12. Dezember 2017

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen – Paavo Järvi.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich  Q, Reihe 2, Platz 31


Richard Wagner – Waldweben / Aus: Siegfried WWV 86 C
(Arrangement von Hermann Zumpe)
Sergej Prokofjew – Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 g-Moll op. 63 
(Viktoria Mullova)
Zugabe: Misha Mullov-Abbado – Brazil

(Pause)

Johannes Brahms – Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Zugaben:
Johannes Brahms – Ungarischer Tanz Nr. 3 F-Dur
Johannes Brahms – Ungarischer Tanz Nr. 10 F-Dur


Mein erstes Konzert hinter dem Orchester – gar nicht so übel. Der typisch duftige Klang, den man mit zunehmender Höhe erlebt, funktioniert auch aus dieser Perspektive. Allerdings macht sich von hier aus bisweilen eine Dominanz der Bläser bemerkbar, die gerade im Brahms das klassische sinfonische Gefüge, welches in der Regel von den Streichern getragen wird, teilweise auf den Kopf stellt – weiter unten sollte man wirklich nicht sitzen, es sei denn, man möchte bewusst beim Bläserapparat ganz dezidiert einen Blick unter die Haube bzw. die Ventile riskieren.

Trotzdem sind feinste Klangmischungen erlebbar – gleich im Waldweben erweisen sich Järvi und sein Orchester als ideale Fürsprecher des Delikaten. Das Prokofjew-Konzert hat mich auf den ersten Blick nicht so angemacht, trotz vieler interessanter Klangwirkungen (z.B. Trompeten plus Solistin). Da schien mir das erste Konzert, welches ich vor kurzem an gleicher Stelle erleben durfte, auf Anhieb spannender (Link). Mullova tadellos, sieht man einmal von leicht befremdlichen Koordinations-Schockmomenten ab (Das Ab- und wieder Anmontieren der Schulterstütze im laufenden Betrieb führte zu einer unfreiwilligen Hatz, bei der sie ihren Einsatz knapp verpasste, wobei Järvi netterweise wartete. Ebenso mutete die Dämpfer-Jonglage gleichsam riskant an). Generell bestätigt sich der Eindruck, dass der Saal Geiger nicht so glänzen lässt, eine gewisse Distanz ist nicht zu leugnen, zumindest auf diese Entfernung. Wobei es sich bei der Zugabe handelte, konnte ich angesichts der Äußerung Richtung Parkett nicht vernehmen – zaubern kann die Akustik halt auch nicht. Glücklicherweise wird das Programm in der Regel im Nachhinein noch auf der Elbphilharmonie-Seite um die Zugaben ergänzt, so konnte ich nachlesen, dass es sich dabei um ein Stück ihres Sohnes handelte.

Nun zu Järvi: Der Mann der kleinen Gesten (was für ein Kontrast zu Frau Hannigan gestern) – so kontrolliert sein Dirigierstil anmutet, so effektiv wie effektvoll ist er. Die Kammerphilharmonie Bremen lässt die Bezeichnung Kammerorchester nicht als Einschränkung gegenüber auf die reine Musikerzahl bezogen „großen“ Orchestern erscheinen, sondern definiert die Gattung mit vorbildlicher Transparenz und Flexibilität ohne dabei auch nur einen Funken Power zu vermissen. Und um Power ging es dann auch nach der Pause: Das war ohne Zweifel der knackigste, kompromissloseste Brahms, den ich je gehört habe. Wenn man ein Stück wie dieses, das man aufgrund seiner Allgegenwart im Konzertbetrieb wie seine Westentasche zu kennen glaubt, in derart neuem Licht präsentiert bekommt, ist das wahrhaftig ein elektrisierendes Erlebnis. Järvi bringt den Brahms, den ich von Solti erwartet hätte (nur dass Soltis Brahms tatsächlich eine eher bedächtige Angelegenheit ist) – schnelle Tempi, peitschende Leidenschaft, die mit inniger Romantik alterniert – Kontraste bis zum Abwinken. Hinzu kommt die Qualität des Orchesters, die sich nicht allein in traumhaften Streichern, sondern exzellenten Bläsern und saftigem Schlagwerk bemisst. So sollten die Solohornstellen klingen, so hört sich ein erhabener Posaunensound an! Dieser Klangkörper als Residenzorchester, und die leidige Suche nach hanseatischer Weltklasse hätte sich erledigt.

Als Zugabe gibt es noch zwei Ungarische Tänze, die das Bremer Brahms-Konzept nahtlos weiterführen – Elan, Verve, Frische, aber immer auch Eleganz, kein plumpes Gepolter. Und natürlich wählt man hier nicht die ausgenudelten Vertreter als Rausschmeißer, sondern zwei nicht so häufig gespielte Tänze. Brahms als Überraschungsgast, vertraut-unvertraut – eine Druckbetankung, die die Innovationskraft des Bekannten feiert.

11. Dezember 2017

Ludwig – Barbara Hannigan.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2


Claude Debussy – Syrinx für Flöte solo (Ingrid Geerlings)
Arnold Schönberg – Verklärte Nacht op. 4, Fassung für Streichorchester

(Pause)

Alban Berg – Lulu-Suite / Symphonische Stücke aus der Oper „Lulu“ (Barbara Hannigan – Sopran)
George Gershwin – Suite aus „Girl Crazy“ (Barbara Hannigan – Sopran)


Schon spannend zu erleben, wie eine einzelne Person einen ganzen Saal im Griff haben kann. In diesem Fall Frau Hannigan, die als „crazy girl“ mit Gershwin singend, swingend und dirigierend das Publikum spätestens mit ihrer gewollt theatralischen Schlussgeste ausflippen ließ – den Arm in bester Musical-Manier gen Himmel gereckt. Aber die Frau ist eben auch ohne Frage ein Phänomen, ob in ihrer Hamburger Lulu (Link) am Rande der Selbstauflösung, oder heute bei der Vermittlung einiger Klassiker der Moderne mit abschließender Broadway-Sahnehaube. Welch Kontrast zu dem weitgehend blutleeren Gershwin-Reigen (Link) der Abordnung aus Brügge im August, waren doch heute die rund zehn Minuten als Rausschmeißer mehr Wert als seinerzeit der ganze Abend. Wie Frau Hannigan als Lulu alles gibt, so spult sie auch den amerikanischen Liebling der Massen nicht einfach herunter, sondern sorgt gleichermaßen für Intensität und Tiefe. Da wird gehaucht, gegurrt, vor allem aber gegrooved, wie man es sich nicht mitreißender wünschen könnte.

Die Art und Weise, wie sie sich bei all dieser Stimmakrobatik zudem noch selbst mit dem hervorragenden Ensemble Ludwig begleitet, zeugt neben allem Showtalent vor allem von umfassendem musikalischen Verständnis, ja symbiotischer Vertiefung – Sängerdarstellerin und Pultschamanin. Letzteres wird vor allem da deutlich, wo Frau Hannigan „nur“ dirigiert – welch eine feingliedrige, intime, beseelte wie berauschende Verklärte Nacht. Wobei der Dirigierstil eben mehr Ritus als Pultalltag evoziert. Nur schade, dass hier Hans und Franz im Saal stückbedingt sehr schnell konzentrationstechnisch an ihre Grenzen gelangen, schade um so manch vehement zerbrechliches Pianissimo. Da ging es mit dem Berg nach der Pause überraschenderweise fast besser, wahrscheinlich ist die portionierte Aufnahme schwerer Kost doch banausenverträglicher.

Apropos, was liefert diese Nicht-Zielgruppe doch unentwegt und verlässlich für humoristische Perlen: „Das war jetzt ein Streichorchester, also nur Geigen, also fast.“ Hat nur das vom Gatten entgegnete „Ach was.“ gefehlt, um einen lupenreinen Loriot zu bauen. Der Einstieg mit Debussys Flötentönen bei heruntergedimmter Saalbeleuchtung sorgte ebenfalls mehr für Wendehalsmanöver auf der Suche nach der Geräuschquelle denn meditative Einstimmung, aber sei's drum. Was bleibt, ist ein Konzert der Spitzenklasse für Feinschmecker und die gern wahrgenommene Gelegenheit, das Multitalent Hannigan einmal mehr bestaunen zu dürfen. Man sieht sich in der Staatsoper bei der Lulu-Wiederaufnahme.

10. Dezember 2017

Orgel pur – Iveta Apkalna.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 4, Platz 8


Franz Liszt – Legende Nr. 1 S 175/1 
„St. François d’Assise: La prédication aux oiseaux“ 
(Transkription für Orgel von Günther Berger)

Thierry Escaich – Evocation III

Johann Sebastian Bach – Passacaglia c-Moll BWV 582

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Passacaglia aus der Oper 
„Lady Macbeth von Mzensk“

Arturs Maskats – Präludium, Choral und Variationen über J. S. Bach 
„Uns ist ein Kindlein heut’ gebor’n“ BWV 414

Franz Liszt – Präludium und Fuge über den Namen „B-A-C-H“ S 260

Zugabe: Thierry Escaich – Evocation II


Leider wieder recht viele musikferne Schichten im Konzert – Konzernausflug und dergleichen. Orgelkonzert gabs wohl günstiger. Die Vogelpredigt zur Vorstellung der Register und Klangfarben – für ganz Doofe sogar mit Hinterleuchtungs-Dramaturgie. Aber ok, das Auge hört ja mit. Musikalisch ein erstes Ausrufezeichen: Leises, Feines, der einzelne Kuckucksruf, dann wieder das Aufrauschen im Orgelpfeifen-Gefieder – hier schlummert wirklich Imposantes hinter der Röhrentropfsteinhöhlen-Dekoration.

Das zweite Stück überfordert die Eumel-Fraktion vollends – was sind das für fremde Tone? ... Sehr eindrucksvolle, wenn man mich fragt – Kaskaden, Echowirkungen, krasse Cluster, ganz viel Druck – herrlich! Mein Lieblingsbach, die Passacaglia, hätte hingegen durchaus noch etwas mehr Dampf vertragen, zumal sich der Richtersche Sog nicht so ganz einstellte. Ein, zwei Unsicherheiten? Insgesamt aber ein fabelhaftes Klangbild. Vielleicht fehlt auch ein bisschen der sakrale Nachhall. So ist das Moment ganz auf der Präzision.

Mein Platz könnte besser nicht sein – leicht versetzt hinter der Organistin, die am mobilen Spieltisch auf der Bühne Platz genommen hat, der Blick über die Schulter bietet perfekte Einsicht auf die spielenden Hände. Die Solistin auf die Bühne zu bringen, hat schon was, außerdem wissen dann die Honks, wo sie hinschauen müssen – oh, erst ganz in Weiß, dann nach der Pause ganz in Schwarz gewandet.

Die Schostakowitsch-Passacaglia entfaltete dann endlich jene Sogwirkung, den ich beim Bach noch etwas vermisst hatte – in solch einer mächtigen Steigerung kann die Orgel ihr ganzes Wucht-Potenzial entfalten. Das Stück von Maskats legte den Schwerpunkt dann wieder mehr auf die Vielseitigkeit des Instruments.

Den Höhepunkt des Abends markierte für mich jedoch ohne Zweifel die Lisztsche Reverenz an Bach. Ich liebe dieses Stück und habe damit zigmal die heimischen Wände zum Erzittern gebracht – es heute so vollendet in dieser Akustik zu erleben, hatte etwas Erhebendes. Apkalna kostet die Kontraste zwischen inniger Verklärung und bombastischen Eruptionen bestmöglich aus – was für ein Klang-Trip!

Ein weiteres Escaich-Stück beschloss als Zugabe den fulminanten Einstand in mein Orgel-Abo. Die Messlatte für die nächsten Konzerte liegt in himmlischen Höhen. Leider scheint die Wahrnehmung vieler anderer Besucher wieder mal in profaneren Gefilden hängen zu bleiben. Zwar traut sich diesmal kaum jemand, während des Konzertes die Biege zu machen, aber gleich mit dem Schlussapplaus nehmen nicht wenige die Beine in die Hand.

Was für eine respektlose Bände, aber das kennt man hier ja schon. Ein auf dem Weg zur U-Bahn aufgeschnappter Kommentar fasst die Geisteshaltung des typischen Elphi-Touristen zusammen: „Also, das war schon ein Erlebnis ... aber die Musik war nicht schön“. Ich halte es da lieber mit Frau Apkalna, applaudiere der Orgel, großen Kompositionen und, nicht zuletzt, einer großartigen Solistin.

1. Dezember 2017

Orchestre Métropolitain de Montréal –
Yannick Nézet-Séguin.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Pierre Mercure – Kaléidoscope

Hector Berlioz – Les nuits d’ été (Marie-Nicole Lemieux – Alt)

(Pause)

Camille Saint-Saëns – Konzert für Violoncello und Orchester
Nr. 1 a-Moll op. 33 (Jean-Guihen Queyras)

Edward Elgar – Enigma-Variationen op. 36

Zugabe: Maurice Ravel – Pavane pour une infante défunte


Das Fazit diesmal vorweg: Immer wieder schön, wenn man positiv überrascht wird. Nachdem mich das erste Konzert, dass ich mit Herrn Nézet-Séguin und seinem Klangkörper aus Rotterdam (Link) erleben durfte, relativ kalt gelassen hatte, erschloss sich mir heute mit Nachdruck, warum dieser Mann zu den führenden jungen Dirigenten gezählt wird. Aber zunächst ein paar Worte zu den einzelnen Programmpunkten.

