17. Dezember 2015

Hamburger Camerata – Gustav Frielinghaus. Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 11, Platz 1



Johan Sebastian Bach – Brandenburgisches Konzert Nr. 5 D-Dur BWV 1050
Géza Frid – Divertimento für Streichorchester op. 11
Johan Sebastian Bach – „Jauchzet Gott in allen Landen“ Kantate für Sopran, Trompete, Streicher und Basso continuo BWV 51

(Pause)

Antonín Dvorák – Romanze für Violine und Orchester f-Moll op. 11
Antonín Dvorák – Streicherserenade E-Dur op. 22
Zugabe: Franz Schubert – Salve Regina in A-Dur, D 676

(Gustav Frielinghaus – Violine und Leitung, Katharina Persicke – Sopran, Henrik Wiese – Flöte, Christoph Semmler – Trompete, Albrecht Schmid – Cembalo)



Was genau qualifiziert eigentlich ein Konzert zum „Festlichen Weihnachtskonzert“? Der Umstand, daß es kurz vor Weihnachten stattfindet? Ein besonders festliches Programm (wobei dann noch eine Definition für „festlich“ ausstünde)? Der beherzte Einsatz von Solotrompete, am besten in einem Stück von Bach – wenn sich schon aus kapazitären Gründen der Einsatz des beinahe obligatorischen Weihnachtsoratoriums verbietet? Ok, ok, blöde Frage, blöder Einstieg. War nur so eine Überlegung, ob es nicht vielleicht mal interessant wäre, ein solches Konzert derart programmatisch zu schnüren, daß es von einem roten Weihnachtsfaden ebenso ungewöhnlich wie zwingend – dabei gern auch festlich – zusammengehalten wird, wie man es von manch ambitionierten Konzeptionen der laufenden Saison kennt (vgl. „Song of Night“ (Link)).

Aber genug davon. Auf der Habenseite steht ein angenehmer Abend hoher musikalischer Güte, abwechslungsreich und stimmungsvoll. Die Hamburger Camerata zeigt sich einmal mehr als Klangkörper, dem man seine Ohren getrost anvertrauen darf. Einzig auf interpretatorische Feinheiten, wie sie mich noch im letzten Konzert begeisterten, musste heute in Ermangelung eines entsprechenden Gestalters am Pult verzichtet werden. Nicht, daß der Konzertmeister die Sache nicht zusammenzuhalten wußte, nur hätte die Ausführung insgesamt hier und da noch etwas nuancierter und somit spannender ausfallen können, gerade auch weil das Programm selbst eher konventionellen Charakters war.

Sämtliche Solisten zeigten eine tadellose Leistung, mir persönlich ist insbesondere das virtuose Spiel des Cembalisten während der Kadenz in soghafter Erinnerung geblieben. Frau Persicke besitzt eine schöne Stimme, deren Volumen und Timbre allerdings in einem Stück wie dem als krönende Zugabe gewählten Salve Regina mit seinen langen Bögen und innigen Momenten, der ganzen Anforderung an Phrasierung überhaupt, deutlich besser zur Geltung kommen, als im wendigen Koloraturgalopp der Kantate.

Fazit: Ende gut, alles gut. Auf ein musikalisches 2016!

6. Dezember 2015

Fidelio – Thomas Dorsch. Theater Lüneburg.

19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 15, Platz 7



Nachdem sich die erste Irritation über eine, sagen wir mal, gewöhnungsbedürftige Akustik gelegt hatte, die neben einigen Unsicherheiten die Wirkung der Ouvertüre doch arg minderte, sollte sich alles – dem Vorbild der Handlung gemäß – im Laufe des Abends doch noch zum Guten wenden.

Das Theater Lüneburg mag baulich nicht gerade das Opernhaus meiner Träume sein, die Beiträge der Mitwirkenden ließen diesen Abstecher in die Heide dennoch zu einer lohnenswerten Neuentdeckung im doppelten Sinne werden. Denn es galt nicht allein das Haus, sondern gleichermaßen das Werk kennenzulernen – stellte Fidelio doch bislang eine der prominentesten Bildungslücken in meinem Repertoire dar. Und ich muß es noch einmal betonen: Auf solche Weise ein Stück zum ersten Mal live präsentiert zu bekommen, ist schon ein erfreulicher Umstand (Ich denke mit Schaudern an den vermurksten Erst-Freischütz in Darmstadt zurück (Link)).

Unvergängliche Musik ist das eine, eine vernünftige Inszenierung aber ebenso dringlich für einen Abend, der im Gedächtnis bleibt – positiv wohlgemerkt. Zum Gegenteil reicht meist schon ein verhunzter Faktor aus. Keine Spur davon in Lüneburg. Die musikalische Seite war mit einer ordentlichen Orchesterleistung und gutem Ensemble mehr als brauchbar aufgestellt, hinzu kam eine ebenso reduzierte wie schlüssige Inszenierung, die den Kern des Werkes in einfachen, gleichsam vorbildlich fasslichen Bildern transportierte.

Die Geschehnisse auf einer vorgelagerten, den Orchestergraben bedeckenden Bühne spielen zu lassen, umringt von den Choristen, die gleichzeitig als Mitwirkende wie Zuschauer in Erscheinung traten, sorgte für eine interessante Fokussierung angesichts eines ansonsten weitgehend auf Requisiten verzichtenden Bühnenbildes. An einer Stelle wurde gar eine Zuschauerin in die Handlung integriert, indem sie der schwärmerischen Marzelline beim Zusammenlegen der Laken half – ob einstudiert oder nicht, eine schöne Idee, um stellvertretend die Zuschauer insgesamt (emotional) zu involvieren.

Und auch sonst überzeugte der kammerspielartige Zugang. Große Oper entsteht eben nicht immer aus der Größe der eingesetzten Mittel. Ein Bügelbrett und ein Korb mit Wäsche lassen die heimische Stube erstehen, zwei Leitern markieren den Raum, der den Inhaftierten für ihren Gang im Gefängnishof bleibt. In der Kerkerszene braucht es nur ein, zwei aufgestemmte Bretter der Bühne und den Einsatz einer Schaufel durch Rocco, um das beklemmende Ausheben des Grabes darzustellen. Dazu einfache, nicht historisierende Kleidung.

Auch wenn mancher diese Inszenierung auf den ersten Blick vorschnell als konservativ oder (zu) unambitioniert abtun könnte – sie ist es nicht, zeigt sich der Einfallsreichtum hier nur eher in Details und kleinen Gesten. Die Todesmasken der Wärter, Don Pizarro mit geschwärzten Augenhöhlen daran anknüpfend. Der buchstäblich an allen Vieren gefesselte Florestan, dessen letzte Fessel auch nach seiner Freilassung nur Leonore selbst zu lösen vermag. Wie den eben noch grimmigen Wachen Blumen als Friedenszeichen in die Gewehrläufe gesteckt werden. Kleine Taten mit großer Wirkung.

Eigentlich ein prima Fazit, aber jetzt habe ich doch die Musik ein wenig zu kurz kommen lassen. Vielleicht mehr noch als der überbordende Jubel des Finales haben mich die leisen Töne des Werkes von seiner Schönheit überzeugt. Der samtig-zarte Einsatz der Streicher in Verbindung mit dem versonnenen Beginn des Quartetts im 1. Akt durch die verliebte Marzelline entfaltete hier und heute eine geradezu betörende Wirkung, wobei sich die Liste derartiger Beispiele problemlos fortsetzen ließe. Jene ruhigen Stellen scheinen auch die Stärke des Herrn Dorsch zu sein, zumindest trat hier immer wieder eine besondere Qualität zum Vorschein, wo sich im Übrigen ein eher unauffällig dienlicher Eindruck ergab.

Von den Sängern möchte ich die beiden Damen besonders hervorheben, da jede auf ihre Art gerade in den bereits angesprochenen innigen Momenten der Partitur für die Höhepunkte an Ausdruck und Klangschönheit sorgten. Herr Kratz gab nicht nur mit stimmlicher Schwärze und Härte, sondern auch darstellerisch einen glaubhaft dämonischen Don Pizarro. Insgesamt wies das gesamte Ensemble keine wirkliche Schwachstelle auf, eine sehr ansprechende Gesamtleistung, zumal für ein Haus dieser Größenordnung.

Somit das eigentliche Fazit: Ganz im Geiste des schmucken Städtchens präsentiert sich auch sein Theater – Klein aber fein. Wiederholungsbesuche wohl mehr als wahrscheinlich.


Ludwig van Beethoven – Fidelio
Musikalische Leitung – Thomas Dorsch
Inszenierung – Hajo Fouquet
Bühnen- und Kostümbild – Stefan Rieckhoff
Dramaturgie – Friedrich von Mansberg

Don Fernando – Volker Tancke
Don Pizarro – Ulrich Kratz
Florestan – Karl Schneider
Leonore – Sonja Gornik
Rocco – Dariusz Niemirowicz
Marzelline – Franka Kraneis
Jaquino – Timo Rößner
Erster Gefangener – Alexander Panitsch
Zweiter Gefangener – Steffen Neutze

Haus- und Extrachor
Mitglieder des Jugendchores der Musikschule
Statisterie
Lüneburger Symphoniker

11. November 2015

Hamburger Camerata – Simon Gaudenz.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 13, Platz 12



Wolfgang Amadeus Mozart – Eine kleine Nachtmusik G-Dur KV 525
Ralph Vaughan Williams – The Lark Ascending für Violine und Orchester (Ning Feng)

(Pause)

Gustav Holst – A Song of the Night op. 19,1 für Violine und Orchester
Joseph Haydn – Sinfonie Nr. 95 c-Moll Hob. I:95



Manchmal lohnt eben doch ein zweiter Blick. Anders als bei dem eher durchwachsenen Auftritt im Juni (Link) wußte die Hamburger Camerata unter ihrem Chef Simon Gaudenz dieses Mal restlos zu überzeugen. Dabei gab es auf den Tag genau einen Monat nach der „Nachtmusik“ der Hamburger Symphoniker ein kleines thematisches Déjà-vu, diesmal unter dem Holst entlehnten Motto „Song of Night“. Glücklicherweise kann die Geschichte auf eine mittlerweile beachtliche Zahl an Nächten und, viel wichtiger noch, zumindest mehr oder minder gemäß diesem Sujet betitelter Werke zurückblicken, um genügend Stoff für so manches Programm derartiger Ausrichtung zu bieten.

Was kann es Ausgelutschteres geben als Mozarts orchestralen Weltgassenhauer, die kleine Nachtmusik? Umso verblüffender die Wirkung, die von der Darbietung dieses Staubfängers durch die Camerata ausging. Daß Herr Gaudenz ein großer Mozartfreund ist, hat er ja bereits bei meinem letzten Besuch Taten- und vor allem wortreich herausgestellt. Daß er der müden Klingeltonvorlage mit seiner knackigen und differenzierten Interpretation allerdings derart Begeisterndes entlocken würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Besser geht es wohl kaum. Spritzig und federnd, dabei ein besonderes Augenmerk auf der Ausgestaltung dynamischer Kontraste, mit dem Ergebnis entwaffnender Lebendigkeit und Frische – wenn die Floskel „als hätte man das Stück zum ersten Mal gehört“ jemals angebracht war, dann hier und heute.

So zwingend die Interpretation, so erlesen präsentierte sich der Klang der Camerata. Zarte, warme Streicher, geschmeidiges Holz, tadelloses Blech. In der Einführung kam Herr Gaudenz auf das Streben nach Vielseitigkeit, nach der richtigen klanglichen Umsetzung für Werke verschiedener Epochen zu sprechen. Das Konzert lies der Theorie gleichsam anschaulich wie vollendet Taten folgen. So war es eine Wonne, nach dem belebenden Mozart bei dem sich aus zartestem Nichts entwickelnden lieblich-romantischen Idyll aus der Feder Vaughan Williams’ gewissermaßen eine zweite Camerata zu entdecken. Welch ein Pianissimo! Und auch hier: ein ausgenommen feiner Streicherklang, allerdings dem Stück gemäß in gänzlich anderer Farbgebung. Überhaupt verblüffend, wie die im Vergleich zu einem „ausgewachsenen“ Sinfonieorchester reduzierte Anzahl Musiker in der Folge den typisch satten, spätromantischen Sound fortspann, mit dem Vorteil, Transparenz und Durchhörbarkeit angesichts jener Besetzung nie einzubüßen.

Bei der Wahl des Solisten hat man heute mit Ning Feng ein besonders glückliches Händchen bewiesen. Sein warmer, von lupenreiner Intonation geprägter Stil, krönte die sensible, feinsinnige Darbietung des Orchesters. Ist schon eine ganze Weile her, daß ich mich so uneingeschränkt am Spiel eines mir bis dato unbekannten Geigers erfreut habe. Ning Fengs Vielseitigkeit schloß dabei nahtlos an die unausgesprochene Maxime des Konzerts an – von den hauchzarten Girlanden der aufsteigenden Lerche zum eher klassisch konzertierenden, dabei wunderbar gesanglichen Part in Holsts Nachtstück. Für dessen Aufnahme ins Programm ich mich noch besonders bei den Verantwortlichen der Camerata bedanken möchte. Wer Holst sagt, muss eben nicht immer auch „Planets“ sagen. Eine meiner Lieblingskompositionen des Briten – Egdon Heath – wäre vielleicht auch etwas für zukünftige Planungen. Ebenso wie „A Song of the Night“ eine fragile, zudem verwunschene Angelegenheit, die ich nach der heutigen Leistung in besten Händen wüßte.

