26. April 2015

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 11



Alban Berg – Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ (Lara Boschkor)

(Pause)

Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 7 E-Dur WAB 107



Momentan verhält es sich so: Jenseits selbst auferlegter Abofesseln ertappe ich mich, trotz vielbeschworener Lobbyarbeit wider ausgetretene Programmpfade, nicht selten dabei, die Wahl meiner Konzertbesuche an das mir Bewährte zu knüpfen. Wobei häufig der Dirigent der Ausschlag gebende Faktor dafür ist, überhaupt ein bestimmtes Konzert in Erwägung zu ziehen. Der Wunsch, weitere Orchester, wenn vorhanden großen Namens, kennenzulernen, ist immer mehr ein nachgelagerter, mehr dem technischen Abgleich zuzuschreibender.

Bei den Hamburger Symphonikern verhält es sich seltsamer Weise aber etwas anders. Mittlerweile untrüglich das Heimspielorchester meiner Wahl, kommt durch den Faktor Tate und die bereits oft angesprochene Programmvielfalt und -Tiefe für mich so langsam der Punkt, an dem ich mich frage, warum ich noch kein Abonnement dieser wunderbaren Institution besitze. Zumal wenn Programme wie das heutige einen regelrechten Sturzbach auf die Mühlen meiner musikalischen Vorlieben geben. Das Thema bleibt also aktuell, einzig meine Angewohnheit, den Sitzplatz der jeweiligen Besetzung (Orchestergröße? Solisten? Chor?) anzupassen, läßt mich weiter zögern.

Keine Sekunde Bedenkzeit brauchte ich hingegen für den Besuch des heutigen Konzertes. Berg und Bruckner – was für eine Kombination! Auf der einen Seite das einfühlsame Violinkonzert, in seinem Ausdruck teilweise noch ganz bei Mahler und doch unverkennbar Berg, in seinen Klangmitteln und der Harmonik immer wieder Britten am Horizont aufglimmen lassend. Auch wenn das Alter der Solistin bei so manchem Besucher wahrscheinlich den unvermeidlichen Sensationsimpuls ausgelöst haben mag, sollte es angesichts von Lara Boschkors Vortrag, den man erwachsen, reif oder – die (Wunder-)Kind-Schublade schließend – auch einfach dem Wesen des Werkes in jeder Form angemessen nennen kann, schlicht kein Thema sein. An einigen Stellen, vornehmlich im Zusammenspiel mit dem Orchester-Tutti, hätte ihr Spiel etwas kräftiger sein können, was wahrscheinlich doch (noch) der Physis geschuldet ist.

Gleich mit den ersten Takten Bruckner wird die Konzeption Tates klar: Geschwindigkeit raus, Gestaltung rein. Selten habe ich eine Bruckner-Sinfonie so langsam und dabei so differenziert und erhaben erlebt. Die Gefahr, daß diese ohnehin breite Musik ab einem gewissen Tempo ins Schleppen gerät oder gar zerfällt ist groß, wird jedoch von Tate durch einen konzentrierten Spannungsaufbau gebannt, der sich Zeit für die Feinheiten der Partitur läßt und den Aufbau besonders plastisch erlebbar macht – insbesondere das registerartige Schichten Bruckners erfährt hierdurch eine enorm transparente und gleichsam intensive Wirkung.

Wie so oft schöpft Tate Kontraste weniger aus dem Tempo-, denn dem Dynamikgefälle. Es gehört zu den absoluten Stärken des Chefdirigenten aufzuzeigen, daß es eben ungleich mehr gibt als laut und leise, welche feinen Abstufungen gerade im unteren Dynamikbereich möglich und für eine sensible Gestaltung bereichernd sind. Ein Prinzip, das vor allem auch im gewaltigen Adagio viel zu einer besonders weihevollen Lesart beiträgt, wenn sich die gewaltigen Bögen der Steigerungen aus zartesten Quellen speisen. Die dynamischen Spitzen der Sätze versieht Tate zudem oft mit einem ritardando, welches die Wucht dieser Gipfel ins kaum steigerungsfähige hebt.

