12. Juni 2016

Peter Grimes – Gabriel Feltz.
Theater Dortmund.

15:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 78, nach der Pause Platz 88


Den Kniff kannte ich so auch noch nicht: einfach im Programmheft dem Komponisten ein paar fingierte Aussagen in den Mund legen, um das eigene Regiekonzept gewissermaßen im Konjunktiv absegnen zu lassen. Schon klar, daß das Kurzinterview mit Britten nicht wirklich ernst gemeint und noch weniger zu nehmen ist, doch zeigt es schon, daß sich die Verantwortlichen offenbar selbst im Klaren sind, wie angreifbar ihre Interpretation ist. Dabei sind durchaus gelungene Ansätze und Details zu entdecken, mit dem kleinen Schönheitsfehler, daß leider das große Ganze nicht funktioniert – und das gleich auf mehreren Ebenen. Daß es Tilman Knabe nicht reicht, Peter Grimes als Einzelgänger und Knabenschinder zu porträtieren, sondern aus ihm gleich mal einen pädophilen Serienmörder macht, wäre dabei noch nicht einmal so schlimm, wie es sich provokanzbemüht anhört. Das Hauptproblem bei dieser Idee stellt – wie bei eigentlich allen übrigen des Regieteams – weniger das „Was“, als vielmehr das „Wie“ dar, denn auf letzteres scheint es in dieser Produktion nur eine Antwort zu geben: Von allem zuviel.

Willkommen in Asi-Town, einem kleinen Fischerdorf irgendwo an der Steilküste sozialer Norm nach der unwiederbringlichen Landnahme durch die stetig peitschende Brandung der Sittenlosigkeit. Fast könnte man meinen, einer mit aller Liebe zum Detail umgesetzten Bühnenfassung von „Mitten im Leben“ oder ähnlichen Perlen privatsenderlicher Menschenverachtung beizuwohnen. Hier wird pausenlos geraucht, gesoffen und geprügelt, die Klamotten sind so betont auf Konsumismus-Bodensatz abgestimmt, dass sich die zwei Nichten-Nutten optisch richtig anstrengen müssen, um überhaupt in puncto Vulgarität und billigem Auftreten noch halbwegs herauszustechen. Der Begriff Nichten-Nutte ist vielleicht nicht die feine englische Art, nicht gerade subtil gewählt, aber wenn diese Inszenierung eines NICHT ist, dann subtil. Gleich im Gerichts-Prolog geht es los mit einem hoffnungslosen Overacting, das erst irritiert und auf die Dauer einfach nur nervt. Jeder ist hier im Nu von Null auf Hundert. Aber noch mal hübsch der Reihe nach. Was genau ich mit dem „Zuviel“ meine, lässt sich in drei Teilbereiche einsortieren:

Ich bin ja ein großer Freund individueller Personenregie und hätte nie gedacht, dass sich deren Einsatz bei einer Überdosierung, wie sie heute verabreicht wurde, derart störend auswirken könnte. Einerseits gilt mein Respekt den Verantwortlichen, die offenbar davon getrieben sind, den handelnden Personen, insbesondere auch dem Chor, sinnvolle und somit glaubhafte Tätigkeiten auf den Leib zu inszenieren (Gelungenes Beispiel: Grimes nimmt während eines Dialoges Fische aus). Eigentlich genau das richtige Prinzip, um unmotivierte Rampensteherei zu vermeiden und Authentizität zu stützen. In Dortmund wird der Bogen allerdings in schöner Regelmäßigkeit überspannt, so daß vor lauter Gewusel und Nebensächlichem die eigentliche Handlung überdeckt wird.

