26. Juli 2015

Klavierabend – Grigory Sokolov.
Kieler Schloss.

19:00 Uhr, Parkett links, Block A, Reihe 1, Platz 1



Johann Sebastian Bach – Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825
Ludwig van Beethoven – Sonate D-Dur op. 10, Nr. 3

(Pause)

Franz Schubert – Sonate a-Moll op. 143 D 784
Franz Schubert – Moments musicaux op. 94 D 780

6 Zugaben:
Frédéric Chopin: Auswahl von vier Mazurken
Frédéric Chopin: Prélude Des-Dur op. 28/15 «Regentropfen-Prélude»
???



Was soll man groß über Perfektion schreiben? Ebenso wie der Meister selbst sich vollkommen auf den Vortrag konzentriert, jede überflüssige Geste meidet, möchte ich es nach meinen letzten Elogen (Link und Link) bei wenigen Worten belassen: Sokolov ist der Beste. Die Kontrastwirkungen, die er aus seinem konkurrenzlos differenzierten Anschlag schöpft, sind erschütternd. Die Ernsthaftigkeit und Tiefe, bei dem gleichzeitig vermittelten Eindruck von Selbstverständlichkeit, verleihen seinen Interpretationen trotz aller Eigenwilligkeit etwas Unantastbares. Sein unwiderstehlich perlender Bach stimuliert den Geist, sein Beethoven kontrastiert das Bild des titanischen Zertrümmerers mit beinahe schmerzhafter Verletzlichkeit. Das allzu bekannte Regentropfen-Prélude als Zugabe ist bei ihm kein kalkuliertes Rührstück, ersteht vor unseren Ohren wie zum ersten und einzig richtigen Mal, trifft unter seinem kontrolliert verlöschenden Vortrag mehr ins Herz als jedes sentimentale Forcieren. Kurz: Wann immer sich eine Gelegenheit bietet, Sokolov zu hören – man sollte sie wahrnehmen. Näher wird man der Musik, ihrem Wesen, an anderer Stelle kaum gelangen.

11. Juli 2015

Der Freischütz – Marc Piollet.
Staatstheater Darmstadt.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 70


Da dachte ich: Wo Du grad in der Gegend bist, fährste mal nach Darmstadt und schaust Dir endlich einen Freischütz an. Tja, leider wird diese peinliche Bildungslücke in meiner Vita vorerst weiter bestehen, da Frau Höckmayr in Darmstadt nicht Willens war, einen Freischütz auf die Bühne zu bringen. Oder sagen wir mal mehr als ein Stück Therapietheater frei nach Webers Freischütz. Ziemlich schade das, steht doch die musikalische Güte dieses Abends vollkommen außer Frage. Blöd nur, wenn man dem Werk und seiner Musik offenbar nicht vertraut und lieber sein eigenes Süppchen kochen möchte. Oder vielmehr ein Psycho-Gulasch aus dem Freischütz Kinds und Webers und der Vorlage von Apel. 

Klar kann ich verstehen, daß man nach der x-ten, in braver Repertoirepflege gegossenen Freikugel mal eine neue Legierung probieren möchte – nur sollte diese dann auch treffen. Man kann ja gern hübsch artig seine Sekundärliteratur wälzen und schlaue Dinge über Werk und Entstehung ausgraben, welchem ernsthaften Musikfreund machte dies keinen Spaß. Als Regisseur sollte man allerdings, so schwer dies auch fallen mag, die Freude über seine spannenden Entdeckungen im Interesse aller Beteiligten tunlichst kanalisieren und nicht dazu verwenden, den eigentlichen Gegenstand der Betrachtungen bis zur Unkenntlichkeit zuzustellen. Es ist nämlich kein Geheimnis, daß Ließchen Müller eh nichts davon durchholt und selbst interpretationszugängliche Zeitgenossen im Zweifel die Oper sehen wollen, die auf dem Ticket ausgewiesen steht. Aber vielleicht bin ich als Freischütz-Jungfrau ja auch auf dem Holzweg.

Ist die Dramaturgie von Kind tatsächlich so mies, daß es all dies Soundbrimborium, das Atmogesäusel aus David Lynchs Papierkorb und die bedeutungsschwangeren „Textcollagen“ braucht? Ist ja schön und gut, daß die Vorlage ein anders, offenkundig diffuseres Licht auf die handelnden Personen wirft, aber könnte es nicht sein, daß Weber und Kind sich etwas bei ihrer Einrichtung für die Bühne gedacht haben? Was ist so falsch daran, mit einer klaren Gut/Böse-Konstellation zu arbeiten – ungeachtet der Erkenntnis, daß es sich dabei um zwei mehr ersehnte und verwünschte als in der Realität eindeutig trennbar anzutreffende Zustände handelt?