Besonders spannend habe ich das Konzept des langsamen Grundtempos im Scherzo erlebt. Anders als beispielsweise kürzlich beim SOdBR (Link), wo Jansons mit seinem Hochgeschwindigkeitsdirigat einen regelrechten tänzerischen Taumel entfachte, bleibt Tate auch hier seiner Linie treu und zieht das – für mich durchaus ungewohnte – Tempo konsequent durch, was dem Satz eine gewisse bärbeißig-stoische Note als Rahmen für das Trio verleiht.

Das Orchester zeigt sich wieder einmal blendend aufgelegt, insbesondere Streicher und Blech wunderbar – die Blechgruppe von geradezu genialer Färbung, die einzelne kleine Wackler unerheblich werden läßt. Das ist der Bruckner-Sound!

Fazit: Sie wollen in Hamburg ein besonderes Konzert erleben? Die Hamburger Symphoniker unter Jeffrey Tate sind Ihre Wahl.

21. April 2015

Close-Up. Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, freie Platzwahl


Es scheint was dran zu sein an dem alten Spruch, des Menschen liebste Tätigkeit sei es doch, anderen Menschen bei der Arbeit zuzusehen. Zumindest legt dies der gleichsam verblüffende wie erfreuliche Anblick einer gut gefüllten Laeiszhalle nahe, wo heute weder die Aussicht auf Solisten von Weltgeltung noch ein besonders straßenfegerartiges Programm lockte, sondern ein schlichter Blick über probende Musikerschultern. Nun gut, der Faktor „Freier Eintritt“ wird seinen Anteil daran gehabt haben – geschenkt. Ohne ein ehrliches Interesse an der gemeinsamen Arbeit der Hamburger Symphoniker und ihres Chefs scheint mir ein derartiger Zuspruch dennoch unwahrscheinlich, schließlich gibt es durchaus andere Möglichkeiten kurzweiliger Abendgestaltung.

Nach einer guten Stunde „Close-Up“ hat sich schließlich freudige Erwartung in wohlige Gewissheit gewandelt – Es ist eine Wonne, Jeffrey Tate und sein Orchester bei der Probenarbeit begleiten zu dürfen. Die verschiedenen Kameras sorgen mit ihren Möglichkeiten der visuellen Orientierungshilfe für den idealen Rahmen, ansonsten ist die Angelegenheit erfreulich wenig an etwaige Befindlichkeiten der Beiwohnenden angepasst. Zu Beginn eines jeden Satzes der zu probenden Suite on English Folk Tunes „A Time there was“ von Benjamin Britten spricht Tate ein paar Worte zu Herkunft oder Inhalt der jeweiligen darin vom Komponisten verarbeiteten Melodien bzw. Lieder, deren musikalische Urform wiederum vom Konzertmeister oder einer Sängerin vorgestellt wird.

Das war es dann auch schon an Interaktion mit dem Publikum – glücklicherweise, schließlich versprach die Veranstaltungsankündigung einem „echten“ Einblick in die Probenarbeit eines Orchesters und nicht etwa eine moderierte Probe oder gar Crashkurs in Orchesterarbeit. So folgt nach dem ersten Durchspielen die gewissenhafte, mitunter mühsame und kleinteilige Arbeit an der Umsetzung der Partitur im Sinne des Dirigenten, der wiederum den Intentionen des Komponisten möglichst genau Rechnung zu tragen gewillt ist. An kritischen Stellen wird solange neu angesetzt, bis Tate seine Vorstellung zumindest weitgehend vermittelt sieht.

Diese Arbeit stellt die tongewordene Antwort auf die gern in naiv-provokanter Banausenweise geäußerte Frage, wozu ein Dirigent denn überhaupt Nutze sei. Sicher, die Instrumentalisten der Hamburger Symphoniker haben – Profis wie sie sind – ihre jeweiligen Stimmen gelernt oder aufgefrischt und wären sicher auch ohne einen Taktgeber in der Lage, vor allem altbekannte und oft intonierte Werke unfallfrei durchzuspielen. Nun handelt es sich bei Brittens Suite offenbar um ein opus, das neu für die Damen und Herren Musiker zu sein scheint, und das Verblüffende wie gleichsam Verständliche liegt darin, daß man dies – Profi hin, Profi her – beim ersten Durchspielen teilweise auch deutlich vernimmt.

