18. Januar 2016

MusicAeterna – Teodor Currentzis.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Ludwig van Beethoven – Violinkonzert D-Dur op. 61 
(Patricia Kopatchinskaja)
Zugabe: Jorge Sánchez-Chiong – Crin

(Pause)

Wolfgang Amadeus Mozart – Sinfonie D-Dur KV 504 „Prager“
Zugabe: Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 5, 4. Satz



Man könnte jetzt ein Traktat über Skinny Jeans und ihre Wirkung auf bestimmte Teile der Laeiszhallen-Zielgruppe verfassen. Ich belasse es bei der Erkenntnis, welch ein oberflächlicher, von Vorurteilen geprägter Blick auf die äußere Erscheinung auch beim vermeintlich reflexionsfähigen bildungsbürgerlichen Konzertbesucher vorzuherrschen scheint – Spannend, sollte doch das Thema Wahrnehmung auf verschiedenen Ebenen den Abend bestimmen.

Denn während ein Großteil des Publikums, mich eingeschlossen, das heute Gebotene als außergewöhnliche Leistung, ja wohl ohne Übertreibung als Sternstunde empfand, fühlte sich eine andere, wenn auch ungleich kleinere Fraktion in gleichem Maße enttäuscht, vielmehr offenbar regelrecht provoziert und beleidigt. Selten habe ich in der braven Laeiszhalle ein derartiges Aufeinandertreffen zweier Sturmfronten der Begeisterung und Entrüstung nach einer Darbietung erlebt, noch dazu wenn man bedenkt, dass ein Programm zur Verköstigung stand, welches der Papierform nach kaum konservativer hätte ausfallen können.

Und genau hier wird es interessant. Welche Erwartungshaltung stelle ich an einen Konzertbesuch, gerade wenn die sogenannten Klassiker des Repertoires gegeben werden? Das Häuflein Buh-Schreier schien sich heute um „ihren“ Beethoven gebracht, bzw. sah selbigen durch die Ausführenden gewissermaßen entstellt oder gar entweiht. Ich persönlich empfinde diese Reaktion als ebenso verblüffend wie köstlich, gerade wenn man sich die „Verbrechen“ der Musiker im Detail besieht.

Da wäre zum einen das Dirigat durch Herrn Currentzis, welches die Extreme auszuloten sucht. Dabei basiert sein Ansatz – zumindest im Violinkonzert – nicht etwa auf besonders krass gewählten Tempi (wie dann zweifellos in der atemberaubenden Zugaben-Explosion des Finalsatzes der Fünften) oder Rubato-Individualismen, sondern vor allem auf dem größtmöglichen Kontrast bezogen auf Ausdrucksweise bzw. Akzentuierung. Schroffste, aggressivste Artikulation und dynamische Eruptionen wechseln mit lieblichsten Zartheiten von zum Teil kaum mehr wahrnehmbarer Lautstärke. Eine, wie ich finde, ungemein belebende Frischzellenkur für dieses geliebte, alte Konzertschlachtross. Vor allem wenn man auf ein solches Ausnahmekollektiv wie die Damen und Herren der MusicAeterna bauen kann. Das Liveerlebnis verdient in meinen Augen gerade dann seinen zweiten Wortteil, sobald Erwartungen nicht bloß eingelöst, sondern übertroffen werden, wenn man unmittelbar Zeuge wird, wie selbst Altbekanntes vor unseren Augen und Ohren neu entsteht. Das Konzert als schöpferischer Akt, nicht als Hort der Reproduktion und musealer Verwaltung.

Bliebe zum anderen noch die zweite „Übeltäterin“ – Frau Kopatchinskaja. Abgesehen davon, daß ihr solistischer Beitrag auf das Vortrefflichste mit der energiegeladenen Interpretation Currentzis’ korrespondierte, scheint sie insbesondere mit ihren Kadenzen einigen Museumsaufsehern mächtig vor den Kopf gestoßen zu haben. Und auch hier ist es faszinierend zu sehen, wie jemand, der offensichtlich deutlich mehr Gedanken und Mühe auf die Ausgestaltung dieser im Kern virtuos und im besten Falle improvisatorisch angelegten Passagen verwendet, als die Nutzer vorgekauter und zur Genüge auf Tonträger zementierter Kadenzvorlagen, solch heftige Ablehnung generiert. Ob das reiner Stil oder beethovig genug ist, ist mir dabei gelinde gesagt schnurz, zumal ich bei der vorschnellen Beurteilung musikalischer „Redlichkeit“ als Laie besonders vorsichtig wäre. Frau Kopatchinskaja wird ihre Quellen zumindest besser studiert haben als der gemeine Stuben-Beethoven-Bewahrer, dem alles, was nicht mit seiner Plattensammlung in Abgleich zu bringen ist, schwere Bauchschmerzen bereitet. Darin liegt eben doch mehr Sprengkraft, als in der herrlich schrägen Zugabe, welche die Solistin als provokante „Liebeserklärung“ an ihre Kritiker adressierte.

Ich möchte heute aber die entrüsteten Buhs ebenso wenig wie die frenetischen Bravo-Rufe missen, zeigt doch beides eindrucksvoll, dass diese Musik die Menschen nicht kalt lässt, dass ein Konzert eine wirkliche Verbindung zwischen Ausführenden und Zuhörern schaffen kann, auch und gerade mit vermeintlich kaltem Kaffee wie Beethoven, weil es zeigt, wie heiß das Feuer in diesen genialen Werken für alle Zeiten lodert – es braucht nur Abende wie diesen, den Funken wahrer, ursprünglicher Leidenschaft aufs Neue zu entfachen.