11. Juni 2016

Death in Venice – Pawel Poplawski.
Theater Bielefeld.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 1, Platz 11



Schon ernüchternd, wenn bereits nach ein paar Takten klar ist, daß es mit diesem Aschenbach nicht funktionieren wird. Zu glatt in Erscheinung und Stimme – darstellerisch bemüht, aber blaß, gesanglich ohne nennenswerte Tiefe. Dann also flugs in den Protokollmodus gewechselt. Mal schauen, was sich noch verwerten läßt.

Die Inszenierung ist ästhetisch wie konzeptionell sehr interessant, vermag jedoch nur selten zu berühren. Könnte aber auch am musikalischen Ertrag liegen. Der fällt insgesamt eher durchwachsen aus. Herr Poplawski kann nur bedingt an den makellosen Eindruck anknüpfen, den sein „Midsummer Nights Dream“ seinerzeit in Magdeburg auf mich gemacht hatte (Link). Offenbar bieten die dortigen Philharmoniker deutlich mehr Potenzial für das delikate Britten’sche Gespinst als ihre Bielefelder Kollegen. Bei den Sängern stechen zwei rühmliche Ausnahmen aus einem sonst unauffälligen Ensemble hervor: Nienke Otten besitzt eine wirklich schöne, reine und feine Stimme, mit der sie als Erdbeermädchen und in ihren weiteren Rollen für Inseln zarten Wohllauts sorgt. Die Inkarnationen des Todesboten sind mit Evgueniy Alexiev stimmlich wie darstellerisch auf der Höhe des Stückes besetzt. Umso bedauerlicher, daß seine sinistre Interpretation kein entsprechendes Gegengewicht in der Hauptrolle erfährt, sein stets intensiver Einsatz vermag die Produktion naturgemäß kaum alleine zu tragen.

Damit also zurück zur Inszenierung und dem, was von ihr hängen blieb. Nadja Loschky legt Aschenbachs letzte Reise als Kampf mit sich selbst und den eigenen Dämonen an, wobei wir mehr dem inneren Fiebertraum eines Selbstmordkandidaten als seinem physischen Weg zum Tod in der Fremde folgen. Wirklich voran kommt dieser Mann ohnehin nicht mehr, das impliziert auch das Bühnenbild, welches sich in Variationen der immer gleichen Räumlichkeit eines angedeuteten Hotels (oder vielleicht doch der Wohnung des Dichters?) per Drehbühne um den gebrochenen berühmten Künstler windet. Der besagte Todesbote zeigt sich das erste Mal im Badezimmerspiegel als Doppelgänger des Lebensmüden, so daß hier ganz klar ein Teil von Aschenbachs Ich die lange Reise initiiert, deren an sie geknüpfte Selbstfindungsabsicht bekanntermaßen nicht in Rekreation, sondern (Selbst-)Auslöschung gipfelt.

Dabei wird Kleidung sehr konsequent leitmotivisch verwendet. Der fremde Reisende ist ganz wie Aschenbach in einen türkisen Anzug gewandet, Versatzstücke dessen begegnen uns immer wieder an verschiedenen Stellen der Handlung, etwa beim Hotelmanager, der die gleiche Farbgebung zu bevorzugen scheint oder nicht weniger bedeutungsvoll bei Tadzios Jacke. Neben Aschenbachs Anzug spielt ein rotes, besticktes Kleid eine handlungsimmanente Rolle und kreiert gleichermaßen besondere Signalwirkung, da alle übrigen Kostüme in schlichtem Schwarzweiß gehalten sind. Zum ersten Mal erscheint es auf der Überfahrt, wenn der Dichter in der Runde der vergnügungshungrigen Männer mit dem ältlichen Geck in eben jenem Kleid konfrontiert wird, der Aschenbach verstört zurücklässt, nachdem er ihm eine Puppe überreicht hat – ein Abbild Tadzios, wie man später erfährt.

Auch das Erdbeermädchen tritt in dem gleichen roten Kleid auf, dessen farbliche Entsprechung die verlockenden Früchte darstellen, mit denen ein weiteres Leitmotiv der Versuchung, letzten Endes der Verderbnis, etabliert wird. Bemerkenswert dann auch die Szene, in der sich die venezianischen Beteiligten, allesamt mit Aschenbach-Masken versehen, regelrecht mit den signalroten Köstlichkeiten vollstopfen, die sich im weiteren Verlauf als Krankheitsbringer erweisen werden. Für Aschenbach selbst wird das rote Kleid zum Ausdruck seiner eigenen Begierde. Anlässlich des apollinischen Wettstreites träumt er sich damit in die Rolle als Tadzios Braut, die mit ihrem siegreichen Bräutigam fiebert.