Mercures Kaleidoskop ist Programmmusik, wie sie im Buche steht. Sehr eingängig, abwechslungsreich, die rhythmischen Passagen erinnern entfernt an Copland oder Bernstein, insbesondere was den Drive angeht. Dann geht es wieder sehr passioniert, schwelgend zu – Filmmusik, könnte man meinen. Das Orchester ist bestens aufgelegt, minimale Schwachstellen im Blech, dafür ausgesprochen feines Holz und gute Streicher – einzig die Bässe ungewöhnlich wenig präsent – mag das an der Positionierung (mittig hinten) liegen? Dirigierte Nézet-Séguin den Mercure ohne Taktstock, aber mit Partitur, griff er für Berlioz wieder zum Stöckchen.

Ja, der Berlioz: Ein Wahnsinns-Zyklus. Diese Klangfarben, diese Innigkeit, somnambule Entrückheit – der Tristan vorausgedacht, ebenso wie die Liebesnacht von Dido und Aeneas. Die Sängerin war anfangs gar nicht mein Fall, ihre Stimme erschien mir etwas säuerlich (Alt ist aber ja häufig „problematisch“). Doch mit fortlaufender Dauer erkannte ich, was in dieser Kehle schlummert: Technisch wunderbar, Phrasierung topp und vor allem in den ganz leisen, intimen Passagen unglaublich sensibel. Eben genau passend zu Nézet-Séguins Lesart, die alles aus der Akustik herausholt. In dieser Form sind solche musikalischen Zärtlichkeiten wohl nur hier unter diesem Dach umsetzbar. Streicher und Holz feinfühligst, die Hörner jetzt tadellos – ein wahrer Traumklangteppich. Hypersensibel, ich muss es wiederholen.

Was man vom Publikum leider weniger behaupten konnte – Mitfilmen, Unruhe, Huster, Dummbatz-Applaus zwischen den Berlioz-Sätzen. Aber zum Glück, wenn es akustisch drauf an kam, dann doch halbwegs gesittet. Das Cellokonzert von Saint-Saëns erweist sich als äußerst kurzweilig, der Solist ohne Fehl und Tadel, wenn auch etwas blass. Hätte bisschen mehr Druck und Saft vertragen können, dafür sehr edel, schlank, ätherisch.

Und dann kam Elgar und Nézet-Séguins große Stunde. Wenn man gemein sein möchte, könnte man den jungen Stardirigenten als hoffnungslosen Softie bezeichnen. Nein, im Ernst, der Bursche ist potenzierter Feinsinn, kostet jede Phrase bis ins letzte Detail aus, ohne dabei zu schleppen – im Gegenteil: Nimrod relativ flott und trotzdem zaubert er eine Bombensteigerung hin. Und wenns sein muss, kann der Kanadier auch Kante – Blech-Einsätze mit ordentlich Knack, im Finale wird die dynamische Reserve ausgekostet, dass der britische Pomp den ganzen Saal erbeben lässt. 

Bei der im Anschluß daran gegebenen Ravel-Zugabe wird, wie schon im Elgar, ein ganz zentraler Punkt der Handschrift Nézet-Séguins bestätigt: Transparenz. Ist es hier beispielsweise die Harfe, welche ganz klar das feine Klanggewebe durchglitzert, waren es im Nimrod die Celli, die ich so präsent als Teil des Streichergefüges noch nie wahrgenommen hatte. In jedem Fall ist der Mann prädestiniert für das Sanfte, Schwebende, „Französische“ – ich bin mehr als gespannt auf das baldige Wiedersehen mit seinen Kollegen aus Philadelphia und Bernstein sowie Tschaikowsky im Gepäck – damit hätte ich dann auch Nézet-Séguins aktuelles Orchesterportfolio komplett.

Laut der kleinen Ansprache seines Chefdirigenten handelt es sich um die erste (Europa?-)Tournee des Orchestre Métropolitain de Montréal seit seinem Bestehen – ich will doch schwer hoffen, dass der Reisewille nach umjubelten Konzerten wie diesem für die Zukunft endgültig geweckt ist.

24. November 2017

Miriways / Eröffnungskonzert Telemann-Festival
– Bernard Labadie. Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 5


Georg Philipp Telemann – Miriways TWV 21/24, 
Oper in drei Akten (konzertante Aufführung)

Leitung – Bernard Labadie

Miriways – André Morsch
Sophi – Robin Johannsen
Bemira – Sophie Karthäuser
Nisibis – Lydia Teuscher
Murzah – Michael Nagy
Samischa – Marie-Claude Chappuis
Zemir – Anett Fritsch
Gesandter – Paul McNamara
Geist, Scandor – Dominik Köninger

Akademie für Alte Musik Berlin


Bedenkt man, wie wenig Bock ich im Vorwege auf dieses Konzert hatte und wie knapp an der Nachweisbarkeitsgrenze meine Erwartungshaltung verlief, hat sich der Abend durchaus vorteilhaft entwickelt. Bei meiner ersten Begegnung mit einer Telemann-Oper überhaupt ging es erst mal back to the roots, bzw. back to good old Laeiszhalle – Elbphilharmonie-Abo 3 mit Retro-Einstand. Dass mit Herrn Volle der aktenkundig zugkräftigste Name der Besetzung als Ausfall zu vermelden war, noch dazu für die Titelpartie, machte die Sache erst mal nicht attraktiver, ermöglichte es Herrn Morsch jedoch, als Einspringer zu überzeugen. Wenn ich leise Kritik üben möchte, dann nur teilweise an der darstellerischen Umsetzung der Rolle, bzw. der Intensität, oder anders ausgedrückt: hier und da vielleicht etwas weniger darauf achten, schön zu singen, als vielmehr auch mal über die Stränge schlagen, beispielsweise tatsächlich (stimmlich) aus der Haut fahren, wo es das Libretto nahelegt.

Überhaupt ist das vielleicht ein allgemeiner Kritikpunkt an das ganze Ensemble, das immer ohrenschmausig, bisweilen aber auch etwas brav agierte. Naturgemäß gibt natürlich die Rolle des herrlich intriganten Zemirs deutlich mehr Futter, um schauspielerisch zu glänzen, als beispielsweise ein Sophi, der das Gros seiner Austritte mit Leiden und Lamentieren über sein Schicksal zunölt; dafür kann die gute Robin Johannsen – erst kürzlich im kleinen Saal (Link) der Elbphilharmonie kennengelernt – natürlich nichts. Und dennoch bereitet es ungleich mehr Freunde, Anett Fritsch mit überbordender Spielfreude beim Ausbaldovern von Boshaftigkeiten beizuwohnen. Michael Nagy als Murzah füllt den erst treudoof erscheinenden, am Ende jedoch durchaus feurigen Verehrer der Nisibis ebenfalls mit Leben. Für Achtungsmomente sorgt Dominik Königer, der in seinen beiden Kurzauftritten jeweils eine beeindruckende Stimme präsentiert.

Die Überraschung des Abends liefert aber Telemann selbst mit seiner Komposition. Führt man sich den formalen Aufbau der Oper vor Augen, die, bis auf wenigste Ausnahmen auf der stoisch durchgezogenen Abfolge von Rezitativen und Soloarien zusammengesetzt ist, könnte man ein eintöniges, ermüdendes Ergebnis befürchten. Es ist im Gegenteil verblüffend, wie abwechslungsreich Telemann sein Werk unter dieser „Limitation“ gestaltet. Es gibt eine Vielzahl an Stimmungen von erhaben bis urkomisch, verschiedene Stilmittel, um auch in der Instrumentation nicht im eigenen Saft zu schmoren und nette Effekte wie das auskomponierte, hämische Lachen Zemirs oder den Einsatz einer Stimme aus der Ferne. Das erste und einzige wirkliche Duett erleben wir erst, nachdem sich eines der beiden füreinander bestimmten Paare endlich gefunden hat – auch kein ganz schlechter Einfall. Aber man kann natürlich auch ein vortreffliches „Duett“ aus einer Stimme und einer Oboe erschaffen, auch hier zeigt sich der Tonsetzer erfinderisch.

Fazit: Mein Status zur Alten Musik bleibt eine Fernbeziehung, aber Telemann hat sich heute weder als Lieferant von Stangenware noch als Langweiler erwiesen.

9. November 2017

NDR Elbphilharmonie Orchester – Paavo Järvi.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich M, Reihe 2, Platz 7



Ludwig van Beethoven – Violinkonzert (Frank Peter Zimmermann)
Zugabe: Sergej Rachmaninow – Prélude op. 23, Nr. 5 g-Moll
(Transkription Ernst Schliephake)

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7


Es ist zum Mäuse Melken. In diesem Leben wird das wohl nichts mehr mit dem NDR und mir. Da kann nicht mal Paavo Järvi als Vermittler helfen, den ich insbesondere in seiner Funktion als Chef der Kammerphilharmonie Bremen und sichere Bank als Gastdirigent sehr schätze. An seiner Interpretation lag es nicht, dass heute trotz zweier Lieblingswerke nicht so recht Favoritenstimmung aufkommen wollte.

Egal ob Beethoven oder Schostakowitsch, an der Lesart und der „technischen Ausführung“ habe ich wenig auszusetzen – und doch will sich die Wirkung, die von diesen Werken ausgehen kann, einfach nicht einstellen. Sind es die (fehlenden) Klangfarben? Gibt es da doch eine gewisse akademische Steifheit, oder bilde ich mir das nur ein? Am Ende kann es mir egal sein, komme ich mit anderen Orchestern doch einfacher ans Ziel.

Fazit: Halbzeit im Abo D, Ernüchterung macht sich breit, vielleicht begebe ich mich nach dieser Spielzeit doch NDR-technisch ein paar Jahre in den Winterschlaf, zumal mich der designierte neue Chef des Vereins auch nicht unbedingt in euphorische Vorfreude versetzt. Man wird sehen und vor allem hören, was die Zeit bringt.

7. November 2017

Zyklus D "Große Stimmen" – Philippe Jaroussky.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 15 J, Reihe 1, Platz 1



Georg Friedrich Händel:

- Ouvertüre aus der Oper „Radamisto“ HWV 12a/12b
- „Pensa a serbami, o cara“ – Arie aus der Oper „Ezio“ HWV 29
- „Son pur felice“ & „Bel contento“ – Rezitativ und Arie aus der Oper „Flavio“ HWV 16
- Concerto grosso Nr. 1 in G-Dur HWV 319 op. 6 – IV. Allegro
- Sinfonia für Fagott, Streicher und B.c. H-Dur HWV 338 – Adagio
- „Son stanco“ & „Deggio morire o stelle!“ – Rezitativ und Arie aus der Oper „Sirore“ HWV 24
„Arrival of the Queen of Sheba“ – Sinfonie aus „Solomon“ HWV 67
- Concerto grosso Nr. 8 in c-Moll HWV 326 op. 6 – II. Grave
- „Se Potessero i sospir miei“ – Arie aus der Oper „Imeneo“ HWV 41
- Concerto grosso Nr. 4 in a-Moll HWV 322 op. 6 – III. Largo e piano, IV. Allegro
- „Vieni, d’ empietà mostro crudele, aprimi’ l petto“ & „Vile, se mi dai morte“ – Rezitativ und Arie aus der Oper „Radamisto“ HWV 12

(Pause)

- Concerto grosso Nr. 2 in F-Dur HWV 320 op. 6 – III. Largo
- „Che mi chiama alla gloria“ & „Se parla nel mio cor“ – Rezitativ und Arie aus der Oper „Giustino“ HWV 37
- Concerto grosso Nr. 6 in g-Moll HWV 324 op. 6 – Allegro ma non troppo
- Concerto grosso Nr. 2 in B-Dur HWV 313 op. 3 – II. Largo
- „Che più si tarda omai“ & „Stille amare“ – Rezitativ und Arie aus der Oper „Tolomeo“ HWV 25
- Concerto grosso Nr. 4 in a-Moll HWV 322 op. 6 – I. Larghetto affettuoso, II. Allegro
- „Ombra cara“ – Arie aus der Oper „Radamisto“ HWV 12
- Concerto grosso Nr. 3 in G-Dur HWV 314 op. 3 – III. Adagio
- „Privarmi ancora“ & „Rompa i lacci“ – Rezitativ und Arie aus der Oper „Flavio“ HWV 16

Zugaben:
- „Qual nave smarrita“ aus der Oper „Radamisto“ HWV 12
- „Si, la voglio e l’otterro“ aus der Oper „Xerxes“ HWV 40
- „Frondi tenere ... Ombra mai fù“ aus der Oper „Xerxes“ HWV 40

(Ensemble Artaserse, Philippe Jaroussky – Countertenor)


Kein Händel-Abend ohne das herrlich ketzerische Kowalski-Zitat: Ohne Händel kann ich leben. Seine Musik ist wirklich nicht meins, nur die ruhigen Sachen berühren, diese Koloraturakrobatik lässt mich kalt, ermüdet vielmehr. Auch die Orchesterstücke unterfordern mich hart. Aber: Kompliment an den Programmfluss. Nahtlose Übergänge zwischen instrumentalem und Gesangsstücken. Zweiteilung erste Halbzeit – nicht doof!

