mal niederschmetternden Musik. Das Duett am Schluß des zweiten Aktes gehört mit seinem Blechbläsergrund ohne Zweifel zur ersten Liga der Opernliteratur, das Finale des Stückes ist eine Offenbarung.

Fazit: Nordhausen legt die Meßlatte für zukünftige Begegnungen mit diesem wundervollen Werk ungemein hoch – mein aufrichtiger Dank geht nach Thüringen!


Umberto Giordano – André Chénier
Musikalische Leitung – Markus L. Frank
Inszenierung – Toni Burkhardt
Bühne – Wolfgang Kurima Rauschning
Kostüme – Udo Herbster
Choreinstudierung – Elena Pierini
Dramaturgie – Anja Eisner

André Chénier – Hugo Mallet
Carlo Gérard – Kai Günther
Maddalena di Coigny – Sabine Mucke
Bersi – Brigitte Roth
Gräfin di Coigny – Anja Daniela Wagner
Madelon – Anja Daniela Wagner
Roucher – Thomas Kohl
Pietro Fléville – Yoontaek Rhim
Fouquier-Tinville – Yoontaek Rhim
Mathieu – Gustavo Zahnstecher
Abate – Marian Kalus
Dumas – David Johnson
Schmidt – Yavor Genchev
Harfenistin – Cecilia Domuncu

Opernchor und Statisterie des Theaters Nordhausen
Loh-Orchester Sondershausen