11. Januar 2017

Eröffnungskonzert
NDR Elbphilharmonie Orchester –
Thomas Hengelbrock.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Oberdeck Salonschiff auf der Elbe / links auf dem heimischen Sofa



Benjamin Britten – Nr. 1 "Pan" aus: Sechs Metamorphosen nach Ovid op. 49 
(Kalev Kuljus – Oboe)

Henri Dutilleux – Mystère de l'instant (I. Appels – II. Échos – III. Prismes)

Emilio de‘ Cavalieri / Antonio Archilei – "Dalle più alte sfere" aus "La Pellegrina" (Philippe Jaroussky – Countertenor, Margret Köll – Barockharfe)

Bernd Alois Zimmermann – Photoptosis, Prélude für großes Orchester (Iveta Apkalna – Orgel)

Jacob Praetorius – Motette "Quam pulchra es" (Ensemble Praetorius)

Rolf Liebermann – Furioso für Orchester (Ya-ou Xie – Klavier)

Giulio Caccini – "Amarilli mia bella" aus "Le nuove musiche" (Philippe Jaroussky – Countertenor, Margret Köll – Barockharfe)

Olivier Messiaen – Turangalîla-Sinfonie, 10. Satz (Finale) (Ya-ou Xie – Klavier, Thomas Bloch – Ondes Martenot)

(Pause)

Richard Wagner – Vorspiel zu "Parsifal"

Wolfgang Rihm – Reminiszenz, Triptychon und Spruch in memoriam Hans Henny Jahnn (Uraufführung) (Pavol Breslik – Tenor, Iveta Apkalna – Orgel)

Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125, 4. Satz, Presto – Schlusschor über Schillers Ode "An die Freude" (Hanna-Elisabeth Müller – Sopran, Wiebke Lehmkuhl – Alt, Pavol Breslik – Tenor, Bryn Terfel –Bassbariton)



Da in Bezug auf das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie die alte Feststellung geradezu schraubstockartig zu greifen scheint, daß zwar bereits alles gesagt ist, nur eben nicht von jedem, möchte ich heute selbst in diesen Chor einstimmen und bei der Gelegenheit gleich mal mit einer Tradition brechen – nämlich über ein Konzert schwadronieren, das ich selbst gar nicht besucht habe. Sofern ein in Regen und Wind ertrotzter Stehplatz an Deck eines radiolosen Seelenverkäufers nicht doch in Teilen als Besuch zählt. Aber wer braucht schon Ahnung, wenn er eine Meinung hat – ein Wesenszug, der mich mit Myriaden von Facebook- und Sofakommentatoren verbindet. Und wofür gibt es schließlich den Mitschnitt. Also frisch ans Werk.

Meine Lieblingsfloskel als "kritische" Reaktion auf das Eröffnungskonzert ist, noch weit vor "Bonzenveranstaltung!" und "Wie viele Kitas mit musikalischer Früherziehung für obdachlose Tierbabys hätte man mit all dem Geld finanzieren können!" ganz klar "Die Stückauswahl war eine vertane Chance, den Menschen klassische Musik näherzubringen." – beziehungsweise die gebräuchlicheren Derivate "Katzenmusik!" oder "Scheiß Mucke!!1!". Eine Vielzahl der von Herrn Hengelbrock ausgewählten Stücke scheint demnach nicht ganz den Geschmack aller getroffen zu haben. Das Programm liest sich in der Tat auch für halbwegs erfahrene Konzertgänger wie mich überraschend unvertraut. Womit ich dezidiert den ersten Teil des eigentlichen Konzertes meine, nicht die mit den üblichen Verdächtigen Beethoven, Mendelssohn und Brahms bestückte musikalische Rahmung der Reden des vorangegangenen Festaktes.

Obwohl ich mir über den wichtigsten Aspekt einer jeden Aufführung, die akustische Wirkung im Raum, wie bereits bedauert, leider kein Urteil erlauben kann, muss ich doch meiner Begeisterung über die Konzeption des Konzertprogramms Ausdruck verleihen, die mit jedem Stück wuchs. Den Auftakt macht mein geliebter Britten, allerdings mit einem Stück, das bislang ein ungehörtes Dasein in meinem Plattenschrank fristete. Kalev Kuljus intoniert "Pan" aus den sechs Metamorphosen nach Ovid von einer höher gelegenen Etage ins Dunkel des gedimmten Saales. Am Anfang war die Melodie, stellvertretend vorgetragen von der Oboe – dem intonationsgebenden Instrument eines jeden Konzerts, das auch hier den Beginn markiert. Der folgende Dutilleux ist eine Ohrenweide für alle Freunde kristalliner Streicherklänge, ein schwebender Hauch, zeitweise getragen vom satten Fundament der Bässe, kontrastiert durch Pizzicato-Tropfen und die das feine Gewebe durchschneidenden Schläge der Zymbal.

Einschub: Mein Kompliment an die Regie – die währenddessen gezeigten Nahaufnahmen der Wandstrukturen, mit minimaler Schärfentiefe gefilmt, zeugen wie viele weitere an diesem Abend noch folgende Einstellungen von der äußerst geglückten Unternehmung, die Architektur der Spielstätte ästhetisch höchst virtuos in den audiovisuellen Fluss der Übertragung einzubinden. Vielleicht sogar mehr noch als der eigentliche programmatische Blickfang der mit Licht und Projektionen in Szene gesetzten Fassade.

Zurück zu Dutilleux. Klar, der Name ist mir oft begegnet, aber wer konnte ahnen, welch großartige, atmosphärische Musik das ist. Klarer Punkt für Hengelbrock. Über die interpretatorische Qualität lässt sich mangels Vergleichsmöglichkeiten wenig sagen, jedoch wüßte ich nicht, wie man dieses fragile Material besser vermitteln könnte.

Einen besseren Vermittler für die Kunst der Countertenöre als Philippe Jaroussky wird man jedenfalls schwerlich finden. Technische Brillanz und Flexibilität, gepaart mit feinst nuancierter Phrasierungskultur lassen diese überirdische Stimme zum Ereignis werden. Nein? Man ist irritiert? Warum singt der Mann da wie eine Frau und kommt das womöglich häufiger vor? Bei Gedanken wie diesen einfach getrost weiterspulen oder die Begriffe "Countertenor" und "Altus" googeln. Weiter im Text. Allein von der Harfe begleitet liefert Jaroussky eine Definition von Stimmbeherrschung und transportiert die uns auf den ersten Blick unendlich weit entfernten Stücke der Renaissance bzw. des Frühbarock beseelt ins Hier und Jetzt. Ruft man sich zudem das Faible des NDR-Chefs für sogenannte alte Musik ins Gedächtnis, sind diese Programmpunkte ebenso wie die später vom Ensemble Praetorius dargebotene Motette ihres Namensgebers weit weniger überraschend.

Bernd Alois Zimmermann ist vielleicht der dickste Brocken für all diejenigen, für die Klassik irgendwo zwischen der kleinen Nachtmusik und der letzten Biegung der Moldau abgesteckt ist. Eine große Albtraummusik, mag der ein oder andere bei dem Stück denken, in dem sich zum ersten Mal an diesem Abend auch das Blech Gehör verschafft und das mit Macht. Aber auch hier zeigt sich – unabhängig vom Stilmittel der stetigen Steigerung der eingesetzten Mittel, gegenübergestellt jeweils mit kammermusikalischen Werken von der Empore – die Stringenz in der Stückwahl durch Hengelbrock. Dem geneigten Klassikfreund werden die splitterhaft auftretenden Zitatfetzen nicht entgangen sein: Die Trompeten skandieren den Moment der Klimax aus Beethovens Neunter, kurz bevor der Bass mäßigend seine Stimme erhebt – der Weg zum Finale des heutigen Abends ist hier bereits vorgezeichnet. Und wir lauschen weiter: Wagners Parsifal huscht als Schatten an uns vorbei – im Anschluss an die Pause wird das komplette Vorspiel zu erleben sein. Weitere Bruchstücke sind zu hören, unter anderem Skrjabin und Tschaikowsky, eine weitere Stelle aus der Neunten, genauer dem Scherzo, eine zerrüttete Collage durch Zeiten und Stile, gefasst von bedrückenden Klängen der Moderne. Orchester und Orgel rauschen auf in einem Taumel physischer Gewalt.

Und wieder: dieser Kontrast, den die anschließende kontemplative Polyphonie der Motette schafft, ist mehr als nur Effekthascherei. Quam pulchra es – Wie schön! Es folgt meine persönliche Entdeckung des Abends. Rolf Liebermann war mir zwar als langjähriger Hamburger Intendant und Namenspatron des oft besuchten Saales in der Oberstraße geläufig, aber mir war nicht bewusst, was mir da musikalisch durch die Lappen gegangen ist. Das dreiteilige Stück beginnt und endet, wie es der Titel erahnen lässt, mit einem drängenden Sturmlauf des Orchesters. Eilende Streicher, fast schon jazzige Harmonien erinnern ein wenig an Bernstein. Und dann erst dieser wunderschöne Mittelteil, der ruhige Beginn mit den solistisch eingesetzten Holzbläsern gemahnt an Hindemith (Mathis der Maler), sich in stetigem Crescendo unter Mitwirkung schmachtender Streicher und ehernem Blech hymnisch steigernd – ein bislang unbekannter Triumph der Tonalität aus dem Jahre 1947. Und in den Ecken ist ordentlich Dampf drin, Hengelbrock treibt sein Orchester zu knackiger Virtuosität; das bei mir latent unter NDR abgespeicherte Menetekel der Beamtentruppe zerstob unter präzisen Läufen und forschem Charakter.

Nach dem zweiten Auftritt Jarousskys fungiert das Finale der Turangalîla-Sinfonie als Rausschmeißer zur Pause. Das Werk Messiaens ist als Ganzes ein etwas häufigerer Gast in den Programmen, trotzdem beweist Hengelbrock auch mit diesem vorläufigen Schlussstein seiner Reise durch die Jahrhunderte einen Geschmack für das Extravagante. Gut so! Unter vollem Einsatz des Orchesters, bekrönt von Piano, Schlagwerk und den elektronischen Jauchzern des Ondes Martenot findet die erste Konzerthälfte nach einem majestätischen Choral mit einem beeindruckenden Tutti-Crescendo, das in den neuen Saal verhallt, seinen würdigen Abschluß.

Nach der Pause das Parsifal-Vorspiel, dessen Auftreten sowohl Kraft der irisierenden Klangwirkungen, die es bereithält, als auch Aufgrund seiner Motto-gebenden Funktion für das ganze Konzert begründet ist, welches Hengelbrock mit dem Gurnemanz-Zitat "Zum Raum wird hier die Zeit" belegt hat. Wenn man denn unbedingt etwas herummäkeln möchte, dann hier, bzw. rein an der technischen Ausführung . Ja, die Posaunen setzen nicht wirklich unisono ein, ja, die Trompete produziert einen unschönen Wackler an exponierter Stelle, etc., aber hier sollte man auch mal den Gral in der Burg lassen – Unsauberkeiten wie diese sind erstens keine Seltenheit und kommen zweitens auch bei den besten Orchestern vor. Süß der Verweis aus der Süddeutschen, daß die beste