Bitte nicht falsch verstehen – ich schätze die Hamburger Symphoniker als herausragenden Klangkörper, es ist nur für mich, der ihr Wirken gewöhnlich in der vollendeten Einstellung eines Konzertabends bewundert, besonders spannend zu sehen, daß auch in dieser Liga die Meister nicht vom Himmel fallen, sondern vor akustischer Perfektion harte Arbeit steht. Stellen, die sich besonders hartnäckig widersetzen, werden beispielsweise in verlangsamten Tempo mit den entsprechenden Orchestergruppen verinnerlicht, um sie dann auch in Regulärgeschwindigkeit zu bestehen.

Interessanter als das Umschiffen dieser rein technischen Klippen ist jedoch die Erarbeitung der Feinheiten in Interpretation und Ausdruck. Tates Schwerpunkt liegt hier – wie man schon aus dem Konzertbetrieb erahnen konnte – häufig im Herausarbeiten dynamischer Abstufungen. Im Zweifel wird eher heruntergeregelt, gemäßigt, um dann den Kontrast zu den Spitzen besonders deutlich zu gestalten. Weiterhin kommt der feinfühligen Realisierung von gesanglichen Linien eine große Bedeutung zu, sei es im Ganzen, in den Stimmen oder auch in Solopassagen („Peter!“) – zur Not trägt der Maestro auch mal die Ausführung eins Bogens aus eigener Kehle vor.

Dabei ist Tates Tonfall generell zwar bestimmt und fordernd, aber immer geduldig und aufbauend. Er verwendet wenig Worte für die Umschreibung dessen, was ihm vorschwebt, gerade in Bezug auf den angestrebten Ausdruck ist es faszinierend, wie knapp und präzise Tate formuliert, ohne sich in elegischen Umschreibungen zu ergehen. Trotzdem setzt er hier und da illustrative Vokabeln ein, wo es beispielsweise aus dem dem Lied zugrunde liegenden Text ableitbar und hilfreich für seine Musiker ist („hier mehr drohend – die Mutter ist böse!“).

Bei alledem ist die Atmosphäre konzentriert, aber, soweit ich das als Außenstehender überhaupt beurteilen kann, durch die besonnene Art des Chefdirigenten gleichzeitig fern jeder Drangsal. Tate weiß genau, was er will und geht dem konsequent nach, vergisst dabei aber z.B. auch nicht zu loben, wenn etwas gelungen oder auf dem richtigen Weg ist. Ein trockener, dabei sehr herzlicher Humor („das klingt bei Britten nicht nett, eher Mittelalter – Game-of-Thrones-like“) läßt diesem großen Dirigenten neben tiefstem künstlerischen Respekt auch die Sympathien des Publikums zufliegen.

Ich kann nur hoffen, daß das Konzept „Close-Up“ in Zukunft als fester Bestandteil bei den Hamburger Symphonikern eingeplant wird – diesem Orchester und seinem Chef ist man gerne nah.

9. April 2015

Gustav Mahler Jugendorchester – Jonathan Nott.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 2 c-Moll „Auferstehung“
(Chen Reiss – Sopran, Christa Mayer – Alt, EuropaChorAkademie)



Eine Erinnerung aus Kindertagen: Der Kopf in wohlige Taubheit gepackt. Finger, die sich dick anfühlen. Ein seltsamer Geschmack im Mund. Kennt man das? Ich kenne das. Ein Gefühl, vielmehr ein Zustand, der in meiner Kindheit recht häufig auftrat – zumindest bilde ich mir das ein – und der aus meinem Alltag verschwunden scheint. Von Zeit zu Zeit zurückgerufen durch besonders intensive Sinneseindrücke – wie die rauschhafte Gewalt, mit der heute Mahlers Zweite, insbesondere ihr Finalsatz, auf mich einstürzte.

Jonathan Nott meint es wirklich ernst, und er macht Ernst. Nach einer kaum verwindbar schmerzensreichen Neunten (Link) legte er heute eine gemeingefährliche Zweite nach und hat sich damit bei mir endgültig einen Platz im Kreise der besten Mahler-Dirigenten der Gegenwart gesichert. Nach dem Verklingen des letzen Akkordes hielt der Eindruck, soeben von einem ungebremsten Güterzug überrollt worden zu sein, ebenso wie dessen nachtönendes Indiz in den Ohren noch eine beachtliche Weile an – letzteres muß beileibe nicht als Gütesiegel gelten, ruft sonst eher Sorge um die akustische Unversehrtheit hervor – diesmal dachte ich mir nur: Ums Verrecken durfte mir dieser Höllenritt gen Himmel nicht durch die Lappen gehen!

