11. Juni 2015

Berliner Philharmoniker. Gustavo Dudamel.
Philharmonie Berlin.

20:00 Uhr, Block C rechts, Reihe 5, Platz 2



Wolfgang Amadeus Mozart – Serenade D-Dur KV 320
(„Posthorn-Serenade“)


(Pause)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 1 D-Dur



Gebt dem Mann dieses Orchester! Ok, er hat es ja bereits, zumindest heute und bei all den anderen Gelegenheiten, zu denen Gustavo Dudamel jenen himmlischen Klangkörper als Gast leiten darf. Wäre in jedem Fall nicht die schlechteste Option der im Zuge der Chefdirigentenwahl kolportierten Kombinationen gewesen. Ganz sicher jedenfalls für Mahler (Herr Petrenko wird seine Sache sicher gut machen, davon konnte ich mich unter anderem 2014 in Bayreuth überzeugen (Link)). Das gern bemühte Klischee des feurigen Lateinamerikaners, dem zwar Verve und rhythmische Ekstase quasi per Muttermilchdekret abgekauft, teutonische Tiefe und ernste Abendlandpflege mit dem gleichen routinierten Griff in die enge und leicht klemmende Ressentiment-Schublade jedoch abgesprochen werden, zerfiel spätestens heute unter den erdbebenartigen Schockwellen der Wonne zu einem Häuflein Staub, welches sich ganz leicht unter das Bravo-umtoste Dirigentenpult fegen ließ.

Die heutige Mahler-Darbietung stellt ohne Übertreibung die beste Aufführung dieser Sinfonie dar, der ich jemals beiwohnen durfte. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, daß Dudamels Interpretation, unvergleichlich umgesetzt durch die Berliner Philharmoniker, den eigentlich unsinnigen, weil der Vielzahl subjektiver Vorlieben entgegenstehenden Begriff der Referenz heute mit Leben gefüllt hat, wie kaum ein Konzerterlebnis zuvor. Ich selbst bin ein Freund der Extreme. Extreme Härte (Solti) oder extreme Sensibilität (Maazel), sind scheinbar unvereinbare Gegensätze, die ich als zwei für mich gleichsam stimmige und stimmungsvolle Sichtweisen auf ein und denselben Gegenstand gerade in ihrer Verschiedenheit lieben gelernt habe (wobei die bemühten Begriffe die jeweilige Konzeption nur allzu grob vereinfacht beschreiben). Der Mittelweg ist für mich, gerade bei Werken, die ich besonders schätze und gut zu kennen glaube, oft eben nicht der Königsweg. Dudamel nun schafft mit seiner Arbeit, zumindest mit der Vorlage dieser Ersten, so etwas wie die Vereinigung der Extreme, oder besser: er reizt das musikalisch Mögliche aus dieser Sinfonie aus, ohne dabei das Werk insgesamt in die eine oder andere Richtung zu „radikalisieren“. Ich kann es nicht anders ausdrücken, als daß heute Wesen und Konzept dieser Sinfonie idealtypisch präsentiert wurden.

Woran mache ich das fest? Nehmen wir einmal beispielhaft das Tempo. Über die gesamte Sinfonie gesehen kann man nicht behaupten, daß Dudamel hier Extreme vorlegt – wir erleben weder ein permanentes Hochgeschwindigkeitsdirigat, noch lässt er sich besonders viel Zeit. Es ist vielmehr so, daß sich dieser Mann innerhalb eines auf den ersten Blick recht konservativ anmutenden Rahmens bestimmte Freiheiten herausnimmt, die das Gesamtergebnis ungeheuer organisch, lebendig, frisch wirken lassen. So forsch-drastisch die Wiederkehr des Scherzo-Ländlers nach dem Trio hervorprescht, so kontemplativ-versonnen gestaltet er Einsatz und Verlauf der „Lindenbaum“-Passage im dritten Satz. Wobei an jenen Stellen die erzielte Wirkung nicht von der jeweiligen Akzentuierung bzw. Artikulation zu trennen ist. So tischt uns Dudamel den Ländler des zweiten Satzes mit einer solchen Derbheit auf – man versuche, sich dem krachenden Überschwang der verzögerten Stampfer zu entziehen – wie ich sie mir „authentisch“ bäuerlicher nicht träumen könnte. Spannend zudem, wie der Dirigent dieses Mittel der Verzögerung an ganz anderer Stelle ähnlich einsetzt, um im Finale das Auftürmen der großen Steigerungen noch wuchtiger zu realisieren. Unbeschreiblich beispielsweise das mitreißende Moment, welches kurz vor dem Schluß des Werkes durch den Kontrast des letzten, mit wuchtig retardierenden Schritten genommenen Gipfels und das unmittelbar darauf folgende befreite Davonstürmen der Hörner erzielt wird.

Auch der Dynamik kommt bei Dudamel in Kombination mit den angesprochenen Mitteln eine unglaublich feinsinnige und differenzierte Behandlung zugute. Besagtes „Lindenbaum“-Thema habe ich im Konzertsaal nie zarter erlebt – der Schatten einer seligen Erinnerung aus fast vergessner Zeit. Dem gegenübergestellt die unerbittliche Vehemenz der grimmigen Aggressionen des Finalsatzes, durchbrochen vom schüchternen Aufblühen des warmherzigen Streichergesangs, schroff kontrastiert, umkämpft, abgelöst von Reminiszenzen an den ersten Satz, mit diesen verwoben, erneut entflammt, um letztlich, nach der zunächst noch vertagten Erlösung durch den Choral, in eben dessen vollendeter Gestalt die triumphale Erfüllung zu finden. Ein unbeschreiblicher Jubel in der Musik – gefolgt von grenzenlosem Jubel im Saal. Freude und Dankbarkeit.