Zwei Beispiele: Als Ellen gegenüber den anderen Dorfbewohnern für Peter einsteht, wird sie von der wild gestikulierenden Meute regelrecht zugestellt, so daß ihr Apell, immerhin eine Schlüsselszene, visuell, aber vor allem auch akustisch verpufft. Noch unnötiger: wie sich Mrs. Sedley in plattester Agenten-Parodie stetig neue „Deckung“ (Gartenstuhl?!) sucht, um das Gespräch zwischen Ellen und Balstrode zu bespitzeln – dessen Inhalt durch diese Slapstick-Einlage fast zur Nebensache gerät. Ja, Mrs. Sedley steht auf Krimis, schon klar, was die Idee hinter dieser Nummer war, aber nö – einfach die Dame an der Ecke stehen und lauschen lassen – fertig. Wie gesagt, es gibt auch durchaus andere Momente, in denen die Inszenierung ihre Überfrachtung durchbricht und stimmige, wirklich lebensnahe Szenen kreiert, etwa wenn sich das schmerzlich-himmlische Quartett der Frauen über das Wesen der Männer entspinnt, genau nachdem Boles eine der Nichten geschlagen hat.

Das zweite „Zuviel“ leitet sich gewissermaßen aus dem ersten ab und betrifft das schon angesprochene Overacting. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass man beispielsweise für die musikalische Entladung heftigster Energien in den Chorszenen auch szenisch eine Entsprechung gesucht hat. Ob jedoch die erlebte Form der Mob-Karikatur ein wirkungsvolles Mittel darstellt, wage ich zu bezweifeln. Die Fackeln, die gelynchte Sündenbockpuppe, die Bluthände – ich hab nur noch die Mistgabeln vermisst, wie sie in keiner Frankenstein-Verfilmung fehlen dürfen. Tötet das Monster! Auch hier: ja, kann man so machen – wenn man auf Holzhammer-Umsetzungen steht. Die Menschen reagieren wie Vieh, ok, hab ich verstanden. Hätte man ohne Bluthände und mega shocking im Hintergrund drapierte, kopulierende Statisten allerdings wohl auch. Ui, die ficken da! Tilman Knabes Dörfler sind aber auch Schlingel. Der Pastor macht sich gleich nach dem Gottesdienst ein Bier auf, in der Kneipe startet man in bester Bud Spencer-Manier aus dem Nichts eine Massenkeilerei, jeder begrapscht unentwegt die Nichten, die pausenlos Geld einsacken und bei Auntie abdrücken, damit man auch ja nicht vergisst, welcher Profession die beiden nachgehen, Peter scheuert Ellen nach ihrem Disput nicht nur eine, nein, er tritt ihr auch gleich mal mit Anlauf in den Bauch, kurz: alles Menschenmüll.

Womit wir bei Punkt drei des heutigen Scheiterns der Prämisse „viel hilft viel“ wären, dem inhaltlichen Versagen der Inszenierung. Mit der Charakterisierung der Dorfgemeinschaft als ein Haufen zügelloser Proleten beraubt man das Stück seiner Fallhöhe, die gerade darin liegt, dass Misstrauen, Vorverurteilung und schließlich Hetze von ganz normalen, braven Bürgern ausgehen können. Natürlich hat das auch ganz viel mit ländlichen sozialen Strukturen zu tun, mit Enge und Engstirnigkeit, aber wer wie hier einfach nur die Dorfdeppkarte ausspielt, macht es sich viel zu leicht. Ausgrenzung, unterlassene Hilfeleistung, Sündenbockmechanismen sind Themen, die uns alle angehen – die hier porträtierte Gesellschaft geht mich gar nichts an. Ist ja logisch, dass es unter diesen Umständen so kommt, kommen musste. Abschaum gebiert Abschaum. Diese Inszenierung berührt nicht, lädt eher dazu ein, mit einer Mischung aus Ekel und Selbstgefälligkeit zu gaffen, anstatt zu reflektieren. Ein Unfall, bei dem man nicht wegsehen kann. Wie schön, dass sowas bei uns nicht vorkommt – Thema verfehlt, würde ich sagen. Daß die Bewohner keine Heiligen sind, wird an vielen Punkten des Librettos deutlich, spätestens das nächtliche Treiben zeigt die Bigotterie der frommen Kirchgänger. Bei Knabe geht diese Ambivalenz im asozialen Grundrauschen einfach unter.