In Reihe Fünf, im Zentrum der Entladungen, wohnte ich einem Konzert bei, das zwar weder durch technische Perfektion noch die Befriedigung all meiner ästhetischen Vorlieben punktete, umso mehr jedoch durch die bedingungslose, schroffe Lesart des alt bekannten und jedesmal neu geliebten Werks. Auf jeden Fall nicht die schlechteste Einstiegsempfehlung in das Mahlersche Œuvre, spätestens das Finale ist in Sachen Beeindruckungspotenzial kaum zu toppen. Sollte man zumindest meinen – der mal abwesende, mal irritierte Blick aus nebensitzenden Schüleraugen war wieder einmal ein schöner Beleg für die alte Volksweisheit „Wo nichts drin ist, kann auch nichts rauskommen“.

Egal. Was nehme ich für mich – unabhängig vom süffigen Gefühl der Erbauung und Berauschung – aus dem Abend mit? Daß Jonathan Nott der ideale Sparringspartner für Jugendorchester zu sein scheint. Einfach den jungen Damen und Herren ordentlich Zunder geben, das Außerordentliche anstreben. Da spielt es am Ende kaum noch eine Rolle, daß das Orchester hier und da mit kleinen technischen Problemen (Zusammenspiel/Einsätze; Intonation) zu kämpfen hatte, die Partitur fordert eben auch gewaltig. Viel wichtiger, daß der leidenschaftliche Ansatz Notts auch die Leidenschaft der jungen Musiker entfesselte. Er forciert, bringt Schärfe, beschleunigt – gleich die treibenden Streicherakzente des ersten Satzes geraten in diesem Konzept zu regelrechten Hieben.

Insbesondere den agilen, voranstürmenden Passagen kommt die Interpretation zugute, die kontemplativen Momente geraten hingegen zum Teil weniger anrührend als gehofft, was in erster Linie jedoch dem Orchester als solchem geschuldet ist, das mitunter Schmelz und die kollektive wie individuelle Fähigkeit für die erforderlichen Feinheiten vermissen lässt. Besonders spannend war es jedoch zu erleben, wie trotz krassester Klangballungen das Gefüge weitgehend durchhörbar blieb – Ein verblüffender Effekt, der gerade mit geschlossenen Augen besonders intensiv zu bestaunen war und noch im ohrenbetäubendsten Tutti für die ein oder andere neue Entdeckung sorgte.

Einzig der Chor schien mir entweder zu dünn besetzt oder etwas schwach auf der Brust. Jedenfalls fiel es den Damen und Herren teilweise schwer, gegen das Orchester anzukommen. Aber auch der a capella Einsatz der Herren hätte beispielsweise durchaus kräftiger ausfallen dürfen. Noch ein paar Worte zu den Solistinnen. Während ich mit Frau Mayers Stimme als solche nicht viel anzufangen wußte – weder Klangfarbe noch Ausdruck konnten dem Urlicht zum gewohnten innigen Höhepunkt verhelfen – muß ich ihr in puncto Diktion mein Kompliment aussprechen. Davon kann sich Frau Reiss durchaus noch etwas abschauen – die abgesehen davon natürlich ohne Zweifel über ein bezauberndes Organ verfügt.

Jetzt habe ich doch letztendlich viel herumgekrittelt, viel mehr, als es der fulminante Gesamteindruck vielleicht verdient gehabt hätte. Aber auch hier gilt wieder mal: Das Ergebnis ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Und der Gewinner des Abends ist ohnehin der Schöpfer dieses großen wie großartigen Werkes, das wie kaum ein zweites der Frage nach den letzten Dingen das Menschenmögliche entgegensetzt.