Die verwirrende, durch permanente, fragmentarische Vermischung der verschiedenen Textquellen und -Ebenen evozierte (Pseudo-)Ambivalenz, die dem Stück durch die Regie übergestülpt wurde, führt weniger zu der wohl beabsichtigten differenzierteren Seelenschau, sondern unterbindet in erster Linie den Fluß der Handlung, ja verschleiert diese regelrecht und weicht insbesondere den inneren Konflikt des Bräutigams in spe sogar auf. Ok, Max ist also nicht allein die von Selbstzweifeln geplagte gute Seele, sondern ein ziemlicher Waschlappen, der immerzu Stimmen hört und auch sonst seinem Gebaren nach besser von Schusswaffen ferngehalten werden sollte. Ach komm, geben wir noch einen obendrauf – machen wir einen Kriegsverbrecher aus ihm!

Die arme Agathe, obwohl, so richtig rund läuft das Mädel auch nicht, fragt in bester „Wir müssen mal drüber reden“-Beziehungsdrama-Peinlichkeit, wiederholt ob sie Max gefällt und scheint angesichts ihrer psychischen Konstitution auch eher der Zwangsjacke als dem Brautkleid zuzustreben. Ein schönes Paar! Aber eigentlich hat hier eh niemand alle Latten am Jägerzaun, zumindest suggeriert das die verworrene, schubweise „Erzählweise“. Da möchte man sich beinahe auf die Seite Kaspars schlagen, damit es endlich ein Ende mit dem Genöle des Psychopärchens hat.

Dem Carsen in Wiesbaden hatte ich ja nahegelegt, lieber Opernfilme zu drehen, vielleicht sollte es Frau Höckmayr mit Hörspielen versuchen. Freischütz, das Hörbuch, oder: Was Sie sich schon immer nie über dieses Werk gefragt haben – hier wird es ausgesprochen. Und das gleich mehrfach! Monologisiert wird wirklich viel, gern auch da, wo man vielleicht besser mal etwas altmodischen Bühnenzauber bemüht hätte – die Wolfsschluchtszene ist der Gipfelpunkt dieser Offtext-Orgie. Was gibt es spannenderes auf einer Opernbühne, als eine unglaublich atmosphärische, stimmungsvolle Szene einfach nur erzählt zu bekommen, eben so ganz OHNE Atmosphäre und Stimmung! Wie gesagt, nicht mal gesungen, nein, in dröger Litanei ins Auditorium geraunt, gewissermaßen als innerer Film Agathes, die ihrem Schatzi (gedanklich) als Stalker beim Freikugelritual nachsteigt, das in etwa so fesselnd ausfällt wie Bleigießen zu Sylvester. Schade um Webers im doppelten Sinne fantastische Musik, über die brutal hinweggelabert wird.

Die Musik, ach ja, da war ja was – wir befinden uns ja nach wie vor in einer, wie ich mir habe sagen lassen, recht bekannten und beliebten Oper. Zumindest sind mir die musikalischen Gründe für diese ungebrochene Beliebtheit trotz aller Sabotageversuche durch die Regie nicht verborgen geblieben. Oder anders ausgedrückt: Das Staatstheater Darmstadt hat es durchaus drauf! Wohlige Klänge entsteigen bereits mit der wunderbar kontrastreich vorgetragenen Ouvertüre dem Orchestergraben, Klangkörper, Dirigat und Akustik befinden sich auf hohem Niveau, das ist sofort klar. Auch im Folgenden steht das musikalische Vermögen turmhoch über der szenischen Umsetzung.

Diese Diskrepanz wird an den Sängern, die in diesem kleinen Fernsehspiel für Arme agieren müssen, auf besonders tragische Weise deutlich. So unsympathisch jammerlappig Mark Adler auch in seiner Rolle wirkt, so ungetrübt ist sein musikalischer Beitrag. Susanne Serfling gibt stimmlich eine wundervolle Agathe, gerade intime Szenen wie das bekannte „Leise, leise ...“, das ich heute ebenfalls zum ersten Mal hörte, wurden zu stillen Triumphen des Abends. Frau Serflings Stimme besitzt nicht allein eine schöne, warme Färbung, sondern bringt genau die innige Pianoqualität mit, die den Zuhörer berührt. Auch die anderen Ensemblemitglieder hätte ich gern in einer vernünftigen Produktion kennengelernt, so bleibt letztendlich nur die Ahnung von Größe in kleinlichem Gewande.