Bliebe da noch Peter Grimes selbst. Wahrscheinlich dachte man auch hier, bei all dem präsentierten Ranz und Siff eine Schippe drauflegen zu müssen, um die Außenseiterexistenz der Titelfigur dem reißerischen Ganzen anzupassen. Die Brücke von der Gewalt an Kindern zum Kindesmißbrauch zu schlagen, ist aus meiner Sicht ebenso überflüssig wie inhaltlich bemüht, hätte jedoch durchaus funktionieren können – sofern es der Regie eingefallen wäre, sich nicht allein in plumper Effekthascherei zu ergehen. Tiefpunkt der Plattheit: Während der Sturmszene bestritt ein Grimes-Double die Wirtschaft und entblößt seinen Missetäterleib: Ein blutiges „Pädo“ in die Brust geritzt, auf dem Rücken der Aufruf „Kill him“. Seufz. Warum dann nicht gleich noch Zwischentitel wie beim Stummfilm: „Dieser Mann ist eine Gefahr für sich und andere aber niemand kann oder will es sehen!“ Für wie beschränkt hält das Regieteam seine Zuschauer, dass es zu einem solchen Wink mit dem Zaunpfahl ausholt?

Ganz zerfahren wird die Sache dann nach der Pause, wenn wir in Grimes Hütte Zeuge des Ergebnisses seiner Wildbretbehandlung werden, die er dem Lehrjungen bereits hat angedeihen lassen. Kunstblut im Sonderangebot, alles muss raus! Abgesehen davon, dass die Szene in ihrer übertriebenen Machart eher Kopfschütteln als Gänsehaut verursacht, ergibt sich daraus gleich das nächste Problem: Der Bursche ist also schon tot, folgerichtig sind Grimes Worte an ihn lediglich Ausdruck eines bereits vollends verwirrten Geistes. Ganz anders als im Stück angelegt, wo nach dem noch so hoffnungsvollen „In dreams I ’ve build myself some kindlier home“, Grimes von den Erinnerungen an den ersten toten Jungen heimgesucht wird und die Stimmung kippt. Hier und heute sehe ich nur einen armen Irren, Identifikation Fehlanzeige. Blöd auch, dass die eigentliche Tragik der Szene, welche Grimes erst durch die nahenden Dorfbewohner derart in Brass geraten und den Absturz des Jungen verschulden lässt, so natürlich komplett abhandenkommt. Er lässt die Leiche verschwinden (wozu übrigens dann noch der Schrei?), die Häscher sind zu doof, Ned Keene deckt Grimes – was auch immer.

Hatte ich nicht eingangs irgendwas von gelungenen Ansätzen und Details fabuliert? Ja, die gab es tatsächlich. Die Konsequenz und Mannigfaltigkeit, mit der diese – leider fehlinterpretierte – Dorfgemeinschaft gezeichnet wird, sucht Ihresgleichen. Bühnenbild, Ausstattung, Kostüme, alles atmet glaubhaft und allumfassend Trostlosigkeit, Rohheit, eine verlorene Gesellschaft. Seefahrerromantik hat hier folgerichtig keinen Platz. Das Meer als solches ward nicht gesehen, verborgen hinter dem kalten Beton der Kaianlagen, deren soziales Zentrum ein schäbiger Kiosk darstellt, links die elende Spelunke. Plastikgartenstühle, Maschendrahtzaun, Unrat, Verfall. Sehr eindringlich dann in diesem Zusammenhang auch das Bild, als Peter die Leiche des Jungen auf einer Müllhalde entsorgt. Von der Intensität gerät der Schluss der Inszenierung generell am stärksten. Wenig Platz für Ablenkung, alles fokussiert sich auf Grimes Schicksal und seine Freunde, die ihn fallen lassen. Einziger Wermutstropfen hier: Durch den unsinnige Regieeinfall, der zuvor Balstrode Ellen küssen lässt, bekommt dessen Motivation ein unnötiges Kalkül. Überhaupt bizarr der Transfer, dass in diesem sozialen Milieu ein Motorradrocker als „Respektsperson“ herhalten muss.