Generell hat das Konzert wieder einmal gezeigt, wie wichtig eine ausgewogene Programmgestaltung doch für die Aufnahme der einzelnen Bestandteile ist. Der Haydn bot so als Klammer den perfekten Abschluß für eine Folge, die eben nicht allein aus den bekannten Kammermusik-Hausgöttern bestand, sondern gerade von den spannenden musikgeschichtlichen Kontrasten lebte. Keine Monokultur, sondern Erkenntnis- und Aufmerksamkeitsgewinn durch sich stetig neu ergebende Bezüge historischer Entwicklungen, Gegensätze und Gemeinsamkeiten. Wobei dieses Vorgehen gerade auch die „Evergreens“ strahlen läßt, wie ich als bekanntermaßen eher neuzeitlich orientierter Musikfreund meiner heutigen Begeisterung für die Herren Mozart und Haydn entnehmen konnte.

Fazit: Getreu dem Motto „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“ nehme ich vorbehaltlich mal meine Skepsis zurück und möchte diesmal mit einem weitaus hoffnungsvolleren Ausblick schließen – wer diese Qualität abzurufen imstande ist, dem sollte seine Zukunft jedenfalls keine Sorgen bereiten dürfen. Das wäre nach diesem Abend, oder, um im Bild zu bleiben, dieser Nacht, jedenfalls eine Schande.

7. November 2015

Peter Grimes – Markus Poschner.
Theater Bremen.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 13
















Das Theater Bremen nimmt durch eine Reihe musikalischer wie inszenatorischer Ausnahmeleistungen in den letzten Jahren bei mir einen besonderen Stellenwert ein – heute mußte ich allerdings schweren Herzens zur Kenntnis nehmen, daß jede Serie einmal ihr Ende findet. Dieser Peter Grimes ist nicht meiner, und das hat gleich mehrere Gründe.

Die Inszenierung ist beileibe keine unreflektierte, geschweige denn uninteressante, jedoch nimmt die Regie mit ihrer Sicht auf Grimes eine Interpretation des Titelcharakters vor, die zum einen eine sehr einseitige Lesart der Geschehnisse nach sich zieht und dadurch die Tragik der Ereignisse für mich eher simplifiziert. Das Konzept, nachdem die Handlung als verzerrte Wahrnehmung Grimes’ gedeutet wird, der als sensibler, träumerischer Außenseiter keinen Zugang zu den Konventionen der ihn umgebenden Gesellschaft findet, wird zwar stimmig und konsequent verfolgt, unterschlägt jedoch gerade die Ambivalenz, die den Fischer in Brittens Werk auszeichnet.

Die Frage nach Ursache und Wirkung drängt sich auf. Was hat Grimes so verbittert, so schroff und abweisend werden lassen, wo er doch untrüglich auch eine andere Seite besitzt, wie man in den berührenden Szenen seines philosophischen Monologs in der sturmumtosten Kneipe („Now the Great Bear and Pleiades ...“) oder seiner von lieblicher Musik umspielten Vision eines Familienlebens („In dreams I’ve built myself some kindlier home ...“) erfährt? Diesen Charakter allein auf die Facette „Träumer“ zu reduzieren, birgt die Gefahr, den Begriff – wenn man gemein ist – auch einfach durch „Spinner“ ersetzen zu können. „Selbst schuld“ könnte man kalt resümieren – war ja klar, daß so jemand nicht mit der harten Realität seines Umfelds klarkommt. Der „Ausweg“ des Selbstmords ist hier selbst gewählt, Balstrodes „Ratschlag“ kommt aus Grimes’ Munde, weder Ellen noch der Kapitän sind anwesend, als Peter diese Entscheidung für sich trifft.

Ist es nicht ungleich erschütternder, dem Scheitern eines Mannes beizuwohnen, der eigentlich Kraft seiner zupackenden, stoischen Art geradezu prädestiniert für den (wirtschaftlichen) Erfolg in dieser rauen Wirklichkeit der Menschen am Meer gewesen sein müsste? Der eigentlich der größte Fischer von allen hätte sein können, ja hätte man ihn gelassen, wäre er gerade wegen seiner Ambivalenz nicht auf solche Ablehnung bei den schlichten, braven Bürgern gestoßen. Grimes geht nicht zimperlich mit seinen Lehrjungen um, soviel steht fest. Man könnte ihn wohl einen Choleriker nennen, in jedem Fall einen von Ungeduld getriebenen. Vielleicht nicht die ideale Fürsorgeperson. Die genauen Todesumstände des ersten Lehrjungen bleiben im Dunkel, wahrscheinlich hat er ihm zuviel zugemutet.

Die eigentliche Tragik speist sich jedoch aus der Reaktion der Gemeinschaft, die viel mehr an seinem Scheitern, seiner Verfehlung interessiert ist, als dem Hilfebedürftigen – wie es sich doch für barmherzige Christenmenschen gehört – die Hand zu reichen, um zukünftiges Unheil abzuwenden. Die versagte Hilfe der Dorfbewohner beim Festmachen des Bootes gleich zu Beginn des ersten Aktes zeigt dies unmißverständlich. Versagte Hilfe. Zudem Versagen der Helfenden. Auch hier geht es nicht um einfache Mechanismen der Schuld oder Schuldzuweisungen. Ellen und Balstrode sind ebenso wahre Freunde, wie auch sie unter dem gesellschaftlichen Druck letztlich scheitern, den Freund fallen lassen.

Was kann es Schlimmeres geben als die Entwicklung des von beiden unisono postulierten „We shall be there with him“ zur Aufforderung Balstrodes in Anwesenheit Ellens, sich mit dem Boot selbst zu versenken? Er hätte auch noch ein „Es ist so für alle das Beste“ ergänzen können, der Gedanke wird seinen „guten Rat“ geleitet haben. Daß sich all dies nur im Kopf eines sich ausgestoßen Fühlenden abgespielt haben soll, nimmt meiner Ansicht nach eine Menge von der Wucht und Brisanz der ganzen Verkettung. Tragisch ist auch diese Version, ohne Zweifel, aber die Frage danach, welche Wechselwirkung zwischen Gesellschaft, besser noch einer (vorgeblichen) Gemeinschaft und einem Individuum herrscht, welches eben nicht völlig außer ihr, sondern nur einen Schritt zu weit von ihr entfernt steht, erscheinen mir ungleich mehr Material zum Nachdenken zu bieten als die traurige Geschichte „Peter Grimes kommt nicht klar“.

Doch auch wenn ich gewillt wäre, mich auf diese Interpretation der Regie einzulassen, funktioniert die Inszenierung für mich nur bedingt. Es gibt starke Bilder, wie das auf dem Wasser treibende, provisorische Haus als Ausdruck für Peters halt- und hilflosen Seelenzustand. Eine fragile Verbindung zum Ideal des „Home“, dessen letzter Rest schließlich auch von den Flammen verschlungen wird, ihn vollends entwurzelt zurücklässt. Gleichzeitig beraubt jene Fixierung auf dieses eine, wenn auch variantenreich eingesetzte Ausstattungsmerkmal das Bühnenbild mehr oder weniger seiner strukturierenden, gliedernden Funktion der einzelnen Orte und Stimmungen der Handlung – eine gewisse Monotonie macht sich breit, wo doch gerade diese Oper auch von den Kontrastwirkungen der Szenenfolge lebt, die häufig mit den musikalischen Kontrasten einhergehen.

Aber auch innerhalb einer Episode wie den Geschehnissen in der Kneipe während des Sturms hätte ich mir insgesamt einfach mehr szenisches Handwerk gewünscht. Die äußere Bedrohung durch das Unwetter, das Ablenkung und Zerstreuung suchende Treiben der Dorfbewohner, der darin fast entrückt anmutende Auftritt Grimes’ – all die Feinheiten und Reibungen gehen in der Abstraktion dieser Inszenierung nahezu unter, die ihr Hauptaugenmerk auf die Visualisierung der grotesk verzerrten Wahrnehmung des Protagonisten legt.

Auch hier bleibe ich dabei: das wirklich Groteske speist sich weniger aus einem fratzenhaften, albtraumhaften Auftreten der Dorfbewohner, als vielmehr aus den Gedanken, Worten und Taten, die den braven Hirnen, frommen Mündern und rechtschaffenen Händen dieser durch und durch normalen, einfachen Leute entstammen. Kein Spuk, kein Voodoo, kein böser Zauber, sondern der gute alte Dorftratsch und das ewig verlockende Prinzip des Sündenbocks, der die eigenen großen und kleinen Schwächen zumindest für den Moment zu verscharren vermag.

Und ja, die karikaturhafte Zeichnung der Meute und Solisten, ihre Untoten gleich geschminkten Gesichter, ihre exaltierten Gesten, sind innerhalb des beschriebenen Konzeptes ebenfalls plausibel, nur evozieren sie neben dem Eindruck des Unwirklichen, Unbehaglichen oft auch einfach nur Momente (unfreiwilliger?) Komik. Albträume sind oft rätselhaft, bizarr – Der Albtraum, den Peter Grimes meiner Ansicht nach durchlebt, zieht seinen Schrecken aus der stumpfen, kalten Normalität eines unbarmherzigen Gefüges. Wobei es natürlich durchaus Aufgabe der Regie sein muß, Inhaltliches in Bildern, als Interpretation oder auch Kommentar zu behandeln. Am Ende liegt es nun mal immer auch an einem selbst, ob und wie ein gewähltes Mittel Wirkung zeigt. Während sich die Stimmen der vier Frauen zu ihrem engelhaft wehmütigen Gesang über das Wesen der Männer vereinen, sehen wir, wie sich in der oberen Kammer des Hauses die vier Abbilder des/der Schiffsjungen gegenseitig erwürgen. Natürlich ist davon bei Slater und Britten nichts zu finden, trotzdem trifft es für mich den Kern dieser Szene.

Abgesehen davon, welchen Anteil die Inszenierung an meiner unerwartet reservierten Reaktion auf diese Produktion hatte, steht außer Frage, daß ich auch musikalisch heute nur bedingt angefasst wurde – ein Umstand, der mich angesichts der Verehrung und tief empfundenen Nähe, die seit jeher mein Verhältnis zu diesem Werk bestimmen, dieses Mal etwas ratlos zurückgelassen hat. Sicher ist ein Faktor dafür in der Besetzung der Titelfigur zu finden. Chris Lysack verfügt zwar technisch über jene Lyrik, die gerade in den zerbrechlichen Schlüsselstellen der Partie unabdingbar ist, berührt mich stimmcharakterlich allerdings leider nicht im Geringsten. Ich erkenne die Noten wieder, das Stück jedoch nicht. Besondere krass und frustrierend im letzten Monolog Grimes’, der mich jedesmal aufs Neue ins Mark trifft – und heute rein gar nichts in mir auslöste. Kein Mitgefühl, keine Trauer, keine Verzweiflung – nur Leere, Hohlheit. Ich möchte Herrn Lysack nicht absprechen, ein guter, vielleicht auch sehr guter Sänger zu sein, den Nachweis zur Eignung als (Stimm)Charakterdarsteller ist er heute zumindest in dieser Rolle schuldig geblieben.

Dabei bot die übrige Besetzung ein vielversprechendes Fundament – wenn ich jemanden besonders hervorheben müsste, dann wahrscheinlich Jason Cox, der als schmierig-hinterlistiger Ned Keene vor allem darstellerisch für pointierte Momente sorgte, und Loren Lang in der Rolle des Kapitäns. Jener verpasste zwar seinen Einsatz beim „We live and let live“, strahlte ansonsten aber stimmlich die Autorität aus, wie sie von dem alten Seebären ausgehen sollte. Wirklich getragen wurde der Abend hingegen von der beherzten Leistung des Chores, der als Kollektiv den heimlichen Hauptdarsteller stellte.

Von Markus Poschner halte ich eine Menge. Seit seiner Lady Macbeth an der Komischen Oper 2007, die den Begriff Raserei quasi neu definierte, durfte ich in Bremen bei Rosenkavalier und Mahagonny unter seiner Stabführung jeweils in jeder Hinsicht Vollendetem beiwohnen. Diesmal sprang der Funke leider nicht so über, obwohl es an Orchesterleistung und Dirigat insgesamt kaum etwas auszusetzen gab. Die Bremer Philharmoniker besitzen einen wirklich farb- und facettenreichen Klang und ihr GMD weiß diesen auch einzusetzen. Vielleicht stand mir heute einfach zu viel im Weg, um mich auf die Musik einlassen zu können.

Fazit: Wenn Herzensangelegenheiten nicht zu Herzen gehen, ist das dumm gelaufen. Objektiv gesehen war der Abend sicher nicht so schlecht, wie ich hier vermittelt habe – aber Objektivität ist nun mal nicht mein Thema. Ein vertaner Abend war es in keinem Fall, und wenn an seinem Ende lediglich aufs Neue die Erkenntnis steht, welch vielschichtiges Wunder Britten mit dieser Oper doch gelungen ist.