7. April 2015

Die tote Stadt – Simone Young.
Staatsoper Hamburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 12


Es war einmal ein Mann, der lebte, nachdem er seine Frau verloren und ihr Andenken in ein grotesk übersteigertes Heiligenbild verzerrt hatte, ganz in seiner eigenen bigotten Selbsttäuschung, in der er seine eigentlichen Wünsche und Triebe auf Kosten der einzig ihm nahe stehenden Frau zu verleugnen suchte.

Karoline Gruber liefert mit ihrer Inszenierung eine vielleicht extreme, aber grundweg stimmige und starke Interpretation dieser Geschichte, die man natürlich auch ganz anders auffassen könnte:

Es war einmal ein Mann, dem, da er nicht über den Verlust seiner geliebten Frau hinwegkommen konnte, in einer Traumvision die fatale Ausweglosigkeit seines Nichtloslassenkönnens vor Augen geführt wurde.

In meinen Augen spricht es umso mehr für Werk und Stoff, daß die bloße Handlung offenbar eine Fülle verschiedenster Gedanken, insbesondere bezogen auf die Motivation und Innenwelt der Beteiligten, freisetzt. Für die seinerzeit von mir besuchte Inszenierung in Hof (Link) müßte man beispielsweise als Konklusion einer Interpretation der Geschichte diesen Nachsatz ergänzen:

..., so daß er als Ausweg nur den Freitod sah und antrat.

Genauso denkbar wäre aber auch:

..., so daß er sich entschloss, ein neues Leben in einer anderen Stadt zu beginnen.

In den Regieanweisungen findet sich nichts, das einen anderen Schluß – im doppelten Sinne – als letzteren stützt? Nun ja, ganz so einfach sollte man es sich nicht machen. Zum einen spricht Paul davon, er wolle es „versuchen“ mit dem Freund die Stadt zu verlassen, darüber hinaus mögen zuvor die Worte aus seinem Mund zwar von Selbsterkenntnis und Katharsis zeugen – die Töne, in der sehnenden Stimmung des Lautenliedes aus dem ersten Akt verharrend, legen einen anderen Zustand nahe.

Was ist also richtig und falsch? Was rechtfertigt das obligatorische Buhen für die Regie bei Premieren? Jeder mag gutheißen oder verdammen, was er oder sie mag – beklagenswert wird es nur immer dann, wenn eine sensible Arbeit aus Unkenntnis, Unbedarft- oder Dummheit Ablehnung erfährt. Zum Glück – oder doch leider? – habe ich die Premiere dieser Produktion nicht besucht. Ich möchte Frau Gruber und ihrem ganzen Team an dieser Stelle nur sehr herzlich für diesen Abend und eine Interpretation danken, die nicht vordergründig gefallen, sondern zur Auseinandersetzung anhalten möchte. Ein Meisterwerk wie „Die Tote Stadt“ hat eben mehr verdient als eine szenische Umsetzung von Ausstattungs- und Spielvorschlägen.

Warum ich diese Regiearbeit so wertvoll erachte? Weil sie dem (männlich geprägten) Fokus des zerrissenen, leidenden, trotz allem Krankhaften letztlich doch romantisch verklärten (Anti-)Helden ein spannendes Gegengewicht in Form der weiblichen Dimension der Geschichte, der Folgen seines Handelns für die Frau(en) entgegensetzt. Hier namentlich Brigitta, die offenbar in einer Art therapeutischem Rollenspiel die Verkörperungen der weiblichen Sehnsuchtsphantasien Pauls übernimmt. Heilige oder Hure, Dienende oder Vamp – zwischen diesen Extremen oszilliert der Witwer, wobei es hier letztendlich ohne Bedeutung ist, ob die unantastbare Marienfigur und die Verderberin Marietta wirklich realen Ursprung besitzen. Das erscheint nur folgerichtig, denn auch ohne diesen radikalen Ansatz der Regie dürfte das von Paul propagierte Bild seiner verstorbenen Frau in erster Linie als ein Produkt konsequenter Verklärung gewertet werden. Wer ist schon (im Leben) so gut, so rein, so keusch, so – heilig?