Ensemble: Keine 20 Leutchen im Kampf gegen sich verstimmende Saiten. Historische Aufführungspraxis geht nicht emphatischer, zupackender – trotzdem bin ich da raus und vermisse vernünftige Instrumente. Der Celloklang schmalbrüstig, die Oboen und das Fagott mitunter hölzern (lag sicher nicht an den Musikern), die Violinen mal herrlich ruppig, dann aber wieder dünn. Das Cembalo vollbringt in der Saal-Akustik seltsame Klickgeräusche. Och nö. Nochmal: diese Stimmerei geht mir auf den Sack – warum dies selbst gewählte Leid mit minderem Material?

ABER: Wenn ein solches Schmonz-Verdikt mal angebracht ist, dann heute: eine Stimme wie ein Engel. Weder männlich, noch weiblich. Was für eine Phrasierung, Diminuendi, krasse Zartheiten in (gottseidank!) absoluter Stille – Wahnsinn. Die armen Podiumsplatzinhaber (ich denke mit Phantomschmerz an Kaufmann zurück), denen der direkte Glanz dieses Wunderorgans entgeht. Aber wo wir schon beim Publikum sind – viel gibt es zu schelten in diesen Tagen der Elphimanie, aber heute zeigten sich die Besucher von ihrer Schokoladenseite. Obwohl – oder wahrscheinlich dann doch gerade weil – es heute ein Programm für Spezialisten und Feinschmecker gab, war die Konzentration im Saal absolut vorbildlich. Man kann gar nicht oft genug betonen, welch eklatanter Unterschied sich unter diesen akustischen Bedingungen zwischen den Zuständen „eigentlich ganz ruhig“ und „mucksmäuschenstill“ ergibt. Im wahrsten Sinne atemberaubend, wenn sich eine einzelne, feine, überirdische Stimme in diesen Raum ergießt, Wellen der Verzückung in den Äther schickt.

Nur eine Frage stellt sich mir: warum singt der Bursche nicht Britten? wo bleibt der Apollo, wo der Oberon mit seiner unvergleichlichen Arie? Ist doch überschaubar, was der Engländer für diese Stimmlage komponiert hat, aber nicht minder betörend – genau das Richtige für diese einmalige Stimme.

28. Oktober 2017

Mathis der Maler – Rasmus Baumann.
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen.

19:30 Uhr, Parkett links, Tür 1, Reihe 4, Platz 110



„Was ist Kunst dem Menschen in Ausweglosigkeit? Beziehungsweise dem Künstler? Existenzielle Äußerung des Menschseins in unmenschlicher Zeit? Triebfeder einer Existenz ohne Perspektive?“ – die einleitenden Gedanken, welche ich nach meinem ersten Besuch an diesem Hause, zur Produktion „Der Kaiser von Atlantis“ (Link) an der kleinen Bühne des MiR festhielt, lassen sich in verblüffender Deckungsgleichheit auch auf das heute einen Steinwurf Erlebte übertragen. Bezog sich die Fragestellung seinerzeit insbesondere auf die Umstände der Entstehung, so trifft sie auf Hindemiths Oper gleich in doppelter Weise zu. Schrieb Ullmann sein Werk als Häftling in Theresienstadt, fällt die Entstehung von „Mathis der Maler“ in die Anfänge des Regime-Terrors gut zehn Jahre zuvor – die Bücherverbrennung im dritten Bild als erschreckender Widerhall der Geschehnisse 1933. Zum anderen stellt Hindemiths Arbeit aber auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Stellenwert des Künstlers und seiner Kunst in Zeiten gesellschaftlicher Zersetzung, im Angesicht von Krieg, Hunger und Not dar. Wenn man so will die letzte Konsequenz in der langen Tradition von Künstleropern wie dem Tannhäuser, den Meistersingern oder Pfitzners Palestrina.

Das Theater Gelsenkirchen beweist nach dem eindringlichen Kammerspiel Ullmanns, dass es auch ein Riesenwerk wie Hindemiths Mathis zu stemmen in der Lage ist, und das in bestechender musikalischer wie szenischer Qualität. Orchester, Chor und Ensemble hinterlassen einen durchweg starken, homogenen Eindruck. Der Sänger der Hauptpartie besitzt einen eher lyrischen Bariton, was dem Mathis eine deutlich weichere Färbung gibt, als ich sie vor Jahren in der Hamburger Inszenierung durch das imposant-ehrfurchtgebietende Organ eines Falk Struckmann vermittelt bekam. Yamina Maamar als Ursula hat einen leicht herben Einschlag, an den ich mich etwas gewöhnen musste, aber abgesehen davon füllt sie die Rolle darstellerisch wie stimmlich sehr intensiv aus. Tobias Haaks überzeugt mit strahlendem Tenor, Bele Kumberger als seine Tochter zart und verletzlich. Martin Homrich verkörpert den zerrissenen Fürsten mit all seinen Facetten – Autorität und Last der Macht, politische Verpflichtung sowie privater Glaube und persönliche Wünsche.

Die Regie siedelt den Konflikt zwischen den Konfessionen sowie zwischen einfachem Volk und Adel in einer Art überzeitlichen Gegenwart an. Mathis wird als avantgardistischer Künstler gezeichnet, dessen Werk von den „Schwarzröcken“ – in diesem Fall kunstsinnige Vernissage-Gänger statt Kleriker – in betont kritischer Pose bestaunt wird. Sein größter Fan und Mäzen, der Kardinal und Landesfürst, hat eine ganze Schatzkammer voll Exponate aus allen Epochen, da darf der neueste Mathis natürlich nicht fehlen. Wenig verwunderlich, dass angesichts des aktuellen Kriegs gegen Ketzer und Bauern die Staatskasse leer ist und die Erschließung neuer Geldquellen höchste Dringlichkeit besitzt.

Diese Situation suchen die Protestanten wiederum für ihre Ziele zu nutzen, indem sie, bzw. Luther selbst brieflich, dem Kardinal eine Vernunftehe mit Ursula, der Tochter eines reichen Bürgers und Neugläubigen, schmackhaft zu machen versuchen. Während sich an dieser Konstellation der politische Zündstoff des Stückes entzündet, ist Mathis’ Konflikt ein persönlicher. Gleich zu Beginn der Oper fragt er sich selbst, ob sein Schaffen genug sei im Angesicht der Auseinandersetzungen seiner Zeit. Der Bauernführer Hans Schwalb wird ihm wenig später die Frage erneut direkt stellen (interessanterweise mit der gleichen Gesangslinie), als er und seine Tochter bei dem Künstler Schutz vor ihren Verfolgern suchen. Diese Frage ist es, die Mathis in der Folge Partei ergreifen lässt für die Schwachen, ob geknechtete Bauern oder die durch eben jene bedrohte Gräfin Helfenstein, aber letztendlich, nach der großen Vision im zweitletzten Bild, doch wieder auf seine Kunst zurückwirft.

Die Inszenierung funktioniert auf allen Ebenen ausgesprochen gut. Das modulare Bühnenbild mit seinen frei verschiebbaren Wandelementen ermöglicht schnelle Wechsel zwischen den oft beinahe nahtlos ineinander übergehenden Bildern. So wird in Windeseile aus dem überschaubaren Atelier Mathis’ eine repräsentative Halle am Hofe Albrechts von Brandenburg. Die einzelnen Kompartimente zitieren wiederum in ihrem Stil die Architektur des Mittelalters, Rundbögen, verputzte Gewölbe und schaffen einen Kontrast zu den Kostümen aktueller Couleur: Mathis im weißen Anzug mit Fliege, leicht dandyhaft, seine Ausnahmestellung betonend; der Kardinal beim offiziellen Anlass mit Bischofshut und prächtiger Robe, aber auch verspiegelter Sonnenbrille, ansonsten in edlem Zwirn wie seine Entourage, bis er schließlich nach seinem Sinneswandel Pullunder und Käppi als Büßergewand wählt. Hans Schwalb martialisch mit Bomberjacke, Tarnhose und Armeestiefeln, das Bauernheer ein zusammengewürfelter Haufen, eine zeitgenössische Miliz. Die Soldaten der Staatsgewalt hingegen betont unkonkret, ausgestattet mit Protektoren und Helmen aus dem Sportbereich, ihre Führer geschmackvoll gekleidet mit Trenchcoat, auch wenn ihr Auftreten und Handeln wenig Geschmackvolles hat.

Brutalität und Gewalt durchziehen die Oper, in diesem Zusammenhang gebührt dem Regieteam großes Lob für die Visualisierung dieser Szenen. Die Erfahrung zeigt, dass allzu plattes Realismusstreben hier häufig kontraproduktiv wirkt, in diese Falle tappt man in Gelsenkirchen nicht. Drei Beispiele: Das Aufeinandertreffen zwischen Katholiken und Protestanten gipfelt in einer Tortenschlacht, was einerseits illustriert, wie kindisch der Glaubenszwist ist, es den Beteiligten andererseits ermöglicht, sehr physisch zu Werke zu gehen. Die Folter und Ermordung des Grafen durch den Bauernmob wird zwar sehr realistisch dargestellt, allerdings sorgt die Verwendung von schwarzer statt roter Farbe für das Blut für ein gewisses abstraktes Moment. Bei der Vergewaltigung seiner Frau übernimmt eine weibliche Darstellerin die Rolle des Schänders, was deutlich macht, dass Gewalt und Missbrauch geschlechtsunabhängig von den Menschen Besitz ergriffen haben.

Die Personenregie offenbart einen überaus genauen Blick auf den Text, etwa wenn gleich von Anfang ein eine Beziehung zwischen Mathis und Ursula gezeigt wird oder auch wie herrlich die Ironie unterstützt wird, wenn von der seltsamen Reliquienvermehrung die Rede ist: das „Heiligste“ wird von zwei kaugummikauenden Presenterinnen überaus weltlich in Szene gesetzt – Erlösung aus dem Teleshop. Die große Vision Mathis’ besticht durch überbordende Ideenfülle und Intensität: Das naive Bild der betenden Engel, Ursula gleichsam als Heilige (die Farbe Blau/Marienfigur) und Hure (Lackstiefel unter dem Gewand), generell alle „verzerrten“ Figuren, angefangen bei Schwalb, der als bizarrer General wiederkehrt bis hin zum grell-grotesken Personal der Hölle, die sich aus dem Bühnenschlund auftut. Einfach starke Bilder.

Und mit einem starken Bild endet auch diese Produktion: der Schlagbaum ins Nichts. Regina, nunmehr Aktivistin („Stop War“), wird direkt, nachdem sie ihn passiert hat, inhaftiert, abgeführt. Dann folgt Mathis. Er hat sein Päckchen gepackt, der Künstler geht in eine ungewisse Zukunft – Ullmann wurde in Ausschwitz ermordet, Hindemith verließ seine Heimat als Emigrant.


Mathis der Maler – Paul Hindemith
Musikalische Leitung – Rasmus Baumann
Inszenierung – Michael Schulz
Bühne – Heike Scheele
Kostüme – Renée Listerdal
Licht – Patrick Fuchs
Dramaturgie – Gabriele Wiesmüller
Chor – Alexander Eberle

Mathis, ein Maler am Hof Albrechts – Urban Malmberg
Albrecht von Brandenburg – Martin Homrich
Riedinger – Luciano Batinić
Ursula, Riedingers Tochter – Yamina Maamar
Hans Schwalb – Tobias Haaks
Regina, Schwalbs Tochter – Bele Kumberger
Wolfgang Capito – Edward Lee
Lorenz von Pommersfelden – Joachim Gabriel Maaß
Gräfin Helfenstein – Almuth Herbst
Truchseß von Waldenburg – Jacoub Eisa
Sylvester von Schaumburg – Tobias Glagau
Der Pfeifer des Grafen – Apostolos Kanaris

Opern- und Extrachor des Musiktheater im Revier
Statisterie des Musiktheater im Revier
Neue Philharmonie Westfalen

25. Oktober 2017

The Cleveland Orchestra – Franz Welser-Möst.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 13 E, Reihe 3, Platz 13



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 6 a-Moll


Das flotte, zackige Dirigat Welser-Mösts hat mich ziemlich überrascht, weil ich den Mann irgendwie mit eher breiten Tempi abgespeichert hatte – wohlgemerkt nicht im Zusammenhang mit Mahler. Hat mir sehr zugesagt, gleich der erste Satz startet energisch und drängend, wie es sein soll. Auch die wehmütig-zerrissene Stimmung des Andante – heute an zweiter Stelle stehend – wurde sehr intim eingefangen. Im Scherzo, insbesondere aber im Finale, ließ Welser-Möst, ungeachtet der fortwährenden Steigerungs- und Auflösungswellen an der Grenze des orchestral Leistbaren, nie Zweifel an der Klarheit der monumentalen Konzeption Mahlers aufkommen und trieb sein Orchester gleichzeitig zu einem äußerst mitreißenden Kampf der Kräfte an. Momente der Kontemplation wiederum, wie die Passagen mit Herdenglocken und Glockenschlägen aus der Ferne, welche rechts und links im hinteren Zugangsbereich zur Bühne realisiert wurden und für einen akustisch bemerkenswert stimmigen Effekt sorgten, gestaltete der Dirigent mit der gebührenden Sensibilität.