Benjamin Britten – Peter Grimes
Musikalische Leitung – Markus Poschner
Regie – Marco Štorman
Bühne – Dominik Steinmann / Anna Rudolph
Kostüme – Sara Schwartz
Musik – Daniel Mayr
Licht – Chris Moos
Dramaturgie – Laura Schmidt

Peter Grimes, ein Fischer – Chris Lysack
John, Grimes’ Lehrjunge – Jakob von Borries, Arne Duprée, Jakob Schade, Ben Wiese
Ellen Orford, eine verwitwete Lehrerin – Patricia Andress
Balstrode, ein pensionierter Kapitän – Loren Lang
Auntie, eine Wirtin – Nathalie Mittelbach
Erste Nichte – Iryna Dziashko
Zweite Nichte – Francisca Prudencio
Bob Boles, Methodist und Dorfprediger – Christian-Andreas Engelhardt
Swallow, Bürgermeister und Rechtsanwalt – Patrick Zielke
Mrs. Sedley, wohlhabende Witwe – Melody Wilson
Horace Adams, Pfarrer – Luis Olivares Sandoval
Ned Keene, Apotheker und Quacksalber – Jason Cox
Hobson, ein Fuhrmann – Christoph Heinrich
Dr. Crabbe – Allan Parkes

Chor des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker

11. Oktober 2015

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 11, Platz 15



Wolfgang Amadeus Mozart – Serenade Nr. 6 D-Dur „Serenata Notturna“ KV 239
Benjamin Britten – Serenade für Tenor, Horn und Streichorchester op. 31 (Toby Spence für John Mark Ainsley – Tenor, Alessio Allegrini – Horn)

(Pause)

Frederick Delius – Summer Night on the River
Claude Debussy – Trois Nocturnes L 91 (Damenchor Hamburg)



Was würde ich nur ohne Jeffrey Tate in Hamburg machen? Weniger Konzerte erleben, die dem heute wieder eindrucksvoll eingelösten Anspruch an konzeptionelle Geschlossenheit und Qualität gerecht werden, wahrscheinlich. Allein die Kombination von Stücken, die das Thema „Nacht“ in Titel oder Inhalt tragen, mag keine Atomphysik sein, es kommt aber eben auf Wahl und vielmehr noch Abfolge an, um aus einer blumigen Programmüberschrift ein wahrlich traumhaftes Programm abzuleiten. „Facetten der Nacht“ hätte es auch benannt sein können. Von Mozarts unbeschwertem Tänzchen zu später Stunde über Brittens nächtliche Seelenwanderung und Delius’ Idyll zu Debussys flüchtigen Traumwelten – das war schon eine ganz besondere akustische Reise.

Da fällt auch der Umstand, daß ich mich mit dem Einspringer-Sänger für Brittens Serenade nicht uneingeschränkt anfreunden konnte, nicht so schwer ins Gewicht. Herr Spence macht seine Sache gut, verfügt meiner Ansicht nach aber nicht über die stimmcharakterlichen Feinheiten, um das illustrativ-dramaturgische Potenzial der Vorlage auszuschöpfen und seine verschiedenen Stimmungen über den Notentext hinaus zu übertragen. Zudem hatte ich den Eindruck, daß der Sänger teilweise kämpfen mußte, um bei dynamischen Spitzen gegen das Orchester bestehen zu können, etwa im fünften Teil „Dirge“, der Spence ohrenscheinlich an seine Grenzen brachte.

Eingebettet in den himmlischen Streicherklang der Symphoniker, begleitet durch das samtene Spiel Alessio Allegrinis, spielte der Gesang heute vielleicht nicht die herausragende Rolle, wie sie ihm Kraft Brittens Eingebung gebührt, seine betörende Wirkung konnte die Serenade unter der delikaten Stabführung Tates jedoch ohne Weiteres entfalten. Eine bestimmte Atmosphäre zu generieren, liegt dem Maestro wie kaum einem anderen. Vor allem das flüchtig Zarte, das organisch Fließende wird unter seinen fein justierenden Händen zum Ereignis. Den Hörer nicht mit Effekthascherei blenden, sondern mit subtilsten Schwebezuständen umschmeicheln und verzücken.

Wobei Wollen und Können ja nicht unbedingt immer Hand in Hand gehen – wie gut, daß sich bei den Hamburger Symphonikern diese Ungewissheit vollends erübrigt hat. Ganz gleich, ob es darum geht, neue Werke kennenzulernen oder die Liebe zu Altbekanntem aufzufrischen, wird man von diesem Orchester und seinem Chefdirigenten wohl kaum enttäuscht werden. Das Gegenteil ist mittlerweile ganz und gar nicht routinierte Routine geworden. Ich freue mich auf die nächsten gemeinsamen Entdeckungsreisen.

26. September 2015

Konzerthausorchester Berlin – Andrey Boreyko.
Konzerthaus Berlin.

20:00 Uhr, 1. Rang links, Reihe 1, Platz 28



Max Bruch – Violinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 26 (Vadim Gluzman)

Zugabe: Max Bruch – Romanze für Viola und Orchester op. 85

(Pause)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 5 cis-Moll



Das war ein ganz nettes, ausgedehntes Geburtstagsständchen, welches mir hier im mich feierlich umgüldenden Saal des Konzerthauses gegeben wurde. Da möchte man natürlich nicht undankbar sein, auch wenn es nicht die erhoffte Sternstunde wurde. Erhofft vielleicht, erwartet ehrlicherweise nicht wirklich. Herrn Boreyko kenne ich noch aus Hamburger Zeiten, als die Symphoniker sich unter seiner Stabführung auf dem Weg in die erste Liga noch ein gutes Stück von selbiger und dem Platz, den sie mittlerweile in meinem Herzen erobert haben, entfernt sahen. Das heutige Konzert bestätigt meinen damaligen Eindruck: Boreyko liefert ordentlich, aber eben nicht außerordentlich.

Zum einen liegen unsere Vorstellungen von Timing offenbar weit auseinander. So verpuffte beispielsweise der antizipierte Alpensinfonie-Höhepunkt im Violinkonzert, weil er verfrüht und seltsam hastig eintrat. Überhaupt kam das Bruchsche Stück vom Kuchen musikalischer Weltgeltung wenig opulent und schmackhaft daher, woran sicher auch der spröde Ton des Solisten seinen Anteil hatte. Zum anderen offenbarte gerade die Mahler-Sinfonie kaum eigene Handschrift, die Boreyko über das Gros braver Taktgeber erheben würde. Oder, um mal einen etwas gemeinen Vergleich anzustrengen: Breite Tempi allein machen noch keinen Tate.

Sicher, diese großartige Sinfonie ist nahezu unverwüstlich und beeindruckte und verzauberte auch heute wieder Kraft ihrer genialen Faktur – ich kann allerdings nicht vermelden, daß die Lesart des Dirigenten viel dazu beigetragen hätte. Für ein erstes Kennenlernen der Materie vielleicht in Ordnung, wenn man allerdings darum weiß, wohin es emotional führen kann, wenn zum Beispiel ein wenig mehr an den Kontrastreglern gedreht wird, bleibt ein Bodensatz Enttäuschung zurück.

Das Konzerthausorchester seinerseits konnte wenig in die Verbindung einbringen, das über solides Handwerk mit den üblichen kleineren Schwächen hinausgegangen wäre. So wollte angesichts eines eher matten, trockenen Streicherklanges kein wirklicher Adagietto-Schmelz aufkommen, überhaupt schienen mir Violinen und Co. in den übrigen Sätzen wenig präsent – vom Ausdruck her und auch rein akustisch. Alles in allem vom Orchester insgesamt jedoch schon eine brauchbare Darbietung, bei der eine weniger gedehnte, sondern eher knackige Herangehensweise dem herben Charme des Klangkörpers wahrscheinlich mehr entsprochen hätte.

Am Schluss noch ein Wort zu Bruch, der mir wie jedem anderen Kuschelklassik-Hörer einzig durch eben jenes Violinkonzert ein Begriff war, unter dessen Ausnahmebeliebtheit sein Erschaffer so gelitten haben soll. Falls dem Herrn Tonsetzer damit tatsächlich ein Unrecht widerfahren ist, sucht man die Belege dafür zumindest in seiner „Romanze“ vergeblich – ein besonders hübsches Beispiel gefälliger Harmlosigkeit. Von solcherlei Zugaben bitte in Zukunft absehen, dann doch lieber die obligatorische Bach-Sarabande. Schnarch.

21. August 2015

Orgelkonzert – Søren Chr. Vestergard. Trinitatis Kirche Kopenhagen.

12:00 Uhr, Freie Platzwahl

Dietrich Buxtehude – Präludium in C (BuxWV 136)
Carl Nielsen – Min Jesus lad mit hjerte få, Variationen aus Kvintet, op. 43 (arr. Jørgen Ellegård Frederiksen)
Girolamo Frescobaldi – Pertite soopra la monica
Johann Jacob Froberger – Fantasia sopra ut, re, mi, fa, sol, la
Johann Kasper Kerll – Cappricio il cucu
Gottfried Matthison-Hansen – Fantasi over „Jeg ved et evigt himmering“, op. 33

26. Juli 2015

Klavierabend – Grigory Sokolov.
Kieler Schloss.

19:00 Uhr, Parkett links, Block A, Reihe 1, Platz 1



Johann Sebastian Bach – Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825
Ludwig van Beethoven – Sonate D-Dur op. 10, Nr. 3

(Pause)

Franz Schubert – Sonate a-Moll op. 143 D 784
Franz Schubert – Moments musicaux op. 94 D 780

6 Zugaben:
Frédéric Chopin: Auswahl von vier Mazurken
Frédéric Chopin: Prélude Des-Dur op. 28/15 «Regentropfen-Prélude»
???



Was soll man groß über Perfektion schreiben? Ebenso wie der Meister selbst sich vollkommen auf den Vortrag konzentriert, jede überflüssige Geste meidet, möchte ich es nach meinen letzten Elogen (Link und Link) bei wenigen Worten belassen: Sokolov ist der Beste. Die Kontrastwirkungen, die er aus seinem konkurrenzlos differenzierten Anschlag schöpft, sind erschütternd. Die Ernsthaftigkeit und Tiefe, bei dem gleichzeitig vermittelten Eindruck von Selbstverständlichkeit, verleihen seinen Interpretationen trotz aller Eigenwilligkeit etwas Unantastbares. Sein unwiderstehlich perlender Bach stimuliert den Geist, sein Beethoven kontrastiert das Bild des titanischen Zertrümmerers mit beinahe schmerzhafter Verletzlichkeit. Das allzu bekannte Regentropfen-Prélude als Zugabe ist bei ihm kein kalkuliertes Rührstück, ersteht vor unseren Ohren wie zum ersten und einzig richtigen Mal, trifft unter seinem kontrolliert verlöschenden Vortrag mehr ins Herz als jedes sentimentale Forcieren. Kurz: Wann immer sich eine Gelegenheit bietet, Sokolov zu hören – man sollte sie wahrnehmen. Näher wird man der Musik, ihrem Wesen, an anderer Stelle kaum gelangen.

11. Juli 2015

Der Freischütz – Marc Piollet.
Staatstheater Darmstadt.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 70


Da dachte ich: Wo Du grad in der Gegend bist, fährste mal nach Darmstadt und schaust Dir endlich einen Freischütz an. Tja, leider wird diese peinliche Bildungslücke in meiner Vita vorerst weiter bestehen, da Frau Höckmayr in Darmstadt nicht Willens war, einen Freischütz auf die Bühne zu bringen. Oder sagen wir mal mehr als ein Stück Therapietheater frei nach Webers Freischütz. Ziemlich schade das, steht doch die musikalische Güte dieses Abends vollkommen außer Frage. Blöd nur, wenn man dem Werk und seiner Musik offenbar nicht vertraut und lieber sein eigenes Süppchen kochen möchte. Oder vielmehr ein Psycho-Gulasch aus dem Freischütz Kinds und Webers und der Vorlage von Apel. 

Klar kann ich verstehen, daß man nach der x-ten, in braver Repertoirepflege gegossenen Freikugel mal eine neue Legierung probieren möchte – nur sollte diese dann auch treffen. Man kann ja gern hübsch artig seine Sekundärliteratur wälzen und schlaue Dinge über Werk und Entstehung ausgraben, welchem ernsthaften Musikfreund machte dies keinen Spaß. Als Regisseur sollte man allerdings, so schwer dies auch fallen mag, die Freude über seine spannenden Entdeckungen im Interesse aller Beteiligten tunlichst kanalisieren und nicht dazu verwenden, den eigentlichen Gegenstand der Betrachtungen bis zur Unkenntlichkeit zuzustellen. Es ist nämlich kein Geheimnis, daß Ließchen Müller eh nichts davon durchholt und selbst interpretationszugängliche Zeitgenossen im Zweifel die Oper sehen wollen, die auf dem Ticket ausgewiesen steht. Aber vielleicht bin ich als Freischütz-Jungfrau ja auch auf dem Holzweg.

Ist die Dramaturgie von Kind tatsächlich so mies, daß es all dies Soundbrimborium, das Atmogesäusel aus David Lynchs Papierkorb und die bedeutungsschwangeren „Textcollagen“ braucht? Ist ja schön und gut, daß die Vorlage ein anders, offenkundig diffuseres Licht auf die handelnden Personen wirft, aber könnte es nicht sein, daß Weber und Kind sich etwas bei ihrer Einrichtung für die Bühne gedacht haben? Was ist so falsch daran, mit einer klaren Gut/Böse-Konstellation zu arbeiten – ungeachtet der Erkenntnis, daß es sich dabei um zwei mehr ersehnte und verwünschte als in der Realität eindeutig trennbar anzutreffende Zustände handelt?

Die verwirrende, durch permanente, fragmentarische Vermischung der verschiedenen Textquellen und -Ebenen evozierte (Pseudo-)Ambivalenz, die dem Stück durch die Regie übergestülpt wurde, führt weniger zu der wohl beabsichtigten differenzierteren Seelenschau, sondern unterbindet in erster Linie den Fluß der Handlung, ja verschleiert diese regelrecht und weicht insbesondere den inneren Konflikt des Bräutigams in spe sogar auf. Ok, Max ist also nicht allein die von Selbstzweifeln geplagte gute Seele, sondern ein ziemlicher Waschlappen, der immerzu Stimmen hört und auch sonst seinem Gebaren nach besser von Schusswaffen ferngehalten werden sollte. Ach komm, geben wir noch einen obendrauf – machen wir einen Kriegsverbrecher aus ihm!

Die arme Agathe, obwohl, so richtig rund läuft das Mädel auch nicht, fragt in bester „Wir müssen mal drüber reden“-Beziehungsdrama-Peinlichkeit, wiederholt ob sie Max gefällt und scheint angesichts ihrer psychischen Konstitution auch eher der Zwangsjacke als dem Brautkleid zuzustreben. Ein schönes Paar! Aber eigentlich hat hier eh niemand alle Latten am Jägerzaun, zumindest suggeriert das die verworrene, schubweise „Erzählweise“. Da möchte man sich beinahe auf die Seite Kaspars schlagen, damit es endlich ein Ende mit dem Genöle des Psychopärchens hat.

Dem Carsen in Wiesbaden hatte ich ja nahegelegt, lieber Opernfilme zu drehen, vielleicht sollte es Frau Höckmayr mit Hörspielen versuchen. Freischütz, das Hörbuch, oder: Was Sie sich schon immer nie über dieses Werk gefragt haben – hier wird es ausgesprochen. Und das gleich mehrfach! Monologisiert wird wirklich viel, gern auch da, wo man vielleicht besser mal etwas altmodischen Bühnenzauber bemüht hätte – die Wolfsschluchtszene ist der Gipfelpunkt dieser Offtext-Orgie. Was gibt es spannenderes auf einer Opernbühne, als eine unglaublich atmosphärische, stimmungsvolle Szene einfach nur erzählt zu bekommen, eben so ganz OHNE Atmosphäre und Stimmung! Wie gesagt, nicht mal gesungen, nein, in dröger Litanei ins Auditorium geraunt, gewissermaßen als innerer Film Agathes, die ihrem Schatzi (gedanklich) als Stalker beim Freikugelritual nachsteigt, das in etwa so fesselnd ausfällt wie Bleigießen zu Sylvester. Schade um Webers im doppelten Sinne fantastische Musik, über die brutal hinweggelabert wird.

Die Musik, ach ja, da war ja was – wir befinden uns ja nach wie vor in einer, wie ich mir habe sagen lassen, recht bekannten und beliebten Oper. Zumindest sind mir die musikalischen Gründe für diese ungebrochene Beliebtheit trotz aller Sabotageversuche durch die Regie nicht verborgen geblieben. Oder anders ausgedrückt: Das Staatstheater Darmstadt hat es durchaus drauf! Wohlige Klänge entsteigen bereits mit der wunderbar kontrastreich vorgetragenen Ouvertüre dem Orchestergraben, Klangkörper, Dirigat und Akustik befinden sich auf hohem Niveau, das ist sofort klar. Auch im Folgenden steht das musikalische Vermögen turmhoch über der szenischen Umsetzung.

Diese Diskrepanz wird an den Sängern, die in diesem kleinen Fernsehspiel für Arme agieren müssen, auf besonders tragische Weise deutlich. So unsympathisch jammerlappig Mark Adler auch in seiner Rolle wirkt, so ungetrübt ist sein musikalischer Beitrag. Susanne Serfling gibt stimmlich eine wundervolle Agathe, gerade intime Szenen wie das bekannte „Leise, leise ...“, das ich heute ebenfalls zum ersten Mal hörte, wurden zu stillen Triumphen des Abends. Frau Serflings Stimme besitzt nicht allein eine schöne, warme Färbung, sondern bringt genau die innige Pianoqualität mit, die den Zuhörer berührt. Auch die anderen Ensemblemitglieder hätte ich gern in einer vernünftigen Produktion kennengelernt, so bleibt letztendlich nur die Ahnung von Größe in kleinlichem Gewande.

Fazit: Trotz aller dramaturgischen Entstellungen macht diese Musik Lust auf mehr. Mehr Weber, mehr Freischütz, mehr Musiktheater!


Carl Maria von Weber – Der Freischütz
Musikalische Leitung – Marc Piollet
Inszenierung – Eva Maria Höckmayr
Bühne und Kostüm – Julia Rösler
Video und Komposition – Martin Baumgartner
Dramaturgie – Mark Schachtsiek
Einstudierung Chor – Thomas Eitler-de Lind
Einstudierung Kinderchor – Ines Kaun

Der Ahnherr (Ottokar) – David Pichlmaier
Kuno, kurfürstlicher Erbförster – Thomas Mehnert
Agathe, seine Tochter – Susanne Serfling
Ännchen, eine junge Verwandte – Jana Baumeister
Kaspar, erster Jägerbursche – Renatus Mészár
Max, zweiter Jägerbursche – Mark Adler
Die Autorität im Dorf (Akt I und II – Samiel) – Andreas Wellano
Die Autorität im Dorf (Akt I und II – Eremit) – Stefan Bootz
Kilian, ein reicher Bauer – Andreas Wagner
Brautjungfern – Kinderchor des Staatstheaters Darmstadt (Julia Degenhardt, Thekla Gerspach, Amelie Gorzellik, Lea Hammerschmidt, Emilie Heinz, Iris Kißner, Kara Saliger, Elisabeth Schäffter, Violetta Schreider, Larissa Seibel, Marie-Luise Stephan, Meike Suszka)
Erster fürstlicher Jäger, Sprechrolle – Malte Godglück
Zweiter fürstlicher Jäger, Sprechrolle – Tom Schmidt
Ein Freund Kunos – Horst Rosenfeld

Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Statisterie des Staatstheaters Darmstadt
Staatsorchester Darmstadt

10. Juli 2015

Der Ferne Klang – Dan Ettinger.
Nationaltheater Mannheim.

19:30 Uhr, Parkett Aufgang B, Reihe 10, Platz 19


Das Nationaltheater Mannheim mag den architektonischen Charme bundesdeutscher Parkhäuser versprühen – in seinem Inneren spielen sich durchaus sehens- und hörenswerte Dinge ab. Erhebt man sich aus seinem Barcelona-Chair und durchmisst das imposante Flugterminal-Foyer Richtung Zuschauerraum, findet man nach dem Aufstieg durch leicht muffige Korridore einen zwar von an Feuerleitern erinnernden, zu den Logen führenden Treppen umklammerten, aber akustisch überraschend ausgewogenen Saal vor. Ein bisschen trocken vielleicht – wenn man nett ist, könnte man auch „objektiv“ sagen – aber gerade angesichts der Dimensionen ziemlich differenziert ohne Homogenität einzubüßen. Das klingt schon alles mehr als ordentlich, was da den auf seinem Sitz, Modell Klappspaten, lauschenden Besucher umschallt.

Es flirrt und glitzert, es rauscht und schwillt, wie es sich für die Schreker’sche Zauberharfe gehört, die der Tonsetzer in dieser Oper gleich praktischerweise mit zum Gegenstand der Handlung erkoren hat. Die Suche nach jenem fernen Klang, die tongewordene Sehnsucht, Musik über das Streben nach der perfekt tönenden Farbe – die autobiographische Nähe zum Oeuvre des Verfassers selbst könnte wohl kaum enger sein. Und doch geht es um mehr als Fritz/Franz und seine wunderliche Suche, die uns ja auch nur am Anfang und Ende der Oper tatsächlich beschäftigt, im Zentrum der Oper steht das Schicksal Gretes, der von ihm Verlassenen.

Cornelia Ptassek füllt diese Rolle mit der nötigen Bühnenpräsenz und jugendlicher, weicher Stimme ohne störende Schärfe aus. Oft ist es ja nur ein Blick oder eine Geste, die zwischen hölzernem und lebendigem Spiel unterscheidet, gerade bei dieser Figur ist es ungemein wichtig, dass man die wechselvollen Stationen ihres Lebens mit Anteilnahme verfolgt. Ein besonders gelungener Moment ist mir im Übergang zum Venedig-Akt in Erinnerung geblieben, wo Grete voller Verwunderung aber auch Neugier auf die sich vor ihr entspinnende Szenerie reagiert, und somit gleichsam die Wandlung von der kleinen Grete zur „sündigen“ Greta markiert wird.

Überhaupt gibt es an der Inszenierung kaum etwas auszusetzen, gleichwohl sie mich nicht zu Begeisterungsstürmen hinriss. Plausibel, dienlich – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Weitestgehend unopulent, schaffte es die Regie dennoch, dem Rausch der Musik eine stimmige Bühne zu schaffen. Vielleicht hätte eine stärker ausgeprägte, originäre Ästhetik geholfen, aus einer guten eine besondere Produktion zu machen. Ansätze waren durchaus vorhanden, beispielsweise mit dem visuellen Leitmotiv der kleinen Hütte, die als Keimzelle und Ort der Erinnerung für die Liebe des Paares ein starkes Bild darstellte – zumal in ihrer Gestalt als Ruine im letzten Akt. Mit den in diesem Zusammenhang eingesetzten Videos, die auf das rotierende Bühnenbild der Drehbühne projiziert wurden, und die Liebesgeschichte weiter illustrierten, konnte ich hingegen nicht viel anfangen. In Kombination mit der hochemotionalen Musik ergab sich ein eher kitschiges denn romantisches Gesamtbild. Geschmackssache.

Viel mehr gibt es auch nicht zu berichten. Eine gute Orchesterleistung unter stimmiger Führung, ordentliche Sänger, eine vernünftige Regie – ergibt einen zufriedenstellenden Mannheim-Besuch. Nimmt man das dramatische und emotionale Potenzial des Werkes als Maßstab, hätten es durchaus ein, zwei Prisen mehr Begeisterung sein können, aber ein guter Abend bleibt ein guter Abend und nach dem Wiesbaden-Desaster überwog die Erleichterung, nicht gleich zweit Herzensopern hintereinander verunfallen zu sehen.


Franz Schreker – Der Ferne Klang
Musikalische Leitung – Dan Ettinger
Inszenierung – Tatjana Gürbaca
Bühne – Marc Weeger
Kostüme – Silke Willrett
Licht – Christian Wurmbach
Video – Thilo David Heins
Dramaturgie – Merle Fahrholz
Chor – Anton Tremmel

Grete Graumann – Cornelia Ptassek
Fritz – Michael Baba
Der alte Graumann / Der Baron – Sung Ha
Die Frau des alten Graumann – Petra Welteroth
Der Wirt / Rudolf – Sebastian Pilgrim
Ein Schmierenkomödiant / Der Graf / Der Schauspieler – Raymond Ayers
Dr. Vigelius – Bartosz Urbanowicz
Ein altes Weib – Edna Prochnik
Mizzi – Tamara Banješević
Milli – Dorottya Láng
Mary – Estelle Kruger
Eine Spanierin / Kellnerin – Evelyn Krahe
Der Chevalier / Ein zweifelhaftes Individuum – Johan Tralla
Erster Chorist – Ziad Nehme
Zweiter Chorist – Stephan Somburg
Ein Mädchen – Eun Young Kim
Eine Choristin – Juliane Herrmann
Eine andere Choristin – Gerda Maria Sanders
Ein junger Mann – Bertram Paul Kleiner
Ein Polizist – Karl Adolf Appel
Gäste – Giorgi Bekaia, Jun-Ho Lee, Bertram Paul Kleiner, Wolfgang Heuser, Junchul Ye, John Dalke, Chi Kyung Kim

Chor, Extrachor, Orchester und Statisterie des Nationaltheaters Mannheim

9. Juli 2015

The Turn of the Screw – Zsolt Hamar.
Staatstheater Wiesbaden.

19:30 Uhr, Orchestersessel links, Reihe 2, Platz 14



„Wenn es schön wird, fress ich nen Besen!“ – Das ist genau die Art bedingungslose Aufgeschlossenheit, die den Zauber der Musik im Herzen zur Entfaltung kommen läßt! ... „Naja, es ist ein ganz neues Werk, es wurde erst vor kurzem uraufgeführt.“ – In Reihe drei hat man Nachsicht mit der Moderne, gut, es geht sicher vielen der Anwesenden so, als wären die Fünfziger erst gestern gewesen. ... „Du, wir gehen in der Pause – es sei denn, es ist schön.“ – Genau! Verpisst euch! Schön mich am Arsch!

Der heutige Abend stand, sagen mir mal, atmosphärisch, unter keinem ganz günstigen Stern. Das Staatstheater Wiesbaden hatte zur letzten Drehung der Schraube in dieser Spielzeit geladen – und Dumm und Dümmer folgten dem Ruf. Eigentlich war alles dabei, was man als Konzentrationswilliger so gar nicht gebrauchen kann. Die Zuspätkommer, die Laberfritzen, die Tütenknisterer und Bonbonraschler, Krupphustler, gackernde Teenies, und zu guter Letzt ein ebenso seltenes wie nervtötendes Exemplar – die Ledertaschenwürgerin. Sicher schlimm, wenn man seine Flossen nicht mehr ruhig halten kann, aber dann soll sie halt einen Knautschball oder ihren Steiff-Teddy aus alten Tagen drangsalieren – das permanente Geräusch von quietschendem Leder macht sich in etwa so gut wie lange Fingernägel auf einer Kreidetafel.

Man könnte nun mit einer gewissen Häme von Glück im Unglück sprechen, daß heute auch auf der Bühne nicht viel zu holen war. Als Hauptmanko dabei erwies sich die in der Einführung vollmundig angepriesene Regiearbeit Robert Carsens. Die Inszenierung gibt sich hochästhetisch, zeichnet sich jedoch in erster Linie durch gepflegte Langeweile, biederen Realismus und Video-Versatzstücke aus, die in entscheidenden Momenten Chancen für Kulminationspunkte vergeben. Gleich nach dem hölzern vorgetragenen (Thomas Piffka sollte sich auch im Folgenden nicht als Britten-Tenor erweisen), von Schwarzweißaufnahmen begleiteten Prolog im Stile einer Vorlesung nimmt das Elend seinen Lauf, indem es Carsen vorzieht, die Gedanken der Gouvernante während ihrer Anreise komplett als Film umzusetzen, statt der Protagonistin mehr als Gesang aus dem Off abzuverlangen.

Ich will gar nicht sagen, daß das generell eine dumme Idee ist, obwohl ich schon sagen muss, daß in diesem konkreten Fall Musik und Gesang zur bloßen Untermalung eines Opernkurzfilms verkamen, viel entscheidender ist jedoch die Qualität des Filmes an sich, bzw. vielmehr der in Großaufnahme gezeigten Emotionen der Darstellerin. Carsen und/oder seine Filmleute verstehen technisch ihr Handwerk, das Filmchen sieht gut aus und wartet mit „professionellen“ Einstellungen und Schnitten auf – allein was nützt es, wenn Claudia Rohrbachs Minenspiel irgendwo zwischen Karikatur und Miss Marple-Handwerk anzusiedeln ist. Schade auch, daß sich diese Form des Overactings bei ihr die gesamte Handlung hindurch nicht legte. Da habe ich die Gouvernanten in Bremen (Link) und Düsseldorf (Link) doch auf deutlich subtilere Art dem Wahn verfallen sehen.

Kommen wir auf den angesprochenen Realismus zurück. Daß Realismus oder Naturalismus für mich keine Schimpfworte sind, sollte in meiner Eloge für die Hildesheimer Umsetzung der Karmeliterinnen (link) deutlich geworden sein. Hier wird jedoch wieder einmal die alte Binsenweisheit offenkundig, demzufolge sich das Einfache mitunter als das Schwerste herausstellt. Die Figuren haben hier nicht viel zu tun, als der Handlung gemäß dem Libretto zu folgen, und das tun sie so gut oder schlecht sie eben Kraft mehr oder weniger vorhandenen schauspielerischen Talents im Stande sind. Bei ausgewiesenen Sängerdarstellern mag das reichen, heute in Wiesbaden wurde eigentlich niemand so recht der intimen Intensität dieses Kammerspiels gerecht.

Ein weiterer, daraus resultierender Umstand lag darin, daß die Geschehnisse enorm von ihrer mysteriösen, ambivalenten Stimmung einbüßten und teilweise erschreckend banal daher kamen. Dabei steckt darin doch ungleich mehr als eine öde Spukgeschichte. Bei Carsen sind Szenen à la Hui Buh das Schlossgespenst an der Tagesordnung. Einfach nur unfreiwillig komisch beispielsweise die Versuche der Gouvernante, Mrs. Groose die in bester Schlotterstein-Tradition mit Kerze am Fenster vorbeigruselnde Ms. Jessel zu zeigen, die sich aber jedesmal in letzter Sekunde den Blicken der Alten entzieht, die dadurch ziemlich vertrottelt rüber kommt. Sollte es nicht vielmehr darum gehen, dass sie entweder noch nicht den Involvierungsgrad der Gouvernante erreicht hat oder schlichtweg nichts sehen will? Egal.

Im Gegensatz zu all dem braven und biederen Mummenschanz (Bei dem übrigens zumindest die Technik halbwegs mitspielen sollte – Der „Effekt“, bei dem Quint Miles Bett im Abstand von zwei, drei Metern „wie von Geisterhand“ vor sich her schiebt, gehört in seiner ruckelnden, timingbefreiten Amateurhaftigkeit in eine Geisterbahn, nicht auf die Theaterbühne) gibt sich Carsen bei der nächtlichen Heimsuchung der Kinder dann (Möchtegern-)provokant. In der verschwurbelten, das Traumhafte verbildlichen wollenden aber verfehlenden Videosequenz werden Miles und Flora (erneut?) Zeuge des Beischlafs von Quint und Ms. Jessel. Auch hier gilt: Der wirkliche Horror speist sich ungleich stärker aus Andeutungen und den Wegen der eigenen Ahnungen als aus ein bisschen nackter Haut. Einzig starker Carsen-Moment in zwei Stunden: Der flüchtige Versuch Miles, die Gouvernante bei der Unterredung auf der Bettkante zu küssen – dies allein hätte (ohne die vorangehende Peepshow) viel radikaler die Frage gestellt, was sich zwischen den Kindern und den verschiedenen „Verführern“ wohl in diesem Haus abgespielt haben mag.

Dieses Werk muß einfach in der Schwebe gehalten werden, das Konkrete ist der Tod dieser Oper! Aber geschenkt, vielleicht hätte ich schon bei dem Stichwort „Opernkrimi“ aus der Einführung das Weite suchen sollen. Nun denn, ich wäre um eine durchweg gute Orchesterleistung und das sehr engagierte Dirigat des Herrn Hamar gebracht worden. Für die Sänger muß niemand nach Wiesbaden fahren. Herr Piffka blaß und erschreckend undämonisch, Frau Lambourn zwar optisch eine Idealbesetzung für die sich erotisch verzehrende Ms. Jessel, aber stimmlich, so hart das auch sein mag, ein wahrer Abtörner. Frau Rohrbach als Gouvernante besitzt eine wirklich schöne Stimme, sie steht sich aber mit nicht immer sauberer Intonation und ihrem exaltierten Spiel (Große Augen! Hände am Revers festgewachsen! Schluchz!) selbst im Weg. Yorick Ebert gibt einen guten Miles, obgleich mir – auch wenn das vielleicht seltsam klingt – seine Stimme fast schon zu alt bzw. reif erschien. So fehlte dem schmerzhaft traurigen „Malo“ Gesang die letzte Prise Unschuld. Helen Donath überzeugte mit überraschend frischer Stimme, die Gewinnerin des Abend war für mich aber Stella An als Flora – schon in so jungen Jahren solch ein samtenes Timbre bei absoluter Präsenz, das lässt hoffen!

Fazit: Herr Carson sollte lieber einen Opernfilm machen, nicht inszenieren. Ohne Ideen wird es auf der Bühne schwierig. Die Wiesbadener spendeten freundlichen Applaus, die Mitwirkenden wurden gar mit manchem Bravo bedacht, wobei am Ende schon deutlich wurde, daß der zu feiernde Geburtstag von Frau Donath schon eher ein Ereignis nach dem Geschmack des Publikums war als so ein „unbekanntes“, „modernes“ Werk aus dem nebligen Britannien.


Benjamin Britten – The Turn of the Screw
Musikalische Leitung – Zsolt Hamar
Inszenierung – Robert Carsen
Spielleitung – Maria Lamont
Bühne und Kostüme – Robert Carsen, Luis Carvalho
Licht – Robert Carsen, Peter van Praet
Video – Finn Ross
Associated Video Designer – Leo Flint
Dramaturgie – Ian Burton

Prolog / Peter Quint – Thomas Piffka
Gouvernante – Claudia Rohrbach
Mrs. Groose – Helen Donath
Miss Jessel – Victoria Lambourn
Flora – Stella An
Miles – Yorick Ebert

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

28. Juni 2015

Gespräche der Karmeliterinnen – Werner Seitzer.
Stadttheater Hildesheim.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 110



In der (nebenbei bemerkt vorbildlich inhaltsvollen) Einführung wurde angesprochen, daß ein derart aufwändiges Werk eigentlich eine Nummer zu groß für ein kleines Haus wie dieses sei. Nach dem, was ich hier und heute erlebt habe, kann ich dem Theater für Niedersachen nur inständig dazu raten, sich unbedingt weiter und möglichst oft in dieser Form zu übernehmen. Poulencs Karmeliterinnen mögen nach den theoretischen Anforderungen an Ensemble und Umfang an größeren Häusern besser aufgehoben sein, besser umgesetzt kann ich sie mir an selbigen jedoch nicht denken. Und das in wirklich jeder Beziehung:

Das Orchester unter der ungeheuer differenzierten, ja märchenhaft subtilen Leitung Werner Seitzers verströmt einen Klang, der insbesondere die zarten, betörenden Passagen der Partitur geradezu vorbildhaft umsetzt, wozu die ohrenscheinlich fabelhafte Akustik des Saals ihren Teil beiträgt. Feines klingt hier fein und nie dünn oder trocken, das mitunter leicht Süßliche bei Poulenc nie abgeschmackt, sondern von erlesenstem Parfüm. Die nervöse Angst Blanches, ihr entrücktes Wesen, dem gegenübergestellt Constances Unbeschwertheit; die kontemplative Welt der Ordensfrauen, schroff kontrastiert durch die martialisch skandierende Musik der Revolution – die Karmeliterinnen warten, wenn auch wohl dosiert, mit extremen Stimmungen auf, die ich in Hildesheim in Vollendung miterleben durfte. Gestus, Klangfarben – hier stimmt einfach alles. Meinen tiefen Respekt an diese Orchesterbehandlung und die ausführenden Musiker.

Aber dabei bleibt es ja nicht. Was für eine Besetzung! Wie selten, ketzerisch gesagt, wie unwahrscheinlich ist doch der Fall, daß man mit einem Ensemble rundum zufrieden ist, noch dazu bei einem an Protagonistinnen nicht eben schmal ausgestatteten Werk wie diesem. Hier in der sogenannten „Provinz“ tritt das Unwahrscheinliche ein – und wie! Ich könnte nicht eine Nebenrolle nennen, die für sich und im Zusammenhang betrachtet einen schwachen oder zu vernachlässigenden Auftritt gehabt hätte, im Gegenteil. Ob ich beispielhaft Konstantinos Klironomos nehme, dessen warm timbrierter Tenor voller Einfühlungsvermögen und Schmelz in Poulencs Partitur handlungsbedingt fast ein wenig zu selten zu hören ist, oder eine noch kleinere Rolle wie den Beichtvater, bei dem Jan Kristof Schliep mit vorbildlicher Textverständlichkeit und schmerzlich ambivalenter Charakterzeichnung überzeugt, oder bei den Nonnen Neele Kramer als Mère Marie, deren resolutes, dann eiferndes Wesen sie ebenso glaubhaft wie stimmgewaltig umsetzt wie den Moment der Erkenntnis des eigenen Versagens im Ton der Verzweiflung – gerade die kleineren Partien sind es, die den starken Gesamteindruck vervollkommnen.

Von den Hauptpartien ganz zu schweigen. Aber anstelle in Begeisterung zu verstummen, gilt es Qualität beim Namen zu nennen: Christiane Oertels darstellerisches Talent durfte ich bereits einige Male bewundern, unter anderem ebenfalls als alte Priorin in der Umsetzung dieses Werkes an der Komischen Oper. Damals wie heute zeichnet sie eine besondere Intensität der Verkörperung dieser Figur aus, eine ehrwürdige Härte an der Schwelle zur Verbitterung, die der Todeskampf schließlich in der offenen Anklage Gottes kollabieren läßt. Eine Meisterleistung Oertels, in der prophetischen Schreckensvision kulminierend.

Oder nehmen wir ihre Nachfolgerin, die neue Priorin, deren anfangs gestelzt bemühtes, oberlehrerhaftes, im weiteren Verlauf jedoch immer besonnenes und im besten Sinne leitendes Auftreten einen spannenden Gegenpol zum Fanatismus (oder doch im dogmatischen Sinne vorbildhaften Standfestigkeit?) Maries bildet – in Stimme und Spiel ideal gestaltet durch Frau Bringmann. In einer Reihe von starken Momenten ist ihr stärkster wohl der anrührende, tief empfundene Gesang der Szene im Gefängnis, durch den sie die in Verzweiflung kauernden Nonnen um sie herum physisch wie seelisch wieder aufrichtet.