Fazit: Trotz aller dramaturgischen Entstellungen macht diese Musik Lust auf mehr. Mehr Weber, mehr Freischütz, mehr Musiktheater!


Carl Maria von Weber – Der Freischütz
Musikalische Leitung – Marc Piollet
Inszenierung – Eva Maria Höckmayr
Bühne und Kostüm – Julia Rösler
Video und Komposition – Martin Baumgartner
Dramaturgie – Mark Schachtsiek
Einstudierung Chor – Thomas Eitler-de Lind
Einstudierung Kinderchor – Ines Kaun

Der Ahnherr (Ottokar) – David Pichlmaier
Kuno, kurfürstlicher Erbförster – Thomas Mehnert
Agathe, seine Tochter – Susanne Serfling
Ännchen, eine junge Verwandte – Jana Baumeister
Kaspar, erster Jägerbursche – Renatus Mészár
Max, zweiter Jägerbursche – Mark Adler
Die Autorität im Dorf (Akt I und II – Samiel) – Andreas Wellano
Die Autorität im Dorf (Akt I und II – Eremit) – Stefan Bootz
Kilian, ein reicher Bauer – Andreas Wagner
Brautjungfern – Kinderchor des Staatstheaters Darmstadt (Julia Degenhardt, Thekla Gerspach, Amelie Gorzellik, Lea Hammerschmidt, Emilie Heinz, Iris Kißner, Kara Saliger, Elisabeth Schäffter, Violetta Schreider, Larissa Seibel, Marie-Luise Stephan, Meike Suszka)
Erster fürstlicher Jäger, Sprechrolle – Malte Godglück
Zweiter fürstlicher Jäger, Sprechrolle – Tom Schmidt
Ein Freund Kunos – Horst Rosenfeld

Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Statisterie des Staatstheaters Darmstadt
Staatsorchester Darmstadt

10. Juli 2015

Der Ferne Klang – Dan Ettinger.
Nationaltheater Mannheim.

19:30 Uhr, Parkett Aufgang B, Reihe 10, Platz 19


Das Nationaltheater Mannheim mag den architektonischen Charme bundesdeutscher Parkhäuser versprühen – in seinem Inneren spielen sich durchaus sehens- und hörenswerte Dinge ab. Erhebt man sich aus seinem Barcelona-Chair und durchmisst das imposante Flugterminal-Foyer Richtung Zuschauerraum, findet man nach dem Aufstieg durch leicht muffige Korridore einen zwar von an Feuerleitern erinnernden, zu den Logen führenden Treppen umklammerten, aber akustisch überraschend ausgewogenen Saal vor. Ein bisschen trocken vielleicht – wenn man nett ist, könnte man auch „objektiv“ sagen – aber gerade angesichts der Dimensionen ziemlich differenziert ohne Homogenität einzubüßen. Das klingt schon alles mehr als ordentlich, was da den auf seinem Sitz, Modell Klappspaten, lauschenden Besucher umschallt.

Es flirrt und glitzert, es rauscht und schwillt, wie es sich für die Schreker’sche Zauberharfe gehört, die der Tonsetzer in dieser Oper gleich praktischerweise mit zum Gegenstand der Handlung erkoren hat. Die Suche nach jenem fernen Klang, die tongewordene Sehnsucht, Musik über das Streben nach der perfekt tönenden Farbe – die autobiographische Nähe zum Oeuvre des Verfassers selbst könnte wohl kaum enger sein. Und doch geht es um mehr als Fritz/Franz und seine wunderliche Suche, die uns ja auch nur am Anfang und Ende der Oper tatsächlich beschäftigt, im Zentrum der Oper steht das Schicksal Gretes, der von ihm Verlassenen.

Cornelia Ptassek füllt diese Rolle mit der nötigen Bühnenpräsenz und jugendlicher, weicher Stimme ohne störende Schärfe aus. Oft ist es ja nur ein Blick oder eine Geste, die zwischen hölzernem und lebendigem Spiel unterscheidet, gerade bei dieser Figur ist es ungemein wichtig, dass man die wechselvollen Stationen ihres Lebens mit Anteilnahme verfolgt. Ein besonders gelungener Moment ist mir im Übergang zum Venedig-Akt in Erinnerung geblieben, wo Grete voller Verwunderung aber auch Neugier auf die sich vor ihr entspinnende Szenerie reagiert, und somit gleichsam die Wandlung von der kleinen Grete zur „sündigen“ Greta markiert wird.