Zwei Einschränkungen sorgten allerdings dafür, dass mir persönlich das letzte Quäntchen Mahler-Rausch versagt blieb: Ohne Welser-Mösts Konzeption an sich in Frage stellen zu wollen (über Kleinigkeiten lässt sich natürlich immer streiten – so ging ich beispielsweise mit der Artikulation eines bestimmten Streichermotivs im Andante und dem damit verbundenen Ausdruck nicht ganz mit), bin ich doch bei aller Wertschätzung für Präzision und Kontrolle ein Freund davon, die abgründigen Extreme bei Mahler auf der letzten Rille zu fahren. Derb reicht da manchmal nicht, das kann dann ruhig ins Vulgäre umschlagen. Kontraste nicht allein im Tempo und der Dynamik, sondern immer auch im Klangbild. Und diese Einschätzung geht mit Einschränkung Nummer zwei einher: Die Gäste aus Cleveland sind ein Spitzenorchester, liefern aber nicht immer unbedingt die Klangfarben, welche mir für Mahler vorschweben. Es ist schwer, das an einzelnen Orchestergruppen festzumachen, aber der Vergleich mit anderen Weltklasse-Klangkörpern in diesem Saal fällt rein subjektiv nicht zu Gunsten der Amerikaner aus.

Dennoch bin ich mehr als froh und dankbar, diese sinfonische Tour de Force in solch vollendeter Darbietung erlebt zu haben. Für Mahler nur das Beste – Geschmäcker hin oder her.

21. Oktober 2017

Les Troyens – John Fiore.
Semperoper Dresden.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Tür F, Reihe 5, Platz 23



Berlioz gehört ja zu meinen absoluten Lieblingen. Die ganze Figur des scharfzüngigen Feuerkopfs und experimentierfreudigen Orchesterinnovators fasziniert mich seit eh und je – und dann erst seine Werke! Ob Requiem, Fausts Verdammnis oder die unausweichliche Symphonie Fantastique, ob Harolds gebratschte Italiensehnsucht, der irisierende Streicher- und Harfen-Glitzer der Fee aus Romeo und Julia oder der bald lähmend düstere, bald machtvolle Bläsersatz der Grande symphonie funèbre et triomphale – Ein Komponist der feinen wie der großen Geste, ein Komponist der Kontraste. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass seine größte, zumindest ambitionierteste, zeitlich ausgedehnteste Beschäftigung mit dem Musiktheater meine Reiselust weckt, wenn es an solch exquisitem Hause gegeben wird.

Ich schreibe absichtlich „ambitionierteste“ und nicht „beste“ Arbeit, weil ich mir nach dem dritten Liveerlebnis dieses Werkes immer noch nicht ganz sicher bin, wie und wo genau ich es in mein Berlioz’sches Schwärmportfolio einzuordnen habe. Die Berliner Produktion ließ mich seinerzeit erst begeistert (Link), dann reserviert (Link) zurück, und auch heute bleibt ein ambivalentes Gefühl zurück. Die Partitur enthält fraglos jene Schön- und Kühnheiten, für die ich Berlioz so liebe, macht es dem Hörer angesichts ihrer Länge und Komplexität nicht gerade leicht, von diesem nach jenen wenigen und seltenen Begegnungen vollumfänglich erfasst und somit auch geschätzt zu werden. So verließ ich nach fünf Stunden die Semperoper mit der Frage, ob da an diesem Abend nicht doch mehr drin gewesen wäre.

Bei der Spurensuche diesbezüglich möchte ich mich in erster Linie auf die Inszenierung stürzen, da die musikalische Umsetzung ohne Zweifel kaum Anlass zur Beanstandung bot – im Gegenteil, aber dazu später mehr. Willkommen in Troja, oder besser gesagt, willkommen in Dresden, denn die seit zehn Jahren belagerte und nun nach dem scheinbaren Abzug der Griechen in Feierlaune befindliche Stadt ist in dieser Produktion die Elbmetropole Ende des 19. Jahrhunderts (Im Programmheft ist vom "Fin de siècle" die Rede, aber die preußische Pickelhaube hat bei Herrn Falaschi noch nicht Einzug gehalten). Die Feierlichkeiten zum trügerischen Frieden finden demnach auf dem Opernplatz statt, eine große Architekturzeichnung der Semperoper dominiert das Bühnenbild. Eine vielleicht erst mal befremdlich anmutende „Aktualisierung“, bei der sich Frau Steier und ihr Team aber sicher etwas gedacht haben werden. Nicht unspannend, das Problem nur: welche Absicht auch immer sich dahinter verbirgt – sie erschloss sich mir im weiteren Verlauf der Inszenierung leider nicht. Ich möchte gern glauben, dass mehr als ein lokaler Bezug hergestellt werden sollte, bleibe jedoch ratlos. Troja kann überall sein? Dafür brauche ich dann keine sächsischen Uniformen aus dem Militärmuseum, sorgsam ondulierte Schnurr- und Backenbärte bei den Herren sowie in der Mode der Zeit gekleidete Damen. Das Militär hat bei den Trojanern die Hosen an, schon klar, aber auch dafür ist diese örtliche und zeitliche Eingrenzung nicht relevant.

Abgesehen von jener Irritation muss man es den Verantwortlichen aber lassen, dass sie mit der gleichen Detailversessenheit der Maske und Kostüme ebenso die Personenregie bedacht haben, so dass es gerade bei der Fülle an Massenszenen mit Choristen und Statisten viel zu entdecken gibt. So ist das Volk nicht allein trunken des Sieges, sondern gibt sich frohgemut allerlei alkoholischen wie kulinarischen Genüssen hin – Der König selbst (Priamus hier folgerichtig als Albert von Sachsen) macht den Anstich, die Gulaschkanone dampft, Würstchen finden hungrige Abnehmer. Optisch ansprechend und räumlich clever gelöst ist die Szene, in der einzelne Tribünensegmente, einem kleinen Ballett gleich, über die Bühne dirigiert werden – eines für das Volk, eines für den Klerus und eines für den Hofstaat. Viele der Choristen scheinen kleine Rollen einstudiert zu haben, an jeder Ecke spielen sich Mini-Szenen ab, so dass man im Gewusel mitunter gar nicht alles mitbekommt.

Der König ist ein Stoffel, der erst von seiner Gattin ermahnt werden muss, beim Erscheinen der Witwe Hektors Haltung anzunehmen, Aeneas versucht den Halbwaisen mit einem Luftballon aufzuheitern und durch eine Partie Stein-Schere-Papier auf andere Gedanken zu bringen. Die Mutter verliert beim Anblick eines Säuglings vollends die Fassung und muss gewaltsam von dem fremden Kind getrennt werden. Die Tragik der Szene wird andererseits durchaus gebrochen, beispielsweise wenn der Soldat der derangierten Witwe verschämt ein Würstchen anbietet. Manche Grausamkeit wird wiederum mit einem Hyperrealismus zelebriert, so etwa bei der Präsentation Laokoons, dessen entstellter Leib direkt der Pathologie entnommen scheint, oder wenn Cassandra einer Trojanerin in der Gewalt der Griechen mit einem Hieb den Bauch aufschlitzt, dem daraufhin ein ordentliches Bündel blutiges Gekröse entspringt.

Die Schreckensvisionen der besagten Seherin tauchen die Bühne jeweils in ein gespenstisches, gelbes Licht; während Cassandra versucht, Einfluss auf ihre Mitbürger zu gewinnen, bewegen sich diese in Zeitlupe, unbeeindruckt, verlachen sie. Bei dem vergeblichen Versuch, ihren Verlobten zur Flucht zu bewegen, ist ihr verstorbener Sohn als Gespenst allgegenwärtig. Letztlich kann sie weder ihren Liebsten retten noch verhindern, dass das Pferd der Griechen in die Stadt gebracht wird – in dieser Inszenierung ist es eine Kopie des Reiterstandbildes auf dem Opernplatz. Warum auch immer, mehr als einen Gag konnte ich darin nicht erkennen. Das trojanische Pferd ist ein Fremdkörper, eine scheinbare Opfergabe der Griechen – das Reiterstandbild ist ein Teil Dresdens, somit Trojas. Egal.

Der theoretische Hauptcharakter Énée bleibt erst mal unauffällig. Er ist ein Tunichtgut, der sich mit Damenbesuch auf seinem Zimmerchen vergnügt, während die Griechen die Stadt in Schutt und Asche legen. Die unstrittige Zentralfigur der ersten beiden Akte stellt hingegen Cassandra dar. Aus meiner Sicht hat Berlioz für sie auch die beste Musik des Trojaner-Teils der Oper geschaffen, namentlich ihre Überzeugungsversuche, besonders ergreifend in der Dialogszene mit ihrem Verlobten Chorèbe, bevor sie schließlich in wahnhaftem Eifer zum Massenselbstmord der Trojanerinnen aufruft. An vielen Details der Instrumentation wird deutlich, wie effekt- und wirkungsvoll Berlioz für das Theater komponierte, etwa anhand des langsam aus Fernorchesterweiten anschwellenden Triumphmarsches oder der Erscheinung des toten Hektors – erst düstere, leise Klänge der Vorahnung, dann ein greller Beckenschlagblitz aus dem Nichts.

Nach der Pause geht es in Karthago ähnlich aufwändig weiter, wir erleben das emsige Treiben der Tyrer, ihrerseits eine Art Studie des vorrevolutionären Russlands – orthodoxe Priester, Trachten, Flechtfrisuren. Hammer und Sichel im Gebrauch künden vom Arbeiter- und Bauernstaat. In diese Idylle stranden die Dresdner Militärs, Pardon, die Trojaner. Zweifel daran, wie zwingend diese Bemäntelung der beteiligten Parteien ist, wohin sie führt, mehren sich. Aller Akribie der Personenregie – die Dresdner/Trojaner richten sich in Karthago häuslich ein, hissen ein Semperoperbanner und befeuern die Gulaschkanone nach erfolgreichem Feldzug gegen die nubischen Aggressoren – steht doch überraschend wenig Idee gegenüber.

Sicher, ein ganz wesentlicher Eingriff der Regie besteht darin zu zeigen, wie sich die Krieger nicht allein an Bier und Würstchen, sondern auch an den karthagischen Frauen gütlich tun, und das in bester Besatzungsmachtmanier. Das ist ja auch nicht dumm, kommt den Frauen in diesem Werk doch eine, wenn nicht die zentrale Rolle zu, als Einzelpersonen (Cassandra/Dido) wie im Kollektiv. Um allein auf diesen Umstand hinzuweisen, hätte es aber nicht dieser Pseudo-Aktualisierung bedurft, die eher in die Irre führt. Das Leid, welches Krieg – und Krieger – gerade bei der weiblichen Bevölkerung verursachen, ist ein leider allgemeiner, ja ewiger Gegenstand menschlicher Geschichte. Ich weiß nicht, was dieser falsche Realismus dem hinzufügt. Die Unterredung der beiden Trojaner über die Vorzüge des Müßiggangs in der Fremde in einer Vergewaltigung gipfeln zu lassen, legt den Finger in die richtige Wunde – den ganzen Kostümfundus-Mummenschanz braucht es da gar nicht (Bezeichnenderweise rief gerade diese Szene den Unmut einiger Besucher hervor – das alte Thema: man möchte sich die selbst geschaffene Illusion belangloser Oberflächlichkeit, bemäntelt als „Schönheit“, im Theater nicht zerstören lassen).

Vollends entglitt die Kostüm-Charade dann bei der Abwendung des Überfalls auf Karthago. Die Nubier als Krummsäbel schwingende Klischeearaber, denen in Karl-May-Festspiel-Qualität der Garaus gemacht wird. Während des nachfolgenden Zwiegesprächs zwischen dem Minister und Didos Schwester ist es schwer, bei aller ausinszenierten Leichenfledderei und minutiösen Abtransports der Gefallenen überhaupt noch etwas vom Inhalt der Unterhaltung mitzubekommen. Zur Walzerseligkeit der Liebesmusik von Dido und Aeneas treiben trojanische Wachen das karthagische Volk über die Bühne – gelangweilte Krieger sind eine Zeitbombe, ich hab's begriffen. Vorher schon. Die Ballettszenen scheinen gekürzt, dafür gibt es ein paar Artisten – Szenenapplaus, natürlich.