Aber es geht hier nicht allein um große darstellerische Momente, sondern eben auch durch die Bank um musikalische Qualität, um schöne Stimmen. Stellvertretend sei hierfür abschließend das Gegensatzpaar Constance und Blanche etwas eingehender beleuchtet. Martina Nawrath und Antonia Radneva kann man wohl als eine Idealbesetzung der beiden Partien bezeichnen. Die eine mit kristallklarem, makellos-frisch-jugendlichem Sopran, der Constanzes ursprüngliche, unbeschwerte Art und ihren sich daraus speisenden reinen, unbeirrbaren Glauben beeindruckend lebendig und klangschön verkörperte, die andere in der Rolle der angstdurchsetzten, fast schon irreal fragilen Blanche, für die sie genau die richtige, ungemein zarte, mit leichter Mezzofärbung betörend anrührende Stimme mitbrachte. Das Konzept dieser beiden Rollen, anfangs basierend auf dem Reiz des scheinbar Unvereinbaren, schließlich in der Erkenntnis des verbindenden Elements vollendet, fand in den beiden Sängerinnen optimale Vertreter.

Und dann wäre da ja noch diese Inszenierung. Eike Gramss und sein Team machen hier alles, aber auch wirklich alles richtig. Die trichterförmige Grundstruktur des Bühnenbildes ist einerseits akustisch vorteilhaft und schafft andererseits durch eine Vielzahl von äußerst variabel kombinierbaren Wanddurchbrüchen für die stetigen Bildwechsel die Illusion verschiedenster Räumlichkeiten von der kargen, dunklen Einzelzelle im Kloster zum lichtdurchfluteten Gemeinschaftsraum. Wenige sorgsam platzierte Möbel und Requisiten (Den Globus aus dem Anwesen des Marquis sehen wir am Ende der Oper zerbrochen in Blanches Händen – Symbol für eine ganze Welt in Trümmern) tun ihr übriges.

Wobei die wohl mit Abstand wichtigste Zutat für einen starken optischen Gesamteindruck und eindringliche Bilder der konsequente Einsatz von Licht darstellt. Goldgelbe Strahlen, die seitlich durch Fensterfronten fluten, Interieur und Gesichter plastisch akzentuieren, starke Hell-Dunkel Kontraste mit langen Schatten, so manchem Bild wohnt ohne Übertreibung die Suggestivkraft Rembrandt’scher Gemälde inne. Interessant hier vor allem der Kontrast zwischen dem warmen Licht, das im ersten Teil der Handlung vorherrscht und der ungleich kälteren, fahlen Stimmung, die im späteren Verlauf beispielsweise in der Kerkerszene oder beim finalen Gang zum Schafott gesetzt wird.

Ein weiterer Baustein dieser stimmigen Produktion ist ihr Realismus. Sicher, das hat auch etwas mit Maske und Kostümen zu tun, die ihrerseits viel zum authentischen Ganzen beitragen, weiter gefasst geht es aber bereits hier um Belange einer Personenregie, die das Leben mitfühlbar abbildet. Der (Arbeits-)Alltag der Nonnen, ihre Gartenpflege, kurz unterbrochen durch den Seitenblick bei Blanches Ankunft, die Gebete, die Szene der Totenwache oder die gemeinschaftliche Handarbeit – alles Beispiele für das umsichtige Etablieren eines Realismus, der die titelgebenden Gespräche der Karmeliterinnen geschickt verbindet, gerade in jenem alltäglichen Gefüge aber eine persönliche, dringliche Note verleiht. Ebenso unspektakulär wie wirksam vielleicht die erste intensive Unterhaltung zwischen Blanche und Constance, bei der diese parallel der Hausarbeit nachgeht.

Der besondere Effekt, den diese Herangehensweise zudem mit sich bringt, liegt in dem Kontrast, der sich aus der abgeschotteten, reguliert-ritualisierten Welt des Klosters und dem Furor des Revolutions-Terrors ergibt, der in selbige auf ebenfalls authentische, jedoch ungleich lautere und brutalere Weise einfällt. Wo es Umsturz gibt, da gibt es Nutznießer – Gesinnung hin oder her – auch das kommt in dieser Regie deutlich zum Tragen. Die Plünderung des Klosters durch ehemals sicher lammfrommes Volk setzt in dieser Beziehung den Gipfel tumber Aggression und Vorteilsnahme.

Umso erschütternder dann der menschenverachtende Text des Revolutionsführers St. Just, der nach der Inhaftierung der Nonnen vor geschlossenem Vorhang verlesen wird. Hier lässt sich noch einmal gewissermaßen aus erster Hand der ganze in kalter Abstraktion gedachte pseudophilosophische Überbau einer Bewegung erfahren, die wahrscheinlich in bester Absicht gestartet zur Perversion ihrer eigenen Bestrebungen auswuchs. Befremdlich, wie der Blut- und Reinigungstenor dieser Rede doch dem so vieler anderer Pläne zum Wohle eines neuen Menschseins ähnelt, ganz gleich, ob nun Volk, Rasse oder wer auch immer sonst bemüht wird.

Bei all dem Leid und der Verzweiflung, die die letzten Episoden der Oper bestimmen, entschließt sich die Regie jedoch das starke Bild des Zusammenhalts der Frauen bis in den Tod mit einem versöhnlichen, hoffnungsvollen Blick abzuschließen. Es obliegt wiederum dem Licht, dieser Hoffnung Ausdruck zu verleihen, indem es mit ihr, in gegenläufiger Bewegung zum fallenden Vorhang zentral aufsteigend, die Bühne zu den letzten Klängen warm durchflutet. Ein Bild, das mehr von Menschlichkeit und Menschsein weiß, als all die vermeintlich großen Gedanken der Pamphlete der Geschichte.


Francis Poulenc – Gespräche der Karmeliterinnen
Musikalische Leitung – Werner Seitzer
Inszenierung – Eike Gramss
Bühne und Kostüme – Philippe Miesch

Marquis de la Force – Levente György
Blanche, seine Tochter – Antonia Radneva
Der Chevalier, ihr Bruder – Konstantinos Klironomos
Madame de Croissy, Priorin des Klosters – Christiane Oertel
Madame Lidoine, die neue Priorin – Isabell Bringmann
Mère Marie, Subpriorin – Neele Kramer
Sœur Constance, eine sehr junge Novizin – Martina Nawrath
Mère Jeanne, Klosterälteste – Karin Schibli
Sœur Mathilde –Tanja Westphal
Der Beichtvater des Klosters – Jan Kristof Schliep
Erster Kommissar – Daniel Käsmann
Zweiter Kommissar – Stephan Freiberger
Erster Offizier – Peter Kubik
Der Kerkermeister / Rede St. Just – Peter Frank
Thierry, Diener im Haus des Marquis – Piet Bruninx
Javelinot, ein Arzt – Michael Farbacher

Opernchor und Extrachor des TfN
Orchester des TfN

25. Juni 2015

Hamburger Camerata – Simon Gaudenz.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 11, Platz 1 bzw. 2 (nach der Pause)



Jörg Widmann – „Con brio“ Konzertouvertüre für Orchester 
Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 8 F-Dur, op. 93

(Pause)

Wolfgang Amadeus Mozart – „Haffner Serenade“ D-Dur KV 250
für Kammerorchester und Solovioline (Gustav Frielinghaus)



„Wenn die Engel für Gott spielen, spielen sie Bach. Wenn sie für sich spielen, spielen sie Mozart.“ Ich hoffe inständig, daß sich die Engel bezüglich etwaiger öffentlicher Konzerte im Himmel – sofern ich bei der Abovergabe Berücksichtigung finden werde – nicht von ihrem persönlichen Geschmack leiten lassen.

Doch wer hätte gedacht, daß ich den Mozart’schen Beitrag innerhalb eines Konzertes einmal als den interessantesten küren würde. Wobei diese Wahl ehrlicherweise nicht in dem Werk selbst begründet, sondern aus seiner Behandlung durch den Dirigenten abzuleiten ist. Oder, gemein gesprochen, aus der mäßigen Behandlung Beethovens durch eben diesen. Herr Gaudenz scheint ein großer Mozartfreund zu sein – davon zeugt allein schon die Vielzahl der von ihm eingestreuten Anekdoten und Lobhudeleien, mit denen er das Wolferl zwecks „Auflockerung“ der Serenadenfolge zwischen den Sätzen bedachte – und diese Freundschaft findet in einer differenzierten (ich möchte fast das Wort „spannend“ in den Mund nehmen, so fremd es mir im Zusammenhang mit Mozart auch erscheinen mag), soweit es das Material hergibt, zupackenden Lesart Widerhall.

Gleich der erste Satz der Serenade wird energisch angegangen, der Staub dieser biederen Kaffeeklatschmusik zumindest ein wenig aufgewirbelt. Auch im weiteren Verlauf widmet sich Gaudenz umsichtig und detailversessen der lebendigen Gestaltung des Werkes. Dynamische Kontraste werden (soweit vorhanden) akzentuiert, Gesangliches fein ausgesungen, in spritzigen Passagen oder Läufen das Orchester schön knackig zum Abschnurren gebracht. Allein, mir bringt das wenig, löst eine Mozart-Serenade nun mal ein ähnliches Prickeln bei mir aus, wie die Lektüre des Telefonbuchs von Salzburg. Daran ändert weder das eingebaute Violinkonzert (dessen Rondo-Finale mich trotz seiner Kürze mit seinen ewigen Wiederholungen mehr in meiner Geduld strapazierte, als es ein kompletter Parsifal in halbem Tempo gespielt vermöchte), noch andere Spielereien wie die Melodie von „Im Märzen der Bauer“ in Moll oder solistisch eingesetzte Trompete (Wer hätte das gedacht!). Ein Wort noch zum Solisten des Abends: Herr Frielinghaus erfüllt seinen Part unfallfrei, offenbart in Technik und Timbre jedoch auch, warum man für solche Aufgaben gewöhnlich auf spezialisierte Kräfte zurückgreift.

Beim Stichwort Spezialisierung wären wir dann wieder bei meiner Kritik an Herrn Gaudenz angelangt. So sehr ihm Mozart (am Herzen) liegen mag, so wenig gibt mir sein Beethoven und ließ das nicht allein abfolgetechnisch erhoffte Zentralstück des Abends zur müden Belanglosigkeit verkommen. Mag der Beginn, namentlich Teile des ersten Satzes, noch Anzeichen dieses später bei Mozart goutierten, leicht eckigen und damit straffen Stils offenbart haben, verflachte die Sinfonie unter Gaudenz Händen zusehends. Kein Vergleich zur bissigen, Ironie-durchsetzten Version, die ich vor Jahren an gleicher Stelle mit Lothar Zagrosek und der Jungen Deutschen Philharmonie erleben konnte. Gerade weil die Achte so ein anderes Antlitz als ihre titanisch-grüblerischen Schwestern besitzt, bedarf sie einer besonders feinen, mehr noch, feinsinnigen Zuwendung, um jenes nicht als harmloses Grinsen hervortreten zu lassen. Was gibt es da nicht alles zu entdecken! Gewitzte Echowirkungen, ein unglaublich spannungsgeladenes Spiel mit Pausen und deren Wirkung auf das Gefüge, karikierte Zopfigkeit – unterm Strich in jedem Fall viel eher Musik über Musik als Widmanns Con Brio Geschnetzeltes (wobei jener sicher ein kluger Kopf und herzenswarmer Mensch ist – man führe sich diesbezüglich einmal beispielhaft seine Rede zur Semestereröffnung 2014 der Hochschule für Musik Karlsruhe zu Gemüte).

Die Hamburger Camerata treiben existenzielle Sorgen um, die Zukunft scheint vorerst gesichert, Gewissheit gibt es offenbar nicht. Das Orchester bringt – trotz technischen Optimierungsbedarfs hier und da – alles mit, um ein Publikum zu begeistern. Einsatz, Leidenschaft, Qualität. Herr Gaudenz zeigt mit seinem Mozart Ansätze, wie diese Eigenschaften abzurufen sind, dennoch wird es mehr als ein paar warme Worte und Binsenweisheiten aus der Mottenkiste der Musikgeschichte brauchen, um das eigene musikalische Profil zu schärfen und den Platz einer eigenständigen Alternative im Hamburger Konzertleben dauerhaft zu besetzen. Die neue Saison wird es zeigen.

23. Juni 2015

Konzertchor Gymnasium Blankenese und Blankeneser Kammerorchester – Dieter von Sachs. Aula Gymnasium Blankenese.

20:00 Uhr, freie Platzwahl

Antiphon – „Laudate Dominum “
Text, Dieter von Sachs
Volkslied – „L`homme armé“
Guillaume Dufay – Messe: „L`homme armé“, Kyrie
Text, Katrin Redeker
Marc-Antoine Charpentier – „Te Deum“: Prélude, Bariton-Solo, Schlusschor (Bariton-Solo: Renato Kroll)
Text, Svea Meyer-Nixdorf)
Robert Schumann – „Die beiden Grenadiere“ (Tenor-Solo: Renato Kroll, Klavier: Brigitte Bollmann)
Robert Schumann – „Die Soldatenbraut“ (Sopran-Solo: Katrin Redeker, Klavier; Brigitte Bollmann)
Text, Anja Lemcke
Georg Friedrich Händel – Coronation Anthem
Text, Anja Lemcke
Ludwig van Beethoven – „God save the King“
Text, Florian Krohn
John Field – Klavierkonzert Nr. 1, 2. Satz (Klavier: Fabian Höfer)
Sergei Rachmaninow – Prélude g-Moll, op. 23 Nr. 5 (Klavier: Fabian Höfer)
Text, Charlotte Kohnert
Christophe Barratier – „Die Kinder des M. Mathieu“, Kyrie
Text, Océane Overbeck
Felix Mendelssohn Bartholdy – „Verleih uns Frieden“

15. Juni 2015

Philharmoniker Hamburg – Simone Young.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 8, Reihe 1, Platz 2



Franz Schmidt – Das Buch mit sieben Siegeln / Aus dem Buch der Offenbarung des Johannes für Soli, Chor, Orchester und Orgel

(NDR Chor, Staatlicher Akademischer Chor Latvija, Klaus Florian Vogt (Tenor), Georg Zeppenfeld (Bass), Inga Kalna (Sopran), Bettina Ranch (Mezzosopran), Dovlet Nurgeldiyev (Tenor), Volker Krafft (Orgel))


Nachtrag zum gestrigen Konzert im Vergleich zu heute: Eigentlich hatte ich vermutet, daß der Rangplatz bei diesem groß mit Chor besetzten Werk akustische Vorteile gegenüber dem Parkett mit sich bringt – das Gegenteil war der Fall. Konnte ich gestern auf meinem Platz nahezu ideale Bedingungen genießen, was Ausgewogenheit und Schmackes insgesamt sowie Präsenz der Solisten anging, bekam der Chor heute ein teilweise fast unangenehmes Übergewicht. Da machte es sich doch bemerkbar, daß Schmidt es mit der Orchesterfülle eher mit Brahms denn Mahler hält. Auch die Ensemblestellen und der Vortrag des Propheten waren nicht allein räumlich von größerer Distanz geprägt. Doch nicht falsch verstehen: Ein Bombenkonzert bleibt ein Bombenkonzert, hätte ich die Erfahrung vom Vortag nicht gemacht, wäre ich ähnlich selig gewesen – so ergaben sich aber interessante Schlüsse für die zukünftige Platzwahl.

14. Juni 2015

Philharmoniker Hamburg – Simone Young.
Laeiszhalle Hamburg.

10:15 Uhr Einführung, 11:00 Uhr, Saal links, Reihe 7, Platz 12


Franz Schmidt – Das Buch mit sieben Siegeln / Aus dem Buch der Offenbarung des Johannes für Soli, Chor, Orchester und Orgel

(NDR Chor, Staatlicher Akademischer Chor Latvija, Klaus Florian Vogt (Tenor), Georg Zeppenfeld (Bass), Inga Kalna (Sopran), Bettina Ranch (Mezzosopran), Dovlet Nurgeldiyev (Tenor), Volker Krafft (Orgel))



Es gab wohl kein anderes Konzert, auf das ich mich bislang in diesem Jahr so sehr gefreut hatte, wie die Aufführung des gewaltigen Schmidt-Oratoriums. Eine Live-Premiere, von der ich mir nach intensiver Beschäftigung und Ins-Herz-Schließung über die letzten Jahre hinweg nun nicht weniger erhoffte, als eine sprichwörtliche wie musikalische Offenbarung. Ein besonderes Werk, prädestiniert für besondere Anlässe – Simone Youngs letztes Abokonzert als Chefin ihrer Philharmoniker nach zehn Jahren Hamburger Intendanz ist so einer.

Nun muß ein besonderes Konzert nicht zwangsläufig besonders gut werden, aber heute war einer der Tage, an denen einer großen Erwartungshaltung Großartiges nachfolgte. Auch wenn ich mich nicht unbedingt als bedingungslosen Young-Fan bezeichnen würde – so eine Wirkung wie die heutige muß man erst mal hinbekommen. Bis auf die wundervolle Passage, in der die vier Wesen den Herrn preisen, die für meinen Geschmack ein wenig zu flott und dadurch weniger kontemplativ als gewohnt verlief, muss ich Frau Young gerade was die Tempi angeht ein großes Kompliment machen. Generell recht zügig – gleich das eröffnende Schreitmotiv nimmt entschlossen energische Schritte – was die Gefahr einer bemüht weihevollen Verschleppung vom Start weg bannte.

Überhaupt gab es an Orchesterleitung wie Ausführenden nichts auszusetzen, Frau Young führte ihre Philharmoniker und die Choristen mit Energie und Übersicht durch die Klüfte der Partitur, ob inniges Solo oder Fugen-Armageddon – die Apokalypse wurde entfesselt, ohne die Mitwirkenden ins Verderben zu stürzen. Das Werk knallt einfach!

Ein mindestens ebenfalls siebenfaches Rätsel, warum es so selten live erklingt (Ja, ja, die Erfordernisse – erzähl das mal den Mahlerianern). Dabei sind es nicht allein die Krassheiten und dynamischen Gipfel, die mich daran begeistern, als vielmehr die Fülle an unterschiedlichsten musikalischen Ideen und Formaten, die Schmidt zu einem ungeheuer abwechslungsreichen, gleichzeitig stimmigen Ganzen gefügt hat. Das verwunschen-mysteriöse Buch-Thema, die bereits angesprochene Melodie des „Heilig ist Gott der Allmächtige“, die großen Chorszenen, beispielsweise der sich bildlich aufschaukelnde Gesang bei der ansteigenden Flut oder das abschließende „Halleluja“ sind sicher nicht das Werk eines Epigonen oder belächelnswerten Zu-Spätromantikers.

Allein schon die vier Stimmungsbilder zum Auftreten der Reiter suchen bezogen auf ihre dramaturgische Verknüpfung und illustrativ-involvierende Wirkung Ihresgleichen. Vom euphorisch-heldischen Jubel über „Das Wort Gottes“, über das martialische Inferno des Krieges (ebenso simpel wie nackenhaarsträubend der räumliche Effekt der vorüberziehenden und sich akustisch entfernenden Blechfratzen beim Schluß „Und die Hölle folgte ihm nach“), zum wohl anrührendsten Teil des Werkes, dem zwischen Schmerz und Hoffnung changierenden Zwiegesang von Mutter und hungernder Tochter, um beim letzten Reiter eine Vision des Todes heraufzubeschwören, die an Mittel der zweiten Wiener Schule oder Brittens (deutlich jüngeres)War Requiem (Gespräch der Gefallenen) denken läßt.

Ich liebe auch die Orgelsoli, besonders das erste, in der das Buch-Thema verarbeitet wird. Auch hier tauchen harmonische Reibungen auf, die Schmidts Musik ungemein spannend macht und auf eine spröde Art funkeln, vielmehr glühen läßt. Oder der Schluß des Oratoriums. Wenn man schon einen Knaller wie das „Halleluja“ aus dem Ärmel schüttelt – wem könnte man es da verdenken, es beim effektvollen Ausklang desselben zu belassen? Die Fallhöhe aber, die Schmidt hier aufbaut und mit dem anschließenden meditativen, verlöschenden Männerchor im Stile der Gregorianik zu atemberaubendem Kontrast bringt, unterscheidet für mich ein gutes Werk von einem Großen. Bezeichnend auch, daß er beim letzten Anschwellen des Schreitmotivs das gewaltige Tutti nicht ausklingen, sondern abrupt abreißen lässt – so als habe sich die wundersame Vision des Johannes schlagartig wieder unseren Blicken bzw. Ohren entzogen.

Aber jetzt habe ich viel über das Werk und wenig über das Konzert selbst geschwärmt, was nicht so stehenbleiben kann. Gerade die Gesangssolisten verdienen großes Lob, beziehungsweise hat man hier auch über die Besetzung der „Stars“ Vogt und Zeppenfeld hinaus ein glückliches Händchen gehabt. Inga Kalna gehörte vor zehn Jahren zu der Besetzung von Mathis der Maler – der ersten Produktion die ich unter der Ägide von Frau Young besucht habe – und heute schloss sich gewissermaßen auch auf diese Weise der Kreis. Gemeinsam mit Frau Ranch gestaltete sie die bewegende Tochter/Mutter-Passage mit großem Einfühlungsvermögen. Sopran und Mezzo ergänzten sich auf das Berührendste.

Dovlet Nurgeldiyev habe ich als Ensemblemitglied der Staatsoper schon das ein oder andere Mal in Hamburg gehört, allerdings ist mir bislang nie aufgefallen, über welch klangschöne, elegante Stimme voller Schmelz dieser Tenor doch verfügt. Georg Zeppenfeld habe ich urigerweise 2005 das erste Mal live erlebt, nämlich als ersten Nazarener im Zuge einer konzertanten Salome-Aufführung beim Schleswig-Holstein Musik Festival – natürlich ohne zu ahnen, daß mir dieser Herr eines Tages in Bayreuth als König Heinrich wiederbegegnen sollte. Was soll man da groß sagen – ein umwerfender Bass, der sich ebenso gut in das Viergestirn der Solisten integrierte, wie er als Stimme Gottes den Worten des Herrn volltönenden Nachdruck verlieh. Bleibt noch Herr Vogt als Prophet der Apokalypse.

Es ist schon faszinierend, wie unterschiedlich die Wirkung einer Stimme doch je nach dem Werk, in dem sie Einsatz findet, ausfallen kann. Auch wenn Klaus Florian Vogt vielleicht nicht der Lohengrin oder Parsifal meiner Wahl ist, mein Johannes ist er ohne Zweifel. Ich wüßte niemanden, der ihm in dieser Partie das Wasser reichen könnte. Eben jene Charakteristika, die mich ihn als Wagnersänger zumindest diskussionswürdig erscheinen lassen, kommen hier bedingungslos positiv zum Tragen. Ein zwar durchaus heldischer, aber immer auch oratorienhaft entleibter Gesang, von einer Strenge und fast schon knabenhaft silbriger Reinheit, wie ich ihn mir für die bildgewaltige Erzählung des Propheten nicht fesselnder vorstellen könnte. Diktion und Ausdruckskraft sind vorbildlich, etwa bei der unheimlich schwebenden Erkenntnis, niemand könne das Buch öffnen oder der fahl zerknirschten Beschreibung des „Feuersee“. Vogts Leistung ist insgesamt eine Lehrstunde in Sachen lebendiger Inhaltsvermittlung und bildhafter Stimmgestaltung über den bloßen Notentext hinaus.

Fazit: Eine Sternstunde für Schmidts selten gespieltes Hauptwerk und ein mehr als gelungener Abschluss der Philharmonischen Konzerte unter Simone Young.

11. Juni 2015

Berliner Philharmoniker. Gustavo Dudamel.
Philharmonie Berlin.

20:00 Uhr, Block C rechts, Reihe 5, Platz 2



Wolfgang Amadeus Mozart – Serenade D-Dur KV 320
(„Posthorn-Serenade“)


(Pause)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 1 D-Dur



Gebt dem Mann dieses Orchester! Ok, er hat es ja bereits, zumindest heute und bei all den anderen Gelegenheiten, zu denen Gustavo Dudamel jenen himmlischen Klangkörper als Gast leiten darf. Wäre in jedem Fall nicht die schlechteste Option der im Zuge der Chefdirigentenwahl kolportierten Kombinationen gewesen. Ganz sicher jedenfalls für Mahler (Herr Petrenko wird seine Sache sicher gut machen, davon konnte ich mich unter anderem 2014 in Bayreuth überzeugen (Link)). Das gern bemühte Klischee des feurigen Lateinamerikaners, dem zwar Verve und rhythmische Ekstase quasi per Muttermilchdekret abgekauft, teutonische Tiefe und ernste Abendlandpflege mit dem gleichen routinierten Griff in die enge und leicht klemmende Ressentiment-Schublade jedoch abgesprochen werden, zerfiel spätestens heute unter den erdbebenartigen Schockwellen der Wonne zu einem Häuflein Staub, welches sich ganz leicht unter das Bravo-umtoste Dirigentenpult fegen ließ.

Die heutige Mahler-Darbietung stellt ohne Übertreibung die beste Aufführung dieser Sinfonie dar, der ich jemals beiwohnen durfte. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, daß Dudamels Interpretation, unvergleichlich umgesetzt durch die Berliner Philharmoniker, den eigentlich unsinnigen, weil der Vielzahl subjektiver Vorlieben entgegenstehenden Begriff der Referenz heute mit Leben gefüllt hat, wie kaum ein Konzerterlebnis zuvor. Ich selbst bin ein Freund der Extreme. Extreme Härte (Solti) oder extreme Sensibilität (Maazel), sind scheinbar unvereinbare Gegensätze, die ich als zwei für mich gleichsam stimmige und stimmungsvolle Sichtweisen auf ein und denselben Gegenstand gerade in ihrer Verschiedenheit lieben gelernt habe (wobei die bemühten Begriffe die jeweilige Konzeption nur allzu grob vereinfacht beschreiben). Der Mittelweg ist für mich, gerade bei Werken, die ich besonders schätze und gut zu kennen glaube, oft eben nicht der Königsweg. Dudamel nun schafft mit seiner Arbeit, zumindest mit der Vorlage dieser Ersten, so etwas wie die Vereinigung der Extreme, oder besser: er reizt das musikalisch Mögliche aus dieser Sinfonie aus, ohne dabei das Werk insgesamt in die eine oder andere Richtung zu „radikalisieren“. Ich kann es nicht anders ausdrücken, als daß heute Wesen und Konzept dieser Sinfonie idealtypisch präsentiert wurden.

Woran mache ich das fest? Nehmen wir einmal beispielhaft das Tempo. Über die gesamte Sinfonie gesehen kann man nicht behaupten, daß Dudamel hier Extreme vorlegt – wir erleben weder ein permanentes Hochgeschwindigkeitsdirigat, noch lässt er sich besonders viel Zeit. Es ist vielmehr so, daß sich dieser Mann innerhalb eines auf den ersten Blick recht konservativ anmutenden Rahmens bestimmte Freiheiten herausnimmt, die das Gesamtergebnis ungeheuer organisch, lebendig, frisch wirken lassen. So forsch-drastisch die Wiederkehr des Scherzo-Ländlers nach dem Trio hervorprescht, so kontemplativ-versonnen gestaltet er Einsatz und Verlauf der „Lindenbaum“-Passage im dritten Satz. Wobei an jenen Stellen die erzielte Wirkung nicht von der jeweiligen Akzentuierung bzw. Artikulation zu trennen ist. So tischt uns Dudamel den Ländler des zweiten Satzes mit einer solchen Derbheit auf – man versuche, sich dem krachenden Überschwang der verzögerten Stampfer zu entziehen – wie ich sie mir „authentisch“ bäuerlicher nicht träumen könnte. Spannend zudem, wie der Dirigent dieses Mittel der Verzögerung an ganz anderer Stelle ähnlich einsetzt, um im Finale das Auftürmen der großen Steigerungen noch wuchtiger zu realisieren. Unbeschreiblich beispielsweise das mitreißende Moment, welches kurz vor dem Schluß des Werkes durch den Kontrast des letzten, mit wuchtig retardierenden Schritten genommenen Gipfels und das unmittelbar darauf folgende befreite Davonstürmen der Hörner erzielt wird.

Auch der Dynamik kommt bei Dudamel in Kombination mit den angesprochenen Mitteln eine unglaublich feinsinnige und differenzierte Behandlung zugute. Besagtes „Lindenbaum“-Thema habe ich im Konzertsaal nie zarter erlebt – der Schatten einer seligen Erinnerung aus fast vergessner Zeit. Dem gegenübergestellt die unerbittliche Vehemenz der grimmigen Aggressionen des Finalsatzes, durchbrochen vom schüchternen Aufblühen des warmherzigen Streichergesangs, schroff kontrastiert, umkämpft, abgelöst von Reminiszenzen an den ersten Satz, mit diesen verwoben, erneut entflammt, um letztlich, nach der zunächst noch vertagten Erlösung durch den Choral, in eben dessen vollendeter Gestalt die triumphale Erfüllung zu finden. Ein unbeschreiblicher Jubel in der Musik – gefolgt von grenzenlosem Jubel im Saal. Freude und Dankbarkeit.

10. Juni 2015

Simon Boccanegra – Simone Young.
Staatsoper Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang rechts Balkon, Reihe 4, Platz 10 


Als ich anfangs des Jahres nach sporadischen Besuchen auf der Homepage der Staatsoper eines guten Tages doch noch einige versprengte freie Plätze für den bis dato immer als ausverkauft gebrandmarkten Boccanegra erspähe, schlage ich freudig erregt zu. Der Grund für die Begehrlichkeit gerade dieser Aufführung war keine Neuproduktion oder gar rauschende Premiere, sondern ein einzelner Name auf der Besetzungsliste: Plácido Domingo. 

Es ergibt jetzt wenig Sinn, sich über Star-Rummel und Namens-Herdentrieb zu belustigen, lag meine Teilnahme doch ebenfalls im erhofften Erscheinen des weltbekannten Sänger-Seniors begründet. Genauso wenig, wie in das Lamento derer einzustimmen, die in seiner Absage nun Böswilligkeit oder Unvermögen der Staatsoper wittern, wie man kopfschüttelnd in einigen Kommentaren auf der Facebook-Präsenz der Hamburger Oper nachlesen konnte.

Verschwörungstheoretiker gibt es wohl in jedem Bereich, bedauerlich und dumm wird es, wenn fehlgeleitete „Experten“ auf diese Weise ihrer Enttäuschung Luft verleihen und am besten noch bei der Gelegenheit gleich mit allem und jedem abrechnen möchten, was schon lange ihr enges Herzchen belastete. Natürlich habe ich nach Monaten der Vorfreude ebenfalls kein Freuden-Feuerwerk auf meinem Balkon abgebrannt, aber so läuft es halt mal.

Zumal als „Ersatz“ mit George Gagnidze – bis auf die beiden geplanten Domingo-Termine ohnehin die Hamburger Stammbesetzung als Boccanegra – kein Notnagel aus dem Hut gezaubert werden musste. Aber gut, darum geht es den meisten eh nicht. „Man hätte den Domingo halt gern noch mal erlebt“, wie ich einer älteren Dame in der Pause ablauschte. Ging mir nicht anders, auch da ich mich vor einigen Jahren in Berlin von der außergewöhnlichen Qualität seines Bariton-Rententeils überzeugen konnte – ebenfalls in der Rolle des Dogen-Korsaren.

Aber genug des „hätte“ und des „was wäre, wenn“, hinein in die Realität des Abends. Wobei damit gleichsam auch der Kern des Stückes, zumindest in der Inszenierung durch Claus Guth, umrissen wäre. Parallel zu den schicksalhaften Entwicklungen der Biografie Boccanegras, lässt er in einzelnen Sequenzen einen alternativen Lauf der Geschichte aufblitzen, eine Art positives Spiegelbild der tragischen Handlung. Boccanegra sitzt mit seiner Frau Maria, seiner Tochter, Adorno und Fiesco gemeinsam zu Tisch – eine Utopie des „es hätte doch auch“, wie es bei einem anderen, günstigeren Verlauf der Dinge durchaus denkbar gewesen wäre.

In der aktuellen Realität des Stückes jedoch verlassen die nicht Beteiligten wortlos rückwärts schreitend die Szene, das hier und jetzt setzt sich immer wieder durch. Das Thema Spiegelung findet darüber hinaus in der zentral angebrachten, als goldgefasster Spiegel oder Gemälde angelegten rahmenförmigen Durchsicht eine weitere eindrucksvolle Umsetzung. So hält diese Bühne in der Bühne wortwörtlich eine weitere Ebene der Geschehnisse bereit, am berührendsten wahrscheinlich in der allerletzten Szene, die im Vordergrund den verstorbenen Boccanegra, im Rahmen dahinter sein Wiedersehen mit Maria zeigt.

Dominiert wird die Inszenierung auch von der omnipräsenten Bedrohung, die als visuelles Leitmotiv von dem riesigen Felsbrocken ausgeht, der im Laufe der einzelnen Bilder der Oper jeweils wie in Standbildern seinen unausweichlichen Einschlag durch die Decke in den Boden vollzieht. Ein ungeheuer starkes Bild für die nicht abwendbare Tragödie, gleichzeitig verdeutlichend, daß diese bereits vor 25 Jahren unwiderruflich in Gang gesetzt wurde.

Bedauerlicherweise gab es am heutigen Abend eine kleine Panne mit dem imposanten Requisit, das, anders als ich es bei meinem ersten Kennenlernen dieser Regiearbeit vor Jahren in der ersten Stufe der Oberlichtdurchbohrung als unbewegliche Momentaufnahme eingesetzt sah, heute erst nach dem Öffnen des Vorhangs in seiner ganzen baumelnden Pappmachepracht heruntergelassen wurde. Ich unterstelle bewusst keine Absicht, bzw. möchte nicht über die Möglichkeit nachdenken, dass jemand damit das Erscheinen des Felsen hervorzuheben gedachte – sowohl bezogen auf die Illusion der Last als auch auf die inhaltliche Wirkung ging dieser „Effekt“ so leider in die Hose.

Jenes ärgerliche Detail blieb dann aber auch der einzige Wermutstropfen eines rundum gelungenen Abends. Die Inszenierung mag für konservative Gemüter in ihrer reduziert-konzentrierten Ausstattung vielleicht etwas nüchtern daherkommen, in meinen Augen ist sie ein ästhetischer Hochgenuss und offeriert neben der bereits angedeuteten klugen szenischen Kommentarebene eine Regie, die absolut dem Primat des Verständnisses der doch mitunter verworrenen Handlung dient.

Schlüsselszenen oder -Elemente werden als solche klar akzentuiert – wie zum Beispiel die Bereitstellung und Aufnahme des Gift-Trankes. Oder: Nachdem Adorno erkennt, wen er da in fast fataler Absicht zu töten gedachte, reicht er Boccanegra deutlich sichtbar seine Waffe, um seinerseits gerichtet zu werden – wozu es natürlich nicht kommt. Das dramaturgische Prinzip der Irrungen, Wirrungen und (vorgeblich) unvorhersehbaren Wendungen, welches die italienische Oper, zumindest viele Werke Verdis, soweit ich sie kenne, bestimmt, ist meine Sache nicht – diese Umsetzung durch Guth und sein Team aber sehr wohl.

Musikalisch gesehen war der Abend für mich eher ambivalent. Ich genoss große gesangliche Qualität, gleichzeitig aber überraschend wenig emotionale Einbindung, insbesondere Rührung, was angesichts der nachhaltigen Erinnerung an meinen Erst-Boccanegra an gleicher Stätte in gleicher Inszenierung weder auf selbige, nimmt man zusätzlich den atemberaubenden Berliner Eindruck unter Barenboim als Gradmesser, noch auf das Stück selbst zurückzuführen ist. Ich möchte wetten, daß der banale Hauptgrund dafür meine Platzwahl darstellt. Man mag vom Balkon aus eine nette Aussicht haben, erkauft wird diese mit der weitgehenden Abnabelung vom Geschehen in puncto involvierende Lautstärke und szenische Unmittelbarkeit; ein dumpfer, unscharfer Gesamtklang komplettiert die Zutaten für ein lauwarmes Erleben.

Dabei konnte man sich heute insbesondere sängerisch ganz und gar nicht beschweren. John Tomlinson beeindruckte wie eh und je mit Ehrfurcht einflößendem, schwarzdröhnendem Bass (in Sachen Intonation drückt man bei solch einer Stimme gern mal ein Auge zu), das junge Paar stimmlich harmonisch und dynamisch ausgewogen (Memo an die Facebook-Nörgler: wer sich über Giuseppe Filianoti das Maul zerreißt, lebt entweder in der geschlossenen Abteilung des Caruso-Bergonzi-Wolkenkuckucksheims für ewig Gestrige oder ist über das allgemeine tenorale Niveau bundesdeutscher Bühnen nicht ganz im Bilde – klar, der Mann forciert vielleicht bei manchem Spitzenton, aber das ist mir angesichts seiner wunderbar timbrierten Stimme sowas von Wumpe!).

Den größten Eindruck hat neben der Hauptpartie wohl Robert Bork als Intrigant vom Dienst hinterlassen. Eine durchdringende Stimme, die die ganze zerknirschte Härte, das kalte Gift dieses im seinem Stolz verletzten Meuchel-Beamten transportierte. Bliebe noch Boccanegra selbst, beziehungsweise sein Verkörperer, George Gagnidze. Herrliche Stimme, tragfähig, rund, fast schon mild, besonders für die zarten und leisen Momente der Partie geeignet. Trotzdem auch hier: wenig wirklich Berührendes – wie gesagt, dem Sänger laste ich dies weit weniger an als meiner Buchung.

Eines jedoch wurde mir unmissverständlich klar: Auch eine starke Regiearbeit wie diese wird erst durch einen großen Sängerdarsteller, wie ich ihn in Franz Grundheber erleben durfte, zu etwas Unvergesslichem. Als ich ihn 2007 als Boccanegra sah, führte ich diese kleinen Berichte noch nicht in ihrer heutigen (digitalen) Form, im Zuge der wunderbaren Erfahrung eines Sängersalons 2013 habe ich nachträglich versucht, sein darstellerisches Ausnahmetalent anhand einer einzelnen Szene, des Todes Boccanegras, zu fassen (Link).

Gagnidze ist ein sehr guter Boccanegra – Grundheber ist (für mich) Boccanegra. Ähnlich, wenn auch auf eine ganz andere Art, geht es mir durch das Berlin-Gastspiel mit Domingo. Der eine singt den Dogen wohl nicht mehr, der andere schon. Vielleicht ergibt es sich ja noch einmal, daß der alte Korsar in für mich schiffbaren Gewässern segelt. Ich werde weiter aufs Meer schauen.


Giuseppe Verdi – Simon Boccanegra
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Claus Guth
Bühnenbild und Kostüme – Christian Schmidt
Licht – Wolfgang Göbbel
Chor – Eberhard Friedrich
Spielleitung – Wolfgang Bücker

Simon Boccanegra – George Gagnidze
Jacopo Fiesco – John Tomlinson
Paolo Albiani – Robert Bork
Pietro – Alin Anca
Amelia Grimaldi – Barbara Frittoli
Gabriele Adorno – Giuseppe Filianoti
Un Capitano dei Balestieri – Daniel Todd
Un Ancella di Amelia – Anat Edri
Boccanegra-Doubles – Sebastian Faust, Valeri Engel Maria – Britta Siebels

Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmoniker Hamburg