In diesen Duell zwischen Tadzio und dem Todesboten werden einfache, aber intelligent die Leitmotivik aufgreifende Bilder für die Disziplinen gefunden, etwa im Erdbeerwettessen oder der Aufgabe, möglichst viele Exemplare von Aschenbachs Bestseller zu stapeln, dessen Bedeutung für den Dichter bereits zuvor die Tatsache unterstrichen hat, daß er die Reiselektüre eines jeden Hotelgastes darstellt. Ein weiteres wiederkehrendes Element ist Sand, der sich langsam aber sicher in den Ecken der Rezeption sammelt, sich auch in der Gondel befindet, Aschenbach durch die Finger rinnt – auch dieses Detail atmet Vergänglichkeit.

Mehrfach wird in der Inszenierung mit Puppen oder dem Puppenhaften gearbeitet, wie bereits erwähnt beim Aufritt des grell geschminkten und kostümierten ältlichen Gecks, dessen Erscheinung Aschenbach schließlich konsequent im Sinne der so bereits im Libretto angelegten Parallele vollends übernimmt. Tadzio tritt danach als seine Puppe auf, ganz wie es mit der kleinen Puppe auf dem Schiff schon vorbereitet wurde. Eine weitere Szene zeigt die Tänzerin (im roten Kleid) und Tadzio als Puppenpaar. Kontrolle über sich und die eigene Begierde, über das Ziel des Begehrens selbst, Eigen- und Fremdsteuerung, Aufgabe der eigenen Persönlichkeit, all diese Gedanken schwingen hier mal mehr, mal weniger offensichtlich mit.

So wie die fauligen Erdbeeren letztlich aus dem eigenen Selbstmörderblut gespeist werden, nimmt Aschenbach folgerichtig am Schluß an seinem eigenen Begräbnis Teil. Umso überraschender oder enttäuschender, wieso diese an zwingenden Einfällen reiche Produktion emotional nicht derart involviert, berührt, erschüttert, wie es in diesem Stück eigentlich durch Britten genetisch festgelegt ist. Natürlich gibt es auch fraglos dürftige Momente der Inszenierung, wie die schwache Umsetzung des Kulminationspunktes, wenn Dionysos über Apoll obsiegt – immerhin eine Schlüsselszene für Aschenbach und das Werk, aber mit einigem Abstand betrachtet gelange ich am Ende der Reise wieder bei meiner Eingangsbeobachtung – alles steht und fällt mit Aschenbach. Seinen Niedergang stimmig psychologisch aufzuarbeiten ist keine geringe Leistung, bleibt ohne einen entsprechenden Darsteller, der diesen Weg in aller Unerbittlichkeit zu gehen vermag, leider doch ein gescheitertes Unterfangen.


Death in Venice – Benjamin Britten
Musikalische Leitung – Pawel Powlawski
Inszenierung – Nadja Loschky
Choreografie – Thomas Wilhelm
Bühne – Ulrich Leitner
Kostüme – Gabriele Jaenecke, Moritz Haakh (Mitarbeit)
Licht – Ralf Scholz
Dranaturgie – Larissa Wieczorek
Choreinstudierung – Hagen Enke

Gustav von Aschenbach, Schriftsteller – Alexander Kaimbacher
Der Reisende/ältliche Geck/alte Gondoliere/Hotelmanager/Coiffeur des Hauses/Anführer der Straßensänger/die Stimme des Dionysos – Evgueniy Alexiev
Die Stimme Apollos/ Priester – Clint van der Linde
Tadzio – Gieorgij Puchalski
Erdbeerverkäuferin/Französisches Mädchen/Straßensängerin – Nienke Otten
Lido-Bootsmann/Restaurantkellner/Reisebüro-Angestellter – Caio Monteiro
Hotelportier/Straßensänger – Lianghua Gong
Russisches Kindermädchen/Bettlerin – Hasti Molavian
Russische Mutter/Spitzenverkäuferin – Elena Schneider
Englische Frau/Zeitungsverkäuferin – Christin Enke-Mollnar
Deutsche Mutter – Patricia Forbes
Französische Mutter – Evelina Quilichini
Dänische Frau – Franziska Hösli
Glasbläser/Polnischer Vater – Krzysztof Gornowicz
Hotel-Kellner/Fremdenführer – Tae-Woon Jung
1. Amerikaner/1. Gondoliere – Bogdan Sandu
2. Amerikaner – In-Kwon Choi
Russischer Vater – Mark Coles
Deutscher Vater/2. Gondoliere – Lutz Laible
Double der Erdbeerverkäuferin (Tanzszene) – Miriam Pielsticker
Die polnische Mutter (Tadzios Mutter) – Nicole Borgmann
Ihre zwei Töchter (Tadzios Schwestern) – Margarethe Keitel, Miriam Pielsticker
Die Erzieherin – Mélissa Quiering
Kinder – Josephine Franke, Martin Gerecke, Nathanaël Jucquois

Bielefelder Opernchor
Bielefelder Philharmoniker