Der letzte Akt schließlich wartet mit weiteren Ärgernissen – warum müssen die Trojaner an solch leiser Stelle an den Segeln ihrer Requisiten-Schiffchen rumfummeln? – aber auch mit der stärksten Szene des Abends auf: die Idee, die verstorbene Cassandra und ihren Sohn der verzweifelten Dido als tröstende Geister an die Seite zu stellen, ist ebenso zwingend wie ergreifend. Ansonsten endet die Inszenierung unbefriedigend – der Sockel des Reiterstandbild-Zitats muss als Scheiterhaufen herhalten, Dido bekommt noch ein neues dekoratives Kleid und geht mit Aeneas´ Waffenrock in den Tod.

Kommen wir nach so viel Ambivalenz des Szenischen zur erfreulich homogenen und erwartet hohen Qualität der musikalischen Umsetzung. Konfrontiert mit einem doch eher überschaubaren Orchestergraben, geriet die üppige Besetzung zur räumlichen Herausforderung – Teile des Blechs, an einer Stelle gar des Chores, wurden daher ins Proszenium ausgelagert. John Fiore hatte die Klangmassen dennoch bestens im Griff, sorgte für Momente kolossaler Energieentladungen, hatte aber eben gleichermaßen das feine, zarte der Partitur im Blick. Die Staatskapelle Dresden, abgesehen von minimalen Schönheitsfehlern im Blech, mit einer bärenstarken Leistung. Die Chöre druckvoll, ekstatisch.

Aus der Sängerriege stachen die beiden großen Damenpartien nicht allein aufgrund ihrer Anteile und Bedeutung wegen heraus. Zum einen Jennifer Holloway als Cassandra, die mich heute am meisten beeindruckt hat – feinstes Mezzo-Timbre mit einer gehörigen Portion Feuer und – trotz der tragischen Anlage der Rolle – Erotik, zudem eine Sängerin mit außergewöhnlicher Bühnenpräsenz. Zusammen mit dem wunderbar weich-samtigen Bariton Christoph Pohls, lyrisch und voller Schmelz, bildete sie für meine Ohren das Paar des Abends, in jedem Fall die besten Stimmen der beiden Troja-Akte. Das eigentliche Traumpaar (oder Albtraumpaar, angesichts des Ausgangs ihrer Beziehung) Dido und Aeneas, konnte mich zuerst nicht in gleichem Maße fesseln, da ihre Verkörperer stimmlich doch aus etwas anderem Holz geschnitzt schienen. Bryan Register besitzt einen warmen, angenehm edlen Tenor ohne Schärfe, aber gleichzeitig auch ohne die letzte heldische Strahlkraft, was sich insbesondere bei Spitzentönen bemerkbar machte. Christa Mayers Stimme ist im Gegenzug zu Frau Holloway weniger von sinnlicher Leidenschaft geprägt, ihre Dido hat etwas mütterlich-gütiges, ich höre hier weniger vom Feuer der Liebe, als es die Partie vielleicht verlangt – halt mehr Brangäne als Isolde. Mayers Stunde schlägt jedoch dann, wenn der trojanische Thronflüchtling längst über alle Berge ist. Die Verzweiflung, Wut und tiefe Traurigkeit der Königin in ihrem nicht enden wollenden Abschied von ihrer Liebe, sich und der Welt, kann man intensiver, nuancenreicher wohl kaum transportieren – überragend. Aus einer Fülle weiterer sängerischer Glanzlichter möchte ich Simeon Esper hervorheben, der mit dem Lied des Hylas seinen fein-edlen Tenor erstrahlen ließ.

Am Ende gelange ich wieder zu Berlioz und der Frage, ob diese Oper einmal einen ähnlichen Stellenwert bei mir innehaben wird, wie so viele andere seiner Werke. Ich bewundere auch hier den Instrumentationsmagier. Die zweite Geistererscheinung toppt die erste noch an Ungeheuerlichkeit – Flageolett, höchste Höhen gegen tiefsten Bassgrund. Klingt so einfach, das Ergebnis lässt die Nackenhaare tanzen. Ebenso zeigt sich wieder der Schöpfer von Kühnheiten – die Intervalle direkt vor dem Liebesduett machen mich in bestem Sinne fertig. Und dann sind da diese unglaublichen Schönheiten, scheinbar aus dem Nichts, beispielsweise wenn jene unfassbar anrührenden Holzbläserfiguren, vor allem die der Flöten, Dido auf ihrem letzten Weg begleiten. Überhaupt Dido – was für ein unerhört endloses Ende. Die Trojaner sind ein Werk, das nicht leicht zu knacken ist, soviel habe ich gelernt. Aber ich möchte es gern weiter versuchen.

PS: Es mag vielleicht banal klingen, aber mir ist erst heute die verblüffende Ähnlichkeit im Grundkonflikt aufgegangen, welche die Trojaner mit der fast zeitgleich entstandenen Afrikanerin/Vasco de Gama von Meyerbeer teilt – hier wie dort dreht sich alles um eine Exotische Königin, die einem fremden Eroberer Asyl gewährt, sein Herz an ihn verliert und schließlich ihren Leben selbst ein Ende setzt, nachdem er sie verlassen hat. Zweimal Grand opéra – zweimal ganz große Oper.


Hector Berlioz – Les Troyens
Musikalische Leitung – John Fiore
Inszenierung – Lydia Steier
Bühnenbild – Stefan Heyne
Kostüme – Gianluca Falaschi
Licht - Fabio Antoci
Chor – Jörn Hinnerk Andresen
Leitung Kinderchor – Claudia Sebastian-Bertsch
Dramaturgie – Anna Melcher

Énée – Bryan Register
Chorèbe – Christoph Pohl
Panthée – Ashley Holland
Narbal – Evan Hughes
Iopas – Joel Prieto
Ascagne – Emily Dorn
Cassandre – Jennifer Holloway
Didon – Christa Mayer
Anna – Agnieszka Rehlis
Hylas / Hélénus – Simeon Esper
Priam – Chao Deng
Der Schatten Hectors / Mercure – Alexandros Stavrakakis
1. trojanischer Soldat / ein griechischer Führer – Jirí Rajniš
2. trojanischer Soldat / Soldat – Mathhias Henneberg
Hécube – Ute Selbig
Polyxène – Roxana Incontrera
Andromaque – Angela Schlabinger

Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden

Artisten
Damen, Herren und Kinder der Komparserie

10. Oktober 2017

Royal Concertgebouw Orchestra – Peter Eötvös.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 15 R, Reihe 1, Platz 5



Arnold Schönberg – Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34
Béla Bartók – Tanzsuite in sechs Sätzen Sz 77
Igor Strawinsky – Sinfonie in drei Sätzen

(Pause)

Peter Eötvös – Multiversum

(Iveta Apkalna – Orgel, László Fassang – Hammondorgel)


Eine weitere Folge der mittlerweile bei mir sehr beliebten Serie „Spitzenorchester abseits ausgetretener Pfade“, heute: der niederländische Premium-Klangkörper präsentiert Klassiker der Moderne und eine Uraufführung. Geleitet von Peter Eötvös, Dirigent und Komponist in Personalunion, welcher der Premiere seiner neuen Schöpfung somit praktischerweise vom Pult aus beiwohnen durfte.

Den Dirigenten Eötvös einzuschätzen fiel mir nicht leicht, da ich bei drei der vier Werke, die er zwar ohne Taktstock aber mit Partitur anging, keinerlei Interpretationsvergleiche ziehen kann. Einzig Strawinskys Sinfonie habe ich bereits ein paar Mal gehört und hier hätte ich mir tatsächlich deutlich mehr Kante in der Artikulation gewünscht, das Ganze im Ausdruck aggressiver, maschineller, die durch die perkussiven Akkorde des Klaviers angetriebene „Verfolgungsjagd“ des ersten Satzes atemloser, die Sacre-artigen Schläge brutaler. So war mir das alles zu rund, zu gefällig. Auf der anderen Seite konnte ich auch mit dieser Interpretation gut leben, nur dass „gut“ eben nicht die Kategorie ist, die ich bei solch höchstkarätigen Gästen erwarte.

Denn das Royal Concertgebouw Orchestra klingt schon mal per se nicht gut, sondern grandios. Und man kann es nicht oft genug sagen: für solche Orchester wurde diese Halle, diese Akustik entworfen. Eigentlich vom Beeindruckungsfaktor eine Neuauflage des Konzerts vor fast sieben Jahren in der Laeiszhalle (Link), nur was die Übertragung dieser Qualität betrifft eine ganz neue Dimension. Der typische, herbe Streicherklang, den ich nur zu gut von diversen (DECCA-)Einspielungen kenne und schätze, welcher mir damals offenbar fehlte, entfaltet sich in der Elbphilharmonie auf das Zarteste, Wärmste. Und was ist das bitte für ein makelloses Flageolett?

Krasse Klangfarben und -Wirkungen wohin man lauscht, veredelt durch die magische Transparenz der Akustik. Das Aufrauschen der Harfe geht nicht im Tutti unter, wie in vielen anderen Sälen, sondern funkelt klar ortbar entgegen. Das Gleiche gilt für die Beiträge von Klavier und Celesta. Die Holzbläser sind wieder sehr präsent, als hätte ihr Spiel keine Distanz zu überbrücken. Klitzekleine Einschränkung meiner Eloge: Die Hörner im Strawinsky haben mir nicht wirklich gefallen, irgendwie nicht so harmonisch und druckvoll, etwas flatterig. Generell scheint der Block (15 R) eine mehr als brauchbare Platzalternative zu sein, sofern man mit der schon recht steilen Perspektive auf die Bühne leben kann.

Noch kurz zu den beiden Erstbegegnungen vor der Pause: Die schönbergsche Filmmusik ohne Filmvorlage funktioniert für mich einwandfrei und hält eine Menge post-mahlerischer Klangfinessen bereit. Mich persönlich hätte allerdings schon sehr interessiert, wie Schönberg jenseits Beklemmung evozierender Topoi (Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe) etwa an emotional anders gelagerte filmische Standartsituationen – Liebesszene oder freudiges Wiedersehen zum Beispiel – mit seinen kompositorischen Mitteln herangegangen wäre.

Die Bartók-Suite ist ob ihres rhythmischen Drängens sowie melodisch unbehauenen und doch kunstvoll instrumentierten Charakters gleich beim ersten Hören ein Werk, das mitreißt. Gegen Ende ergibt sich die ein oder andere Parallele zu Kodalys Tänzen aus Galanta – was bei dem gemeinsamen Hobby beider Komponisten nicht weiter verwundern sollte. Insgesamt verhält es sich bei diesem Stück wie mit den meisten aus der Feder Bartóks – ich erkenne die Meisterschaft des Werkes, aber seine Sprache erreicht mich nur bedingt.

Nach der Pause dann Eötvös’ Multiversum. Noch bevor der erste Ton erklingt, springt die ungewöhnliche Anordnung der Besetzung auf der Bühne ins Auge: die Streicher links, das Holz nicht mittig, sondern ihnen gegenüber auf der rechten Seite. Das Blech dreifach geteilt zu je einem Duo Trompete und Posaune, die wiederum halblinks, mittig und halbrechts Platz nehmen. Zwei Hörner links, zwei rechts, dazu zwei Saxophone mittig, die eine Tuba flankieren. Dreimal Schlagwerk, jeweils augenscheinlich mehr oder weniger identisch, ebenfalls räumlich voneinander getrennt, dazu noch eine extra Batterie Pauken für sich stehend. Die drei solistischen Instrumente Orgel (Spieltisch), Celesta sowie Hammondorgel um das Pult angeordnet, die Hammondorgel mit Lautsprecherverstärkung auf Ebene 15, etwa schräg gegenüber der großen Orgel.

Die Musik selbst ist wenig fasslich, kommt weitgehend ohne Konturen bzw. klar auszumachende rhythmische Strukturen aus (einzige Ausnahme, die mir im Gedächtnis blieb, ist eine akzentuierte Streicherpassage, welche einen solistischen Moment der Celesta begleitet), vielmehr ist es ein stetiges Werden und Vergehen von Klängen, Klangmalerei, wobei die angesprochene Aufteilung der Musiker für akustische Wechselwirkungen genutzt wird – das multiple Schlagwerk sorgt durch gestaffelte Einsätze für Echoeffekte, die beiden Orgeln werden klanglich gegenübergestellt etc.. Motivische Arbeit als solche konnte ich nicht erkennen, entweder ist der melodische und harmonische Aufbau wirklich recht einfach oder aber viel zu kompliziert für mich.

Das Ergebnis sind zum Teil beeindruckende Klangeruptionen, aber unter dem Strich hat das Stück mehr von einem Akustiktest denn die Faszination eines unbekannten Werkes, das ich gern gleich ein weiteres Mal hören wollen würde. Aber vielleicht müsste ich Eötvös’ einfach nur eine zweite Chance geben. Daß es mir als latentem Neue-Musik-Muffel mit zeitgenössischen Werken durchaus anders gehen kann, hat Thomas Larcher in diesem Haus bereits zweimal eindrucksvoll bewiesen. Leider verblasst unter diesem Eindruck die erstklassige Leistung des Orchesters sowie der Solisten ein wenig, zumal das Concertgebouw Orchester durch die extravagante Sitzordnung leider keine Zugabe als Rausschmeißer geben konnte. Uraufführung gut und schön, aber man hätte die beiden Programmhälften definitiv tauschen sollen, dann wäre nach dem fulminanten Strawinsky noch die Möglichkeit dazu gewesen. Gern etwas aus der klassischen Moderne, um im Duktus zu bleiben, aber auch da gäbe es ja bekanntlich genug Optionen.

Ansonsten das alte Lied: Besucher, die mitten in der Aufführung gehen (zum Glück noch im Rahmen, aber Respektlosigkeit bleibt Respektlosigkeit), verhaltener Applaus, fluchtartig lichtet sich manche Reihe beim Schlußbeifall. So denkt man wieder an den einen oder anderen Musikliebhaber, dem das Konzert wahrscheinlich mehr gegeben hätte, wie man den diversen tapferen Bravos entnehmen konnte.

Kommentar an der Haltestelle Baumwall, während man auf die U-Bahn wartet: „Also ich höre gern Schumann, oder Bach ... oder die Moldau – das, was jeder kennt ... “ In diesem Sinne: Auf zu neuen Horizonten und Universen.

8. Oktober 2017

NDR Elbphilharmonie Orchester – Thomas Hengelbrock.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Ebene 15, Bereich M, Reihe 2, Platz 7



Witold Lutosławski – Musique funèbre
Wolfgang Amadeus Mozart – Requiem d-Moll KV 626
Zugabe: 

Johann Sebastian Bach – „Du, o schönes Weltgebäude“ 
BWV 301 und „Komm oh Tod, du Schlafes Bruder“ aus 
„Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ BWV 56

(NDR Elbphilharmonie Orchester,
Balthasar-Neumann-Chor und -Solisten,
Anna Lucia Richter – Sopran, Wiebke Lehmkuhl – Alt,
Lothar Odinius – Tenor, Tareq Nazmi – Bass)



Lutosławskis Trauermusik als „modernes“ Entree zu einem Totenmessen-Klassiker – da war doch was. Richtig, Tate hat es bereits 2014 in Hamburg vorgemacht, als die Eröffnung der Elbphilharmonie noch in den Sternen stand, seinerzeit mit dem Brahms-Requiem (Link). Was nicht suggerieren soll, dass die Symphoniker Hamburg, damals noch Hamburger Symphoniker, diesen Programm-Kniff erfunden hätten. Interessant eher, dass die Aufführung eines allseits bekannten Trauer-Opus offenbar gern als Anlass genommen wird, doch auch mal das Lutosławski-Stück zu präsentieren. So schrecklich oft ist der Pole ja sonst nicht im Konzertsaal anzutreffen. Was sehr schade ist, wie ich nach dem heutigen Abend wieder feststellen konnte.

Das etwa 15-minütige Werk für Streicher mag vor Tritoni und Dissonanzen nur so zu strotzen – Stichwort Clusterbildung – für mich klingt diese Musik, obwohl ich sie nicht gut kenne, äußerst vertraut und nah. Im Mittelteil, nachdem alles zur Ruhe kommt und leises Pizzicato einen neuen Abschnitt einleitet, sehe ich im Gesang der Violinen, begleitet von den Celli und Bratschen, während die Bässe ehrfürchtig schweigen, eine faszinierende Parallele zu Hindemith, genauer zur Mathis-Sinfonie. Die Streicherflächen der Grablegung, aber auch eine bestimmte Passage aus dem dritten Satz, der Versuchung des hl. Antonius, kommen mir in den Sinn. Nicht, dass Lutosławski hier Hindemith zitieren würde, aber die Stelle strahlt diese gleiche entkörperlichte, überirdische Schönheit gepaart mit tiefer Wehmut aus. Wahrscheinlich gibt es darüber hinaus viel naheliegendere Verbindungen zu Bartok, dem Lutosławski das Stück schließlich gewidmet hat, nur bin ich in dessen Œuvre leider nicht so firm.

Mit Mozart hingegen ist natürlich jeder vertraut. Sollte man zumindest meinen. Also ich ohnehin bekanntermaßen weniger – aus Gründen. Dennoch war es auch und gerade für mich besonders erfreulich, dass in der Einführung, nachdem wie üblich die Melange aus Legendenbildung und Anekdotenhalbwissen-Bingo, welche traditionell das Requiem umweht, nur noch einmal kurz umrissen und abgefertigt wurde, Herr Heile ein weitaus interessanteres Thema anschnitt: Mozart und seine Inspirationsquellen. Auch Mozart hat – wie alle Großen – geklaut, aber dabei – wie alle Großen – Neues hinzugefügt, weiterentwickelt. Eigentlich wenig überraschend, aber es gibt sicher nicht wenige Verklärer, die den Göttlichen gern als Gestirn, das sich einzig um sich selbst dreht, sehen würden. Mumpitz. Händel, Bach, Haydn – zur Abwechslung mal der Michael – haben alle spannende Sachen abgeliefert, so spannend, dass Mozart deren Aneignung und Veredelung im Betracht zog. Auch eine interessante Einschätzung: Mozart sei eher Vervollkommner bzw. Vollender denn Erfinder gewesen – im Gegensatz zu Haydn (jetzt aber der Joseph). Apropos Vollendung: jene des Requiems sei übrigens weniger aufgrund künstlerischer Weitsicht, sondern mehr aus der Sorge Constanzes um die bereits eingesackte Anzahlung und noch fehlende Schlussraten für die Messe angeschoben worden. Solche Anekdoten finde ich dann doch amüsant.

Das heutige Programmheft beherbergte die Besetzung des Orchesters als Faltblatt nebst Mini-Interview zum Thema historische Aufführungspraxis. Ich persönlich kann mich wirklich stundenlang mit der Entwicklung der Instrumente beschäftigen – auf Wikipedia, nicht im Konzertsaal. Konvex gebogene Bögen, ventillose Trompeten, Barockposaunen, kleinere Pauken, von mir aus. Ok, es ist klar, dass Mozart in Straussbesetzung diese Art von Musik in Sachen Transparenz nicht unbedingt nach vorne bringt, aber das ganze Gewese um (pseudo-)alte Instrumente bleibt mir bis auf Ausnahmen schleierhaft. Oder anders ausgedrückt: nicht uninteressant, aber im Ergebnis selten luststeigernd. Geschichtsunterricht halt. Ich bin sehr gern nach Gotha gefahren, um mir die alte Bühnentechnik mit ihren von Geisterhand wechselnden Papp-Scherenwänden in Aktion anzusehen, aber ich bin heilfroh, dass es an den Theatern heute auch in Barockopern mehr als die Option gibt, Bäume durch Säulen auszutauschen. Was sicher kein Plädoyer für ein anderes, viel schlimmeres „Pseudo“ sein soll, den (Pseudo-)Realismus im Theater. Aber ich schweife ab.

Viel wichtiger als irgendwelche Nasenhaarbögen und Posaunen mit oder ohne Schnüffelstück ist im Konzert immer noch der Einsatz der Musiker, nicht zuletzt des Dirigenten. Gefiel mir der Lutosławski unter Hengelbrock noch ausgesprochen gut, ja erwies sich als packend und intensiv, brachte er mit dem Requiem das Kunststück fertig, eines der wenigen Stücke Mozarts, für das ich so etwas wie leise Sympathie, mitunter gar Bewunderung hege, so blutleer und trocken in die makellose Akustik der Elbphilharmonie zu versenden, dass es auch dieses Mal ein Kampf auf Leben und Tod mit dem Sandmännchen wurde.

Gleich der Beginn – warum so hastig? Man kann auch schreiten, ohne zu schleppen und trotzdem den natürlichen Atem bewahren. Das Dies irae – gehetzt, verstolpert. Das Lacrimosa – seltsam aseptisch, dazu mit irritierend punktierten Betonungen. Dabei verfolgt der Mann vom Grundsatz her doch eigentlich vielversprechende ästhetische Ansätze: klare dynamische Kontraste, eine zum Teil äußerst knackige, fast aggressive Gangart in den schnellen Passagen (Rex tremendae majestatis) – wenn ich doch nur sein Timing nachvollziehen könnte. Da bringt mir auch der Hinweis aus dem Programmheft nicht viel, dass man mit Barockbögen deutlich agiler unterwegs sein kann, wenn das Ergebnis ohne die entsprechende Präzision an meinen Ohren vorbeischrammelt. Wo wir wieder beim Klang sind: dafür dämpfen diese tollen historisch verbürgten Bögen den Streicherklang dermaßen, dass er in der tendenziell ohnehin streicherfressenden Akustik des Saales, von Bläsern und Choristen übertönt, ein Schattendasein fristen muss.

Am Ende entschädigte zumindest die unverhoffte Zugabe ein wenig. Bach als zarter Klangtest für Ohren und Halle. Gerade der Schlusschoral der Kreuzstab-Kantate, a cappella durch den Balthasar-Neumann-Chor dargeboten, vermittelte auf den letzten Metern des Konzerts jenen feinen, schwebenden Charakter, der wohl bereits den ganzen Abend intendiert war – leicht, aber nicht leichtgewichtig. Und schloss gleichzeitig den Kreis zur Einführung: das Aufgreifen eines musikalischen Gedankens für ein neues Werk, hier mit dem Sonderfall, dass „Urheber“ und „Entlehner“ ein und dieselbe Person sind.

3. Oktober 2017

Parsifal – Kent Nagano.
Staatsoper Hamburg.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 12, Platz 17



Nachdem ich es aufgrund elbphilharmonischer und sonstiger Engpässe im Kalender erst zum letzten Aufführungstermin in der Premierenspielzeit dieser Neuinszenierung geschafft habe, oszillieren zwei Befindlichkeiten auf dem Heimweg in mir: Wie dumm, nicht jede Gelegenheit wahrgenommen zu haben, solch eine Schatzkammer voll inszenatorischer Auseinandersetzung mit meiner Lieblingsoper (Lieblingsbühnenweihfestspiel hat aufgrund mangelnder Bühnenweihfestspieldichte im Musiktheaterbetrieb einen eher ernüchternden Klang) durchstöbern zu dürfen. Und gleichzeitig wie tröstlich, ja bevorfreudigend, dass diese Produktion in Zukunft (das will ich doch schwer hoffen!) die Repertoirepläne dieses Hauses bereichern wird. „Aber der Wilson-Parsifal war doch so schön!“ Ja, war er. Und ganz ohne Tiefgang sicher auch nicht, aber, um es mal überspitzt festzuhalten: ästhetisch rumstehen war gestern, ab heute geht es ans Eingemachte.

Der Dank für diese besondere Erfahrung gebührt zweifellos Achim Freyer, der das Gesamtkunstwerk seinerseits als Gesamtkunstwerker durchleuchtet. Aufgrund der Vielzahl der Eindrücke nehme ich diesmal mit einer ungefilterten stichwortartigen Sammlung derselben vorlieb.

1. Aufzug

Die Abwesenheit der Farbe; Licht als stimmungsgebendes Element – Grün (Wasser), Rot (Blut, Wunde); Der Gral als Kind mit Babykopf, faszinierend, aber auch verstörend, nicht fasslich; das Leuchten der Gralsritter-Lampen wird rot aufgeladen

Eine dienliche Inszenierung – z.B. wird der Inhalt von Gurnemanz Erzählungen bildlich umgesetzt (Amfortas Versagen, Klingsors Selbstentmannung ... (der Schirm!))

Die Berufe der Gralsritter; Der Schwan als rotes Tuch plus ein paar Federn, die herunterrieseln

Die Geste bei der Erkenntnis des Todes der Mutter – nicht Wissen, Trauern, Verzweiflung. Stilisiertes, Theaterarbeit, nicht Realismus

Musikalisch: mehr Oratorium denn religiöser Rausch, im Kultus fein, doch mir fehlt der Sog, das Unerbittliche – Nagano ist mir zu objektiv


2. Aufzug

Der Tod ist auch hier zu Gast

Klingsor: Klingsors Spiegelungen, Tablet und Knallbonbons, Tand, der Zauberer, der vergrämte Popanz, abgewiesen

Blumenmädchen, Ballons, bunte Kugeln, Projektionen, Leuchtelemente, Rundungen, Versuchungen, kindlich – Klingsor mit den Ballons, bis (über)erotisch, Gummipuppenassoziationen, Pornografie? Lustdienerinnen, Verderberinnen; Was ist Sünde?

Parsifal liegt in Kundrys Schoß / Kundry bettet sich in Parsifals Schoß

Der Speer, abstrakt, Blut, Wunden, Kampf, Krieg, die Ritter, die von Parsifal verwundet werden; Klingsors Wunde unter der übergroßen Krawatte – das Feigenblatt des Versagens


3. Aufzug

Es schneit

Alles da: Krone, Fußwaschung und Salbung ...

Ist der Tod ein Gralsritter?

Wieder eindringliche Gesten – Unwissenheit, Verzweiflung (Herzeleide), Labung (Kundry)

Karfreitagszauber: die musikalische und textliche Bezugnahme auf die Blumenmädchen wird von Freyer genial aufgegriffen – bunte Kreise, Projektionen, von Parsifal und Kundry zum Schwingen gebracht

Am Ende löst sich die Spirale auf; gibt es ein Entrinnen? Worte fliegen herein:„Mensch, Hoffen, Licht, Tod, Ruhe, Erlösung“ ... „Anfang“ bleibt stehen;

Die Decke – ein Spiegel, Spiegelungen, Glanz, Erlösung /Auflösung


Fazit: ungeachtet der unbestreitbaren musikalischen Güte dieses Abends bleibt die Inszenierung der alles bestimmende Faktor einer Produktion, welche das Unmögliche möglich zu machen scheint: eine stringente Erzählung mit einfachsten, ja geradezu archaischen Bildern, die gleichzeitig jene Offenheit der Rezeption zulässt, welche dieses rätselhafte, wunderbar-widersprüchliche Werk bei jedem Erleben aufs Neue mit Ahnungen auf Antworten belohnt, deren Fragen jeden (mit-)fühlenden Menschen berühren sollten.


Richard Wagner – Parsifal
Musikalische Leitung – Kent Nagano
Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht – Achim Freyer
Lichtgestaltung – Sebastian Alphons
Video – Jokob Klaffs / Hugo Reis
Dramaturgie – Klaus-Peter Kehr
Chor – Eberhard Friedrich
Mitarbeit Regie – Sebastian Bauer
Mitarbeit Bühnenbild – Moritz Nitsche
Mitarbeit Kostüm – Petra Weikert
Spielleitung – Tim Jentzen
Produktionsassistenz – Eike Mann
Musikalische Assistenz – Volker Krafft

Amfortas – Wolfgang Koch
Titurel – Tigran Martirossian
Gurnemanz – Kwangchul Youn
Parsifal – Andreas Schager
Klingsor – Vladimir Baykov
Kundry – Claudia Mahnke
1. Gralsritter – Jürgen Sacher
2. Gralsritter – Denis Velev
Knappen – Alexandra Steiner, Ruzana Grigorian, Sergei Ababkin, Sascha Emanuel Kramer
Blumenmädchen (1. Gruppe) – Athanasia Zöhrer, Hellen Kwon, Dorottya Láng
Blumenmädchen (2. Gruppe) – Alexandra Steiner, Gabriele Rossmanith, Nedezhda Karyazina
Stimme aus der Höhe – Katja Pieweck

30. September 2017

Hollywood in Hamburg: Danny Elfman.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 12 B, Reihe 13, Platz 3



Werke von Danny Elfman:

Serenada Schizophrana, "I forget"
Konzert für Violine und Orchester "Eleven Eleven"
(Sandy Cameron – Violine)

(Pause)

Batman, Suite
Alice in Wonderland, Suite
Edward Scissorhands, Suite

Zugaben:
The Simpsons, Theme
The Nightmare before Christmas, "What's This?"
(Danny Elfman – Gesang)


Czech National Symphony Orchestra
The CNSO Mixed Choir
John Mauceri – Dirigent und Moderation
Sandy Cameron – Violine
Fabian Winkelmaier – Knabensopran
Danny Elfman – Special Appearance



"Das klingt ja wie Filmmusik." – Dieser (dumme) Spruch, den Klassik-Traditionalisten gern verwenden, um Werke abzuqualifizieren, deren Faktur ihnen zu eingängig oder anderweitig suspekt erscheint, hätte heute zur Abwechslung mal richtig Sinn ergeben. Nicht als Verdikt gegen diese Kunstform, sondern im Gegenteil als Ausdruck der Überraschung, was dabei herauskommen kann, wenn ein Filmkomponist sein angestammtes Terrain verlässt, um sich in anderen Formen auszutoben, ohne dabei jedoch seine ureigene Klangsprache aufzugeben.

In einem Violinkonzert zum Beispiel. Wobei es sich bei Elfmans erstem Werk dieser Gattung, wie der als überaus charmanter Moderator durch das Programm führende Dirigent John Mauceri bereits feststellte, mehr um eine Sinfonie handelt. Ganz klassisch mit vier Sätzen – einem ausladenden Kopfsatz, der eher rhapsodischen Charakters zu sein scheint, einem Scherzo, einem Adagio und schließlich einem Allegro-Finale. Nur eben, dass der virtuose Violinpart ein ebenbürtiges Gegengewicht zum spät-spät-romantischen Treiben des Orchesters in Strauss- oder Schostakowitsch-Stärke darstellt.

Schostakowitsch ist schon gleich ein gutes Stichwort, denn der Abend brachte einige spannende Erkenntnisse über Elfman und seine kompositorischen Wurzeln, die mir ungeachtet der Tatsache, dass mir viele seiner Scores vertraut sind, bislang nie in den Sinn gekommen waren. Um das gleich klarzustellen: Elfman ist sicher kein Schostakowitsch-Epigone. Das oft bemühte Vorurteil gegenüber Filmkomponisten, die sich dreist und 1:1 aus der hehren Klassik bedienten, langweilt mich zutiefst und verhöhnt die zum Teil großartigen Werke, die für den Film entstanden sind und weiter entstehen. So wie weder ein Beethoven, Wagner oder eben Schostakowitsch musikalisch gesehen vom Himmel gefallen sind und ihr Schaffen auf zuvor Geschaffenem basiert, sollte man auch Filmkomponisten diese Verlinkung zur Musiktradition zugestehen.

Elfman ist vor allem bekannt für seinen "schrägen" Stil, der immer wieder eine Atmosphäre des Verwunschenen, Dämonischen oder Zauberhaften evoziert. Der Einsatz von "sakral" anmutenden, meist wortlosen Chören ist beispielsweise ein prägnantes, wiederkehrendes Mittel dafür. Die Einbindung des Knabensoprans ist eine weitere Spielart, das Überirdisch-Entrückte zu betonen. Der heute erlebte Elfman im symphonischen Gewand ließ jedoch über die bekannten Kniffe hinaus durch die größere formale Nähe zur Klassik interessante Bezugspunkte zu Tage treten. Schostakowitsch, aber auch Prokofjew, als wichtige Vorbilder für Elfman, sind vor allem in jener Form der "Skurrilität" spürbar, für die der Filmkomponist so geliebt wird. Der Furor des Violinkonzert-Scherzo beispielsweise wartet mit derlei Reminiszenzen auf, das Überbordende, nahezu Gewaltsame. Die andere Form der Präsentation öffnete nun die Ohren auch für ähnliche Passagen in eigentlich wohlbekannten Elfman-Stücken – von der verzerrten Drehorgelmusik aus "Batman" ist es nicht weit zu so mancher Stelle bei den russischen Groß-Sinfonikern.

Wie gesagt, es geht dabei weniger um das persönliche Idiom, sondern um bestimmte stilistische Mittel, die bei Elfman jedoch in ganz anderem Zusammenhang wirken. Oder schauen wir uns die Instrumentation an. Die große Palette an Schlagwerk, bei der Xylophon, Vibraphon oder Glockenspiel gern solistisch verwendet werden, ist eine weitere Parallele. Oder der innige, klagende Ton der breiten Streicherflächen des Adagio, auch hier mag Schostakowitsch Pate gestanden haben. Das wichtigste bei all dieser, mir zugegebenermaßen viel Freude bereitenden, Erbsenzählerei ist jedoch, dass Elfman in der Summe der Teile der originäre Künstler bleibt, dessen Nische in Hollywood wirklich seines Gleichen sucht. Diesen Herrn heute einmal live erleben zu dürfen, stellt ebenfalls etwas ganz Besonderes für mich da.

Ich hatte das Glück, in direkter Sichtachse auf den Komponisten Platz genommen zu haben. Das Schauspiel, wie intensiv Elfman gerade mit seinen Nicht-Filmmusik-Arbeiten mitging, ließ mich ebenso schmunzeln wie die Leidenschaft des Musikers bewundern. Da wurde mit gefalteten Händen der Takt mitgeknetet, mit winzigen Gesten dirigiert, mit dem Kopf gewipppt, als könne er es kaum aushalten, hier andächtig seinen eigenen Schöpfungen zu lauschen, ja ließ sich gar dazu hinreißen, eine kurze Passage mit dem Handy mitzufilmen – tse, tse, tse. Während Edward Scissorhands eilte Elfman zweimal an das Mischpult hinter ihm, um die Techniker auf etwas aufmerksam zu machen, dass aus seiner Sicht offenbar umgehend der Anpassung bedurfte. Ich glaube, es ging um die verstärkten Synthieklänge, die im Zusammenspiel mit der in diese Suite nachträglich eingefügten Soloviolin-Passage wohl etwas dominant rüberkamen.

Wo wir bei der Solovioline sind, bzw. der wahrlich zauberhaften Erscheinung, die jene auf so beeindruckende Art führte – ich kann schon verstehen, warum Elfman sein Violinkonzert für Sandy Cameron geschrieben und es ihr gewidmet hat. Der Name sagte mir rein gar nichts, im üblichen Klassikbetrieb ist mir die Dame noch nicht begegnet. Ungeachtet ihres auch optisch durchaus virtuos angelegten Auftritts zwischen Elfe in Samt und tasmanischem Teufel in Lack und Leder, sind ihre technischen Fähigkeiten über jeden Zweifel erhaben. Ein gutes Maß Hollywood-Show sicher, aber gleichsam atemberaubende Brillanz, wie sie mitreißender nicht sein könnte, gepaart mit Einfühlungsvermögen und der Gabe zu beseelter Lyrik. Wie auch die Musik, die Cameron darbot, eine regelrechte Explosion der Kontraste.

Nach den drei Filmmusiksuiten nach der Pause, von denen insbesondere "Batman" das gesamte Instrumentationsgeschick des Komponisten ausrollte, gab es noch zwei kleine Zugaben: Erst einmal das wohl bekannteste Thema aus der Feder Elfmans, die Titelmelodie zu den "Simpsons" in einer erweiterten Fassung mit pointiert-witzigem Intro. Zu guter Letzt trat "Danny", wie ihn John Mauceri liebevoll nennt, selbst auf die Bühne der Elbphilharmonie – zeigte sich begeistert ob des Baus, dankbar für die Einladung und verabschiedete ein tosendes Publikum mit dem Song "What's This?" aus "The Nightmare before Christmas", bei dem er der Figur des Jack Skellington seine Stimme leiht.

Fazit: Elfman in Hamburg – weit mehr als das erwartete Score-Potpourri, ein faszinierender Abend.

27. September 2017

Ensemble Resonanz – Tabea Zimmermann.
Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal.

19:30 Uhr, Reihe 18, Platz 17



Henry Purcell – Fantasia à 4 Nr. 10
Henry Purcell / Benjamin Britten – aus The Fairy Queen:
Sweeter than Roses / Hark the ech’ing air
Henry Purcell – Fantasia à 4 Nr. 11
Henry Purcell – O let me weep
Benjamin Britten – Lachrymae. Reflections on a song of Downland

(Pause)

Thomas Larcher – Still (für Viola und Kammerorchester)
Benjamin Britten – Les Illuminations op. 18

(Tabea Zimmermann – Viola und Leitung, Robin Johannsen – Sopran, Ensemble Resonanz)



Zur Einstimmung in die neue Saison wurde eine kleine Begrüßungsrede gehalten. Interessante Info dabei: man hat die Saalakustik überarbeitet – die abgeschrägten Paneele an der Seitenwand ziehen sich jetzt bis ganz nach hinten durch. Auf diese Weise sei der Klang noch einmal verbessert worden. Um meinen persönlichen Eindruck vorwegzunehmen: ich glaube nicht, dass mir ein Unterschied aufgefallen wäre, wenn man mich nicht darauf hingewiesen hätte. Dafür hätte ich im kleinen Saal mehr Konzerten mit vergleichbarer Besetzung beiwohnen müssen.

Aber Modifikation hin oder her, es klingt weiterhin vorzüglich hier, soviel ist sicher. Ich hatte mich diesmal absichtlich einige Reihen weiter hinten positioniert (zuvor saß ich zweimal in Reihe 9), und auch von der Saalmitte aus sorgt die Akustik für ein sehr präsentes Erlebnis. Selbst bei der Mini-Besetzung der Purcell-Fantasien, technisch gesehen ein Streichquartett, füllen die vier Musiker den Raum mit Wohlklang. Die Laute kommt ebenfalls gut rüber, wenngleich ihr Einsatz eher zurückhaltend, unterstützend angelegt ist. Klavier und Stimme scheinen sich etwas dezenter zu übertragen als die Streicher, der Flügel klang vielleicht eine Spur trocken, aber das ist wirklich die Suche nach dem Haar in der Suppe. Die verschiedenen Preiskategorien bestehen schließlich nicht ohne Grund. Ich denke, irgendwo um die zehnte Reihe herum befindet sich mein potenzieller Lieblingsplatz.

Purcell kann ich mir gut anhören, ob instrumental oder mit Gesang. Frau Johannsen mit wunderbar lyrischem, aber etwas kühlem, nicht unbedingt sinnlichem Sopran. Als sich dann mitten im „O let me weep“ scheinbar Schnarchgeräusche laut vernehmbar in den Vortrag mischten, führte dies zuerst zu Irritation, dann aber schnell zu einem spontanen Rettungseinsatz durch einige Konzertbesucher, als klar wurde, dass hier jemand gerade einen Kreislaufkollaps oder ähnliches erleidet. Während die Musiker auf der Bühne den Trauergesang weiterführten, wurde der Herr aus dem Saal getragen – eine bizarre Aktualisierung des programmgebenden Vanitas-Gedankens.

Brittens Lachrymae ist der Wahnsinn – heute dargeboten in einer Wahnsinnsinterpretation. Tabea Zimmermann: ein Ereignis. Samtigst bis knorrig, zartest bis ruppig – Kontraste pur. Das überschaubare Streicherensemble insgesamt entwickelt teilweise ein Mordsvolumen, die zwei Bässe wummsen richtig. Und was für ein Stück. Britten liegen einfach Variationsgeschichten, ob einzelner Satz wie die Grimes-Passacaglia oder ganzes Konzert wie jenes für die linke Hand oder eben das heute dargebotene Werk. Welches ich gar nicht als Bratschenkonzert abgespeichert hatte, wahrscheinlich, weil ich es in einer Transkription für Viola und Harfe kennengelernt habe. Doch unabhängig der Gewandung – dieser Ideenreichtum, dieses Kaleidoskop der Möglichkeiten, das schließlich in den reinen, warmen Lichtstrahl des Urthemas mündet. Leider sind die Hörer hier nicht ganz so konzentriert wie beim Purcell. Unter Umständen Nachwirkungen des Zwischenfalls. Zu allem Übel dazu noch ein Handy-Dummbatz, der in das Verklingen des Stückes hineindeppt. Erst mal Pause zum Verdauen.

Thomas Larcher ist super! Nach dem Konzertstück mit dem SOdBR (Link) nun der nächste Knaller. Den Mann sollte man definitiv auf dem Zettel haben. Wer Britten und Schostakowitsch liebt, muss das einfach mögen. Der Herzschlag, das Ticken einer Uhr, ein Puls, die Zeit, Fließen, sich Aufstauen, Stillstand. Zimmermann und das Ensemble göttlich in ihrer Vehemenz und Sensibilität. Larcher: (Auch) tonal aber nicht banal – Mehr davon!

Les Illuminations hatte ich bislang immer nur mit Tenören gehört, ob live oder aus der Konserve. Meine heutige Premiere mit einem Sopran als stimmlicher Lotse durch Rimbauds Welt vertiefte einmal mehr meine Liebe zu diesem Komponisten. Und unabhängig davon, dass der Liedzyklus trotz aller Pears-Prägung auch in dieser Gestalt nichts von seiner magischen Wirkung einbüßt, musste ich parallel mein gespaltenes Urteil über Frau Johannsen revidieren, die sich mit illustrativ-überbordendem Verve als wahre Sängerdarstellerin erwies. Kontraste zogen sich als eine Art roter Faden durch den Abend, Kontraste auch hier. Von den nervösen, grell-grotesken Zügen gezackter Figuren und harmonischen Hakenschlagens zu den breit strömenden, somnambulen Wellen, wie sie das Werk beschließen, hat Britten jene besondere Parade, die der Dichter evoziert, kongenial mit Tönen begleitet. Wie schön, dass der kostbare Schlüssel dazu, den Rimbaud erwähnt, von solch ausgezeichneten Vermittlern wie dem Ensemble Resonanz und seinen Gästen in unsere schaulustigen Hände übertragen wurde.

26. September 2017

Tongyeong Festival Orchestra – Heinz Holliger.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Ebene 15 N, Reihe 4, Platz 7



Maurice Ravel – Le tombeau de Couperin
Isang Yun – Violinkonzert Nr. 3 (Clara-Jumi Kang)
Zugabe: Bach?

(Pause)

Isang Yun – Harmonia / für Bläser, Harfe und Schlagwerk
Maurice Ravel – Ma mère l’oye / Ballettmusik



Zu viele grobe Menschen besuchen ein Konzert mit sehr feiner Musik, das Störgeräuschgewitter hat sich heute wieder mal besonders heftig entladen. Ich hoffe weiterhin, dass die Zeit und ein Ende des Hypes Besserung mit sich bringen werden. Interessant auch, wie viele leere Plätze den großen Saal zieren. Ich persönlich habe da weniger eine Grippewelle im Verdacht, als diverse Ticket-Spekulanten, die ihre Beute nicht losgeworden sind.

Nun aber zum Wesentlichen, einem rundum gelungenen Musikabend. Schon in der Einführung lernen wir Heinz Holliger als sympathischen Herrn kennen, der, insbesondere zu Isang Yun befragt, die bewegte Biografie sowie das Schaffen des Komponisten und politisch Verfolgten als Zeitzeuge intensiv beleuchtet. Neben den erschütternden Schilderungen der Repressalien, mit denen Yun von seinen eigenen Landsleuten aufgrund seines Einsatzes für ein geeintes Korea bedacht wurde, bis hin zur zwischenzeitlich drohenden Todesstrafe, zeichnet besonders der Hinweis auf das Streben nach musikalisch-kultureller Verschmelzung europäischer und asiatischer Traditionen ein lebendiges Bild des Künstlers.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich in Yuns Musik nach dem ersten Eindruck wenig Fremdartiges, Fernöstliches entdeckt habe. Für meine weder in Donaueschingen, noch in Seoul geschulten Ohren klingt das einfach wie avantgardistische Nachkriegsklassik halt klingen kann. Holliger sprach von tonal wirkenden Strukturen, die mit „unserem“ Dur-Moll-System allerdings nichts zu tun hätten – das wird so sein, aber im Ergebnis löst diese Musik sicher keinen Kulturschock aus. Was nicht heißt, dass ich diesen herbeigesehnt hätte, aber nach den Ausführungen im Interview war ich auf härteren Tobak eingestimmt. Viel ist davon nach der ersten Begegnung jedoch ohnehin nicht hängengeblieben, wenn ich ehrlich bin.

Holliger als Dirigent gefällt mir ziemlich gut. Eine durchweg straffe Lesart des Ravel, federnd, aber ohne Krassheiten. Die überschaubare Besetzung des Tongyeong Festival Orchestra – man hätte dem Namen auch ein „Chamber“ hinzufügen können – trug dazu bei, dass Transparenz und zumeist leise Töne ein exquisites akustisches Erlebnis für besonders spitze Ohren bereiteten (allein diese gestopften, gedämpften Hörner!), ja, wenn sich nur Gehuste und Geschwätz nicht ähnlich eindringlich in die Stille eingebracht hätten wie Solo-Oboe oder Englischhorn. Beeindruckend in jedem Fall, zu welcher Klangeruption selbst diese relativ kleine Schar Musiker den Schluß von Ma mère l’oye führen können.

Der Platz ist akustisch wie sichttechnisch mehr als brauchbar, wenngleich eben wirklich neben der Bühne verortet– kann man zur Not machen, ich für meinen Geschmack möchte nach Möglichkeit immer im Rücken des Dirigenten sitzen. Spaßeshalber werde ich sicher auch mal die Plätze hinter dem Orchester ausprobieren, klanglich erhoffe ich mir davon jedoch wenig. Interessant bzw. bemerkenswert ist der Umstand, dass es schon ausreicht, sich gen Geländer vorzubeugen, um deutlich an Klarheit zu gewinnen. Diesen Effekt konnte ich bis jetzt auf jedem Platz ab Ebene 15 himmelwärts ausmachen.

Fazit: Das nächste Mal die Störquellen durch Sandsäcke ersetzen und gut ist.

25. September 2017

Philharmonia Orchestra – Esa-Pekka Salonen.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Einführung, 20:00 Uhr, Ebene 12 D, Reihe 3, Platz 4



Kaija Saariaho – Lumière et pesanteur
Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 6 d-Moll op. 104

(Pause)

Sergej Prokofjew – Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19 (Pekka Kuusisto – Violine)
Zugabe: Glastanz?
Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 105
Zugabe: Jean Sibelius – Valse triste op. 44



Dass sich der Besuch des hochgeschätzten Philharmonia Orchestra aus London als weiteres Weltklasse-Konzert in meinen noch jungen Abo-Annalen an diesem Ort verewigen würde, hatte ich insgeheim gehofft. Dass ich heute allerdings in gewisser Weise eine akustische Neubewertung meines Platzes erfahren würde, hätte ich sicher nicht erwartet. Ohne Zweifel bleibt 13 E das Maß der Dinge, aber von all dem, was ich teilweise bei den vorangegangenen Visiten auf 12 D an scheinbar zu akzeptierenden Nachteilen des geringeren Abstands zur Bühne ausgemacht hatte, war heute rein gar nichts zu spüren. Keine Spur von Unausgewogenheit oder gar Schärfe, geriet die Veranstaltung zur Demonstration von Präsenz bei gleichzeitiger Homogenität im Klang. Und ich glaube kaum, dass es auf anderen Plätzen schlechter geklungen haben wird. Keine Patzer, ja nicht einmal unschöne Ansätze, welche die ach so „unerbittliche“ Saalakustik unters Brennglas gezerrt hätte. Stattdessen eine Form technischer und vor allem klanglicher Perfektion, deren Aura der Selbstverständlichkeit sprachlos macht.

Was für ein Streicherklang – mir war nicht bewusst, dass sich Samt so fein weben lässt. Und auf der anderen Seite diese Strahlkraft, welche die Violinen zur Entfaltung bringen. Keine Orchestergruppe, die sich nicht dem Grundsatz der Makellosigkeit verschrieben hätte. Gepaart mit dem Willen und der Fähigkeit Salonens, Klang wirklich zu formen, zu gestalten, wird Sibelius zur Offenbarung. Die Kunst des Übergangs. Nicht die des unmerklichen, suggestiven wie bei Wagner, sondern die offen bestaunbare Transformation klanglicher Aggregatszustände im Fluß motivischer Arbeit. Und hier und heute wurde mit einer Perfektion, Eleganz, Konsequenz und Intensität transformiert, wie es das gleichzeitig herbe und herzenswarme Gewebe Sibelius´ nur verdient hat. Salonen kombiniert eine extrem organische, stetig fließende Geschlossenheit mit einem Höchstmaß an Fokus und Konzentration. Straffe Tempi in den schnelleren Passagen, schneidig vorgetragen, betonen die Kontraste zum breiten Atem sich erhaben ausschwingender Steigerungen. Allein das Finale der Siebten dürfte in seiner hymnischen Sogwirkung kaum zu überbieten sein. Ich liebe diese Musik und bin sehr dankbar, sie heute wieder einmal fern der Komfortzone heimatlicher Referenzaufnahmenhuldigung live in Vollendung genossen zu haben.

Gehören Sibelius Sinfonien zu meinem Leib- und Magen-Repertoire wie Mahler oder Britten, stellt das Violinkonzert von Prokofjew für mich eine Erstbegegnung dar, zumindest bewusst, so dass es mir hier nicht möglich war, Vergleiche mit anderen Interpreten und Interpretationen anzustellen. Ungeachtet dessen ist Prokofjew bei mir untrüglich positiv abgespeichert. Romeo und Julia, Alexander Newski oder beispielsweise die 5. Sinfonie – alles ausgesprochene Lieblingswerke. Das Violinkonzert mag aus einer früheren Schaffensphase stammen, Prokofjews melodiöser und harmonischer Reichtum blitzt jedoch bereits in diesem auf den ersten Blick ziemlich nervös-expressiven, schroffen Werk immer wieder auf. Zuerst wusste ich nicht so recht, was ich vom Solisten des Abends halten sollte, schien mir Kuusistos Spiel zwar wunderbar energiegeladen, im positiven Sinne übermütig, aber in der Intonation hier und da seltsam unsauber, ja fast schlampig. Zweifel an den Fähigkeiten des Finnen räumte dieser allerdings spätestens mit der unbeschreiblich zart, kristallklar und innig vorgetragenen, volksliedartigen Zugabe ("Glastanz"?) aus, bei der er, den Rhythmus stampfend, von zuvor zum Summen animierten Orchestermitgliedern begleitet wurde.

Salonens Zugabe wiederum, der Valse triste von Sibelius, lotete noch einmal die akustischen Möglichkeiten des Saales bis an die Grenzen des Vernehmbaren aus. "Es klingt so schön, hier leise zu spielen", schwärmte der Dirigent bei der Anmoderation – erst recht, wenn man solche Streicher im Gepäck hat. Halt, fast hätte ich den Beginn des Konzerts unterschlagen: Das Stück Lumière et pesanteur der ebenfalls finnischen Komponistin Kaija Saariaho, eine kurze, intrumentale Kostprobe aus ihrem Oratorium "La Passion de Simone" über die Philosophin und Aktivistin Simone Weil. Für mich der perfekte Einstieg in einen Abend faszinierender Klang-Gestaltung, darüber hinaus eine Musik, die in ihrer Schaffung von Atmosphäre und Stimmungen unmittelbar vertraut wirkt.

Fazit: Die Kombination Philharmonia/Salonen erweist sich erneut als Traumkonstellation, die keine Wünsche offen lässt. Mehr geht nicht.