Paul ist es jedenfalls nicht, daher schwingt er die Keule der Heiligkeit immer dann am bestimmtesten, wenn er mit seiner eigenen verleugneten Triebhaftigkeit konfrontiert wird. Im Grunde ist ohnehin alles seiner persönlichen Inszenierung unterworfen. Bestes Beispiel dafür stellt die Prozession dar, die daher in dieser Produktion auch keine katholische, religiöse ist, sondern eine reine Selbstprozession Pauls, eine grausam-egomane Mischung aus rauschhafter Selbsterhöhung und zerknirschter Selbstgeißelung. Der goldene Schrein – das goldene Haar, der Zug der Büßer – Pauls eigene wahnhafte Pseudoreligion, mit der er sein Leben umgeben hat, tritt hier grell und unmaskiert zutage.

Aber die Regie nutzt auch durchaus subtilere Momente, um die Handlung als seine Privatinszenierung zu entlarven: Gleich von Beginn an ist Paul anwesend, als Betrachter. Während Marietta das ihm bekannte Lied singt, hält nicht sie, sondern er selbst versonnen die Laute. Vollends auf die Spitze getrieben wird die Ahnung, es spiele sich wohl alles nur (noch) in Pauls Kopf ab, durch das einfache wie wirkungsvolle Requisit des leeren Bilderrahmens, der ja angeblich das Antlitz Maries beinhaltet. Wohlgemerkt kein unkenntliches oder leeres Bild, sondern ein Bilderrahmen ohne Inhalt – das wird an der Stelle deutlich, wenn Paul den Rahmen liebevoll putzt und dabei durch ihn hindurch greift. Es stellt sich die Frage, ob dieser Rahmen je ein reales Bildnis beherbergte.

Überhaupt ist der intelligente wie vielschichtige Einsatz von Requisiten hervorzuheben. Der Schal der Verstorbenen erfährt im kunsthistorisch tradierten Blau der Mutter Gottes als Tuch unterschiedlicher Größe mehrfache Verwendung. So beispielsweise bei der „Marienerscheinung“ im ersten Akt, wo das Ballett der Untoten aus Marietta Marie werden läßt – aber eben auch als Ausdruck für Pauls Verständnis von Sünde bzw. Untreue, wenn das blaue Gewebe die Stätte seiner ersten Liebesnacht mit Marietta markiert. Oder die Schneiderpuppe: Als Träger des roten Kleides die verkörperte Gegnerschaft in Mariettas Kampf gegen das Phantom Marie – als Teil der Prozession zu Pauls Privat-Monstranz umfunktioniert. Ein weiterer gelungener Kunstgriff besteht darin, die frivole Teufels-Pantomime als Schattenspiel mit zweckentfremdeten Requisiten zu gestalten. Allein das Bild, wie der durch die Perspektive vergrößerte Teufelsarm den Rettungsring-Heiligenschein von Helene fortnimmt, sucht an ästhetischer Qualität und inhaltlichem Witz seinesgleichen.

Häufig weist die Inszenierung durch bestimmte Elemente gerade auf deren Doppelbödigkeit hin. Das Goldene Haar ist allgegenwärtig als Zeichen von Pauls größtem Schatz – Haar als solches fungiert hier jedoch immer wieder auch als Vanitassymbol. Die Frauengestalten werden (als Folge eines Eingriffs?) ihrer Haarpracht teilweise beraubt und auch dem Neugeborenen werden die blonden Strähnen ausgerissen. Der die Bühne dominierende Sand spiegelt einerseits die Farbe des Haares wieder, steht andererseits für das versandete Brügge und Pauls verschüttetes Inneres, aus dem die Requisiten der Handlung freigelegt werden. Verstörend auch, wie einfach die Nähe zwischen feierlich getragenem Prozessionsaltar und Sarg hergestellt wird. Der ins Riesenhafte vergrößerte Zopf schließlich, in seiner Funktion eher ein ausgewachsenes Seil, findet mit dem Bild des Tauziehens noch einmal eine Entsprechung für den grundsätzlichen Konflikt – Mann und Frau heißt hier Mann gegen Frau.