Die Sea Interludes mit Traumsequenzen zu koppeln, ist nicht ganz doof, unterstreicht dies doch die seelisch-psychologische Komponente jener nicht allein als Naturillustrationen zu verstehenden Zwischenspiele. Grimes’ Ringen mit seiner düsteren Seite, Ellens Utopie einer glücklichen Ehe, da hat sich das Team durchaus plausible Bilder einfallen lassen, sieht man einmal vom möchtegern-schockierenden buchstäblichen Leichenschmaus in Eyes-Wide-Shut-Abklatsch-Optik ab. Gelungen dann noch das Schlussbild. Der tote Grimes auf leerer Bühne, der Dörfler-Chor kommentiert lapidar aus dem Zuschauerraum, postiert auf der Galerie, Seegeräusche sind zu hören, dann abrupt Stille.

Ich würde gern über die musikalische Wirkung mal wieder ähnlich ausführlich werden, wie zu szenischen Aspekten, leider gab der Abend in dieser Hinsicht nicht viel mehr her als Standardware. Das Ensemble war in Ordnung, der Sänger der Titelrolle trotz erkennbarer Bemühung um Lyrik (z.B. Plejaden-Monolog) wie so oft Welten von dem entfernt, was die Partie auszulösen imstande ist. Tut mir leid, eine derart harmlose, farblose Stimme kann den gebührenden Anspruch an Ausdruck einfach nicht leisten, da hilft es wenig, dass sehr wohl einiges in eine intensive Darstellung investiert wurde. Musikalisch unkaputtbar in ihrer Wucht sind auch dieses Mal die Massenchorszenen, in denen sich der Dirigent mit knackiger Handschrift und zügigen Tempi um eine energiegeladene Umsetzung verdient gemacht hat. Das Orchester klingt gut, Wunderdinge sind allerdings keine zu vernehmen. Hier und da wurde der Bogen mitunter etwas überspannt, der ein oder andere hektische, zerfahrene Moment war die Folge. Alles in allem eine solide Leistung.

Was nimmt man aus einem solchen Abend mit? Das Hadern über eine vertane Chance? Das Wissen um die Qualität eines Werkes, das dem Durchschnitt trotzt? Die Absicht, bei Herzenzangelegenheiten in Zukunft doch lieber auf den Faktor Überraschung zu verzichten und auf bewährte Kräfte und Häuser zu bauen? Wahrscheinlich von all dem ein bißchen, aber so ist das nun einmal mit Segen und Fluch des lebendigen Musiktheaters: Hoffnung ersetzt Gewißheit, das Sehnen nach der Einlösung der Möglichkeit des Unwahrscheinlichen wiegt mehr als jede mögliche Enttäuschung. Irgendwie ist das ein bißchen das Thema von Peter Grimes selbst, vielleicht werde ich auch aus diesem Grund nie müde, es wieder und wieder gerade mit dieser zarten Skizze einer uneinlösbaren Utopie zu versuchen.


Peter Grimes – Benjamin Britten
Musikalische Leitung – Gabriel Feltz
Regie – Tilman Knabe
Bühne – Annika Haller
Kostüme – Eva-Mareike Uhlig
Chor – Manuel Pujol
Licht – Florian Franzen
Dramaturgie – Georg Holzer

Peter Grimes, Fischer – Peter Marsh
Ellen Orford, Lehrerin – Emily Newton
Balstrode, Kapitän – Sangmin Lee
Auntie, Wirtin – Judith Christ
Erste Nichte – Tamara Weimerich
Zweite Nichte – Ashley Thouret
Bob Boles, Fischer und Methodist – Fritz Steinbacher
Swallow, Bürgermeister und Richter – Karl-Heinz Lehner
Mrs. Sedley, eine Witwe – Martina Dike
Rev. Horace Adams, Pfarrer – Ks. Hannes Brock
Ned Keene, Apotheker – Morgan Moody
Hobson, Fuhrmann – Thomas Günzler
John, Grimes’ Lehrling – Simon Daiber
Dr. Crabbe – Hans-Peter Frings
Fischer, Bürger – Hitomi Breitzmann, Hans Werner Bramer, Gerontiy Chernyshev, Hiroyuki Inoue, Johannes Knecht, Henry Lankester, Ian Sidden

Opernchor des Theaters Dortmund
Extrachor des Theaters Dortmund
Statisterie des Theaters Dortmund
Dortmunder Philharmoniker