25. Mai 2013

Philharmonia Orchestra – Esa-Pekka Salonen.
Laeiszhalle Hamburg.

19:15 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Edgar Varèse – Amériques

(Pause)

Igor Strawinsky – Le sacre du printemps



Ich glaube an dem Tag, da ich ein Programmheft zum Sacre in Händen halten werde, das einmal NICHT den (kalkulierten) „Jahrhundertskandal“ seiner Uraufführung thematisiert, bringe ich zum Dank eigenhändig irgendein heidnisches Opfer dar. Vielleicht nicht gerade eine tanzende Jungfrau, wahrscheinlich eher eine quasselnde Nebensitzerin (dazu später mehr), oder etwas in der Art.

Mein Respekt gilt erst mal Herrn Matuschek für die Handschrift seiner Einführungen. Schon beim Bostridge/Britten Liederabend (Link) war mir diese positiv aufgefallen. Zahlreiche Bild- und Tonbeispiele, ein interessanter, ungewöhnlicher Einstieg (im Falle von Britten ein erhellender Folksong-Vergleich), dazu ein lockerer aber keineswegs seichter Vortrag. Und heute also: Der Skandal. Oder besser: Der kalkulierte, inszenierte Skandal. Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber ich bin der turbulenten Farce, bei der ein Störenfried aus dem Publikum die einleitende Fagottkantilene der Solistin auf der Bühne barsch zu stören suche, um dann seinerseits von erbosten Nebenleuten angegangen zu werden, absolut auf den Leim gegangen. Da war gleich Leben in der Bude, eine Mischung aus Peinlich- und Fassungslosigkeit machte sich breit. Meine Hochachtung für diesen Wachmacher! Die Einführung als solche war eine wirkliche Bereicherung, indem Matuschek beispielsweise mittels grafischer Umsetzung bestimmter Stellen der Sacre-Partitur deren komplexe Struktur zumindest punktuell nachvollziehbar zu machen suchte. So was könnte ich mir stundenlang zu Gemüte führen.

Dergestalt geht es aber offenbar nicht jedem, der sich mit solch einem rein „modernen“ Programm konfrontiert sieht – so zumindest deutete ich das grotesk ablehnende Verhalten der Dame zu meiner Rechten, das mir den Genuß eben jenes Sacre unmöglich machte. Unablässiges Aufstöhnen, ja lautes Hereinreden bis hin zu Klatschen (!?) während der Aufführung – sollte sich das Motto des Skandals nun verselbständigt haben? Mein Hinweis an die Dame beim Verlassen des Saales, ihr Gebaren habe das Konzerterlebnis jetzt nicht unbedingt bereichert, wurde zuerst ignoriert, dann von ihrem Gatten (der im Laufe der Darbietung zumeist abwesend mit den Schuhen klapperte, wenn er nicht gerade seine Begleitung zur Mäßigung rief, und so dem rhythmischen Element der Komposition eine ganz neue Note verlieh) umso beherzter mit einem Griff an meinen Arm aufgenommen: Was mir denn einfiele, seine Frau derart anzusprechen, wo sie doch – Zitat: „etwas dement“ sei.

Man mag mich für einen Unmenschen halten, daß ich dieser Logik daraufhin widersprach, aber vielleicht ist es meiner Kaltherzigkeit oder Respektlosigkeit geschuldet, daß ich in diesem Fall auf einer gänzlich anderen Einschätzung des Tatbestandes Respektlosigkeit beharre. Und ganz allein blieb ich mit dieser Meinung dann auch nicht, wie sich bei einem Gespräch an der Garderobe herausstellte. Es will mir einfach nicht einleuchten, mit welchem Recht man es sich herauszunehmen getraut, das Interesse von etwa zweitausend Konzertbesuchern der individuellen Verfassung unterzuordnen. Dabei spielt es für mich keine Rolle, ob der Grund für die anhaltende Störung Demenz, ein permanent schreiendes Baby oder ein ordinärer Schnupfen ist, wenn er dazu führt, daß die Person den Saal zusammenhustet oder –niest. Bestimmte Dinge gehen einfach nicht, so tragisch es im Einzelfall dann sein mag. Leid tut mir in dieser Posse nur die alte Dame, die in eine Veranstaltung geschleppt wird, die sie im Nachhinein betrachtet wahrscheinlich weder aufgenommen, geschweige denn genossen hat.

Und zu genießen gab es eine Menge, soviel habe ich dann doch noch mitbekommen. Schließlich gastierte mit der Truppe aus London eines der besten Orchester überhaupt auf der erweiterten Bühne der Laeiszhalle. Jene war insbesondere für Varèse zwingend erforderlich, um Gerät und Künstler immer noch in Ölsardinenschichtung unterzubringen. Das Philharmonia Orchestra gehört zu meinen ausgemachten Lieblingen. Die Kombination aus virtuoser Perfektion und einem etwas spröden, fast rauchigen Charakter macht es ebenso stimulierend wie unverwechselbar. Die Energie, die es unter dem kantigen, treibenden Dirigat Salonens entfacht, konnte ich glücklicherweise nun schon zum dritten Mal auf mich wirken lassen – naja, bis auf die heutige Sabotageaktion, aber das hatten wir ja schon. Jede Instrumentengruppe für sich liefert Referenzwerte an Klang und Technik, im Zusammenspiel erlebt man die Vereinbarkeit von Urgewalt und Sinnlichkeit.

In Frage gestellt werden konnte heute allenfalls das dynamische Konzept Salonens, das vor allem bei Amériques die Schmerzgrenze der Laeiszhallenakustik aus- und überreizte – aber was hat man schließlich bei solch einem Berserker-Stück auch in Reihe 5 verloren. Wohlgemerkt: Die Verhältnisse und Kontraste der Lautstärken, bezogen auf den Aufbau der Komposition sowie die Konsequenz in der Umsetzung waren bestechend, nur vielleicht nicht ganz ohrgerecht für einen Saal dieser Bauart. Und das aus dem Munde eines unverbesserlichen Krawalljunkies wie mir!

Aber noch einmal: ob laut, ob leise, das Orchester ist eine Wucht. Schneidende Streicher, geschmeidig-agiles Holz, unerbittliches Schlagwerk, majestätisches Blech. Und immer wieder – Feinheiten. Allein die Wirkung der silbrig flüsternden Trompeten der Introduktion des zweiten Sacre-Teils, die Illusion einer fernen und doch sehr präsenten Klage schaffend – nur ein Beispiel unter vielen. Die Qualität des Vortrages machte den Abend besonders frustgesättigt, schließlich weckt solch hoher Besuch entsprechende Vorfreude und schürt Erwartungen, deren Eintreten heute einer Verschwendung gleichkam. Fazit: Dumm gelaufen.

PS: Wer immer noch glaubt, das erlauchte Klassikpublikum habe mit schnöden Erfindungen wie Fußball nichts am kulturell breitkrempigen Hut, hätte sich nach dem Konzert mal im Brahmsfoyer einfinden sollen. Sehr lustig und als Frustbewältigung besser geeignet als gedacht. Relativiertes Fazit: Zweimal ganz großes Kino mit britischer Beteiligung – London empfiehlt sich als Gast UND Gastgeber. Meine Hochachtung.