Und auch bezogen auf die Personenregie verstehen die Verantwortlichen ihr Handwerk. Niemand steht dumm herum, die Abläufe vom großen Ganzen bis zur Geste im Detail sitzen. Zudem werden die Darsteller bei den wichtigen Stellen erfreulich sängerfreundlich positioniert – Rampennähe ohne tumbe Rampensteherei. Die Behandlung der Ensemble- und Chorszenen erfolgt in der gleichen plausiblen, organischen Weise – selbst wenn es sich um etwas Artifizielles wie den zombiehaften Gang des Prozessionschores handelt. Der sinnhafte Einsatz von Statisten trägt zudem – neben den überaus gelungenen Kostümen – einiges zur dichten Atmosphäre der Inszenierung bei. Ein Beispiel hierfür sind die braven Bürger Brügges, die in ihrem maskenhaften, zugeknöpften Auftreten, die immergleichen, beinahe übersprungshandlungsartig ausgeführten floskelhaften Gesten repetierend – der Blick auf die Uhr, eine knappe stumme Begrüßung – die schon fast mumifiziert-moralinsaure Kleinbürgerlichkeit umherstolzieren lassen.

Zur musikalischen Güte des Abends möchte ich gar nicht so viele Worte verlieren. Außer Frage steht, daß Simone Young uns mit ihren Philharmonikern heute eine der stärksten Leistungen geschenkt hat, die ich in ihrer Hamburger Amtszeit erleben durfte. Besser ist der Korngoldsche Klangfarbenrausch live nicht umzusetzen. Für eine besonders angenehme Überraschung sorgte das herrlich aufgelegte Ensemble der Komödiantentruppe mit ihrer schillernd morbiden Spiegelung Brügges in den Kanälen Venedigs.

Bei der Betrachtung der Solisten ragt Herr Vogt turmhoch heraus. Auch die übrigen Sänger liefern Ordentliches ab, aber hier kann man wohl tatsächlich von einer absoluten Idealbesetzung für die Rolle des Paul sprechen. Während Herr Vasar als angehender Todesbote seine schöne Stimme weitgehend unlyrisch mit Schwerpunkt auf Lautstärke ins heldisch-gaumige verdröhnt, Frau Damian ihre ebenfalls schöne Stimme relativ diktionsschwach ins Auditorium sendet und Frau Miller zwar hier und da mit den Tutti zu kämpfen, ihre eindrucksvollsten Momente aber ohnehin in den zarten Passagen des 3. Bildes hat, ist der unbestreitbare stimmliche wie darstellerische Dreh- und Angelpunkt durch den Ausnahmetenor reserviert.

Auch wenn ich persönlich dem mitunter fast androgynen, entkörperlicht-klaren Charakter von Vogts Stimme in der Vergangenheit durchaus eher zwiespältig gegenüberstand, gerät seine Kunst zum Ereignis des Abends. Überraschend heldisch in den dynamischen Spitzen, auch das ärgste Orchestertutti durchschneidend, durchweg mit lupenreiner Diktion und schließlich in den innigen Momenten der Partie von einer berückend-fragilen Anmut, die in ihrem dem Leben entrückten Kristallklang der Zerrissenheit Pauls verstörenden Ausdruck verleiht. Die Darstellung, zwischen wahnhafter Raserei und Selbstauflösung changierend, unterstreicht den Eindruck eines Mannes, der, seiner geistigen und seelischen Gesundheit beraubt, das Diesseits für sich und sein direktes Umfeld zum permanenten Fegefeuer werden läßt. Das ungeborene Leben als reale Konsequenz seiner auf Verdrängung ausgerichteten Existenz ist ein eindringliches Bild und unmißverständlicher Appell, aus Traum zu Verantwortung zu gelangen – der im Falle Pauls leider ungehört bleibt.


Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Karoline Gruber
Bühnenbild – Roy Spahn
Kostüme – Mechthild Seipel
Licht – Hans Toelstede
Chor – Eberhard Friedrich
Hamburger Alsterspatzen – Jürgen Luhn
Dramaturgie – Kerstin Schüssler-Bach
Choreografie – Stefanie Erb
Spielleitung – Heide Stock
Musikalische Assistenz – Daniel Carter

Paul – Klaus Florian Vogt
Marietta/Die Erscheinung Mariens – Meagan Miller
Frank/Fritz – Lauri Vasar
Brigitta – Cristina Damian
Juliette – Mélissa Petit
Lucienne – Gabriele Rossmanith
Victorin – Jun-Sang Han
Graf Albert – Jürgen Sacher

Philharmoniker Hamburg