Überhaupt gibt es an der Inszenierung kaum etwas auszusetzen, gleichwohl sie mich nicht zu Begeisterungsstürmen hinriss. Plausibel, dienlich – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Weitestgehend unopulent, schaffte es die Regie dennoch, dem Rausch der Musik eine stimmige Bühne zu schaffen. Vielleicht hätte eine stärker ausgeprägte, originäre Ästhetik geholfen, aus einer guten eine besondere Produktion zu machen. Ansätze waren durchaus vorhanden, beispielsweise mit dem visuellen Leitmotiv der kleinen Hütte, die als Keimzelle und Ort der Erinnerung für die Liebe des Paares ein starkes Bild darstellte – zumal in ihrer Gestalt als Ruine im letzten Akt. Mit den in diesem Zusammenhang eingesetzten Videos, die auf das rotierende Bühnenbild der Drehbühne projiziert wurden, und die Liebesgeschichte weiter illustrierten, konnte ich hingegen nicht viel anfangen. In Kombination mit der hochemotionalen Musik ergab sich ein eher kitschiges denn romantisches Gesamtbild. Geschmackssache.

Viel mehr gibt es auch nicht zu berichten. Eine gute Orchesterleistung unter stimmiger Führung, ordentliche Sänger, eine vernünftige Regie – ergibt einen zufriedenstellenden Mannheim-Besuch. Nimmt man das dramatische und emotionale Potenzial des Werkes als Maßstab, hätten es durchaus ein, zwei Prisen mehr Begeisterung sein können, aber ein guter Abend bleibt ein guter Abend und nach dem Wiesbaden-Desaster überwog die Erleichterung, nicht gleich zweit Herzensopern hintereinander verunfallen zu sehen.


Franz Schreker – Der Ferne Klang
Musikalische Leitung – Dan Ettinger
Inszenierung – Tatjana Gürbaca
Bühne – Marc Weeger
Kostüme – Silke Willrett
Licht – Christian Wurmbach
Video – Thilo David Heins
Dramaturgie – Merle Fahrholz
Chor – Anton Tremmel

Grete Graumann – Cornelia Ptassek
Fritz – Michael Baba
Der alte Graumann / Der Baron – Sung Ha
Die Frau des alten Graumann – Petra Welteroth
Der Wirt / Rudolf – Sebastian Pilgrim
Ein Schmierenkomödiant / Der Graf / Der Schauspieler – Raymond Ayers
Dr. Vigelius – Bartosz Urbanowicz
Ein altes Weib – Edna Prochnik
Mizzi – Tamara Banješević
Milli – Dorottya Láng
Mary – Estelle Kruger
Eine Spanierin / Kellnerin – Evelyn Krahe
Der Chevalier / Ein zweifelhaftes Individuum – Johan Tralla
Erster Chorist – Ziad Nehme
Zweiter Chorist – Stephan Somburg
Ein Mädchen – Eun Young Kim
Eine Choristin – Juliane Herrmann
Eine andere Choristin – Gerda Maria Sanders
Ein junger Mann – Bertram Paul Kleiner
Ein Polizist – Karl Adolf Appel
Gäste – Giorgi Bekaia, Jun-Ho Lee, Bertram Paul Kleiner, Wolfgang Heuser, Junchul Ye, John Dalke, Chi Kyung Kim

Chor, Extrachor, Orchester und Statisterie des Nationaltheaters Mannheim

9. Juli 2015

The Turn of the Screw – Zsolt Hamar.
Staatstheater Wiesbaden.

19:30 Uhr, Orchestersessel links, Reihe 2, Platz 14



„Wenn es schön wird, fress ich nen Besen!“ – Das ist genau die Art bedingungslose Aufgeschlossenheit, die den Zauber der Musik im Herzen zur Entfaltung kommen läßt! ... „Naja, es ist ein ganz neues Werk, es wurde erst vor kurzem uraufgeführt.“ – In Reihe drei hat man Nachsicht mit der Moderne, gut, es geht sicher vielen der Anwesenden so, als wären die Fünfziger erst gestern gewesen. ... „Du, wir gehen in der Pause – es sei denn, es ist schön.“ – Genau! Verpisst euch! Schön mich am Arsch!

Der heutige Abend stand, sagen mir mal, atmosphärisch, unter keinem ganz günstigen Stern. Das Staatstheater Wiesbaden hatte zur letzten Drehung der Schraube in dieser Spielzeit geladen – und Dumm und Dümmer folgten dem Ruf. Eigentlich war alles dabei, was man als Konzentrationswilliger so gar nicht gebrauchen kann. Die Zuspätkommer, die Laberfritzen, die Tütenknisterer und Bonbonraschler, Krupphustler, gackernde Teenies, und zu guter Letzt ein ebenso seltenes wie nervtötendes Exemplar – die Ledertaschenwürgerin. Sicher schlimm, wenn man seine Flossen nicht mehr ruhig halten kann, aber dann soll sie halt einen Knautschball oder ihren Steiff-Teddy aus alten Tagen drangsalieren – das permanente Geräusch von quietschendem Leder macht sich in etwa so gut wie lange Fingernägel auf einer Kreidetafel.

Man könnte nun mit einer gewissen Häme von Glück im Unglück sprechen, daß heute auch auf der Bühne nicht viel zu holen war. Als Hauptmanko dabei erwies sich die in der Einführung vollmundig angepriesene Regiearbeit Robert Carsens. Die Inszenierung gibt sich hochästhetisch, zeichnet sich jedoch in erster Linie durch gepflegte Langeweile, biederen Realismus und Video-Versatzstücke aus, die in entscheidenden Momenten Chancen für Kulminationspunkte vergeben. Gleich nach dem hölzern vorgetragenen (Thomas Piffka sollte sich auch im Folgenden nicht als Britten-Tenor erweisen), von Schwarzweißaufnahmen begleiteten Prolog im Stile einer Vorlesung nimmt das Elend seinen Lauf, indem es Carsen vorzieht, die Gedanken der Gouvernante während ihrer Anreise komplett als Film umzusetzen, statt der Protagonistin mehr als Gesang aus dem Off abzuverlangen.

Ich will gar nicht sagen, daß das generell eine dumme Idee ist, obwohl ich schon sagen muss, daß in diesem konkreten Fall Musik und Gesang zur bloßen Untermalung eines Opernkurzfilms verkamen, viel entscheidender ist jedoch die Qualität des Filmes an sich, bzw. vielmehr der in Großaufnahme gezeigten Emotionen der Darstellerin. Carsen und/oder seine Filmleute verstehen technisch ihr Handwerk, das Filmchen sieht gut aus und wartet mit „professionellen“ Einstellungen und Schnitten auf – allein was nützt es, wenn Claudia Rohrbachs Minenspiel irgendwo zwischen Karikatur und Miss Marple-Handwerk anzusiedeln ist. Schade auch, daß sich diese Form des Overactings bei ihr die gesamte Handlung hindurch nicht legte. Da habe ich die Gouvernanten in Bremen (Link) und Düsseldorf (Link) doch auf deutlich subtilere Art dem Wahn verfallen sehen.

Kommen wir auf den angesprochenen Realismus zurück. Daß Realismus oder Naturalismus für mich keine Schimpfworte sind, sollte in meiner Eloge für die Hildesheimer Umsetzung der Karmeliterinnen (link) deutlich geworden sein. Hier wird jedoch wieder einmal die alte Binsenweisheit offenkundig, demzufolge sich das Einfache mitunter als das Schwerste herausstellt. Die Figuren haben hier nicht viel zu tun, als der Handlung gemäß dem Libretto zu folgen, und das tun sie so gut oder schlecht sie eben Kraft mehr oder weniger vorhandenen schauspielerischen Talents im Stande sind. Bei ausgewiesenen Sängerdarstellern mag das reichen, heute in Wiesbaden wurde eigentlich niemand so recht der intimen Intensität dieses Kammerspiels gerecht.

Ein weiterer, daraus resultierender Umstand lag darin, daß die Geschehnisse enorm von ihrer mysteriösen, ambivalenten Stimmung einbüßten und teilweise erschreckend banal daher kamen. Dabei steckt darin doch ungleich mehr als eine öde Spukgeschichte. Bei Carsen sind Szenen à la Hui Buh das Schlossgespenst an der Tagesordnung. Einfach nur unfreiwillig komisch beispielsweise die Versuche der Gouvernante, Mrs. Groose die in bester Schlotterstein-Tradition mit Kerze am Fenster vorbeigruselnde Ms. Jessel zu zeigen, die sich aber jedesmal in letzter Sekunde den Blicken der Alten entzieht, die dadurch ziemlich vertrottelt rüber kommt. Sollte es nicht vielmehr darum gehen, dass sie entweder noch nicht den Involvierungsgrad der Gouvernante erreicht hat oder schlichtweg nichts sehen will? Egal.

Im Gegensatz zu all dem braven und biederen Mummenschanz (Bei dem übrigens zumindest die Technik halbwegs mitspielen sollte – Der „Effekt“, bei dem Quint Miles Bett im Abstand von zwei, drei Metern „wie von Geisterhand“ vor sich her schiebt, gehört in seiner ruckelnden, timingbefreiten Amateurhaftigkeit in eine Geisterbahn, nicht auf die Theaterbühne) gibt sich Carsen bei der nächtlichen Heimsuchung der Kinder dann (Möchtegern-)provokant. In der verschwurbelten, das Traumhafte verbildlichen wollenden aber verfehlenden Videosequenz werden Miles und Flora (erneut?) Zeuge des Beischlafs von Quint und Ms. Jessel. Auch hier gilt: Der wirkliche Horror speist sich ungleich stärker aus Andeutungen und den Wegen der eigenen Ahnungen als aus ein bisschen nackter Haut. Einzig starker Carsen-Moment in zwei Stunden: Der flüchtige Versuch Miles, die Gouvernante bei der Unterredung auf der Bettkante zu küssen – dies allein hätte (ohne die vorangehende Peepshow) viel radikaler die Frage gestellt, was sich zwischen den Kindern und den verschiedenen „Verführern“ wohl in diesem Haus abgespielt haben mag.

Dieses Werk muß einfach in der Schwebe gehalten werden, das Konkrete ist der Tod dieser Oper! Aber geschenkt, vielleicht hätte ich schon bei dem Stichwort „Opernkrimi“ aus der Einführung das Weite suchen sollen. Nun denn, ich wäre um eine durchweg gute Orchesterleistung und das sehr engagierte Dirigat des Herrn Hamar gebracht worden. Für die Sänger muß niemand nach Wiesbaden fahren. Herr Piffka blaß und erschreckend undämonisch, Frau Lambourn zwar optisch eine Idealbesetzung für die sich erotisch verzehrende Ms. Jessel, aber stimmlich, so hart das auch sein mag, ein wahrer Abtörner. Frau Rohrbach als Gouvernante besitzt eine wirklich schöne Stimme, sie steht sich aber mit nicht immer sauberer Intonation und ihrem exaltierten Spiel (Große Augen! Hände am Revers festgewachsen! Schluchz!) selbst im Weg. Yorick Ebert gibt einen guten Miles, obgleich mir – auch wenn das vielleicht seltsam klingt – seine Stimme fast schon zu alt bzw. reif erschien. So fehlte dem schmerzhaft traurigen „Malo“ Gesang die letzte Prise Unschuld. Helen Donath überzeugte mit überraschend frischer Stimme, die Gewinnerin des Abend war für mich aber Stella An als Flora – schon in so jungen Jahren solch ein samtenes Timbre bei absoluter Präsenz, das lässt hoffen!

Fazit: Herr Carson sollte lieber einen Opernfilm machen, nicht inszenieren. Ohne Ideen wird es auf der Bühne schwierig. Die Wiesbadener spendeten freundlichen Applaus, die Mitwirkenden wurden gar mit manchem Bravo bedacht, wobei am Ende schon deutlich wurde, daß der zu feiernde Geburtstag von Frau Donath schon eher ein Ereignis nach dem Geschmack des Publikums war als so ein „unbekanntes“, „modernes“ Werk aus dem nebligen Britannien.


Benjamin Britten – The Turn of the Screw
Musikalische Leitung – Zsolt Hamar
Inszenierung – Robert Carsen
Spielleitung – Maria Lamont
Bühne und Kostüme – Robert Carsen, Luis Carvalho
Licht – Robert Carsen, Peter van Praet
Video – Finn Ross
Associated Video Designer – Leo Flint
Dramaturgie – Ian Burton

Prolog / Peter Quint – Thomas Piffka
Gouvernante – Claudia Rohrbach
Mrs. Groose – Helen Donath
Miss Jessel – Victoria Lambourn
Flora – Stella An
Miles – Yorick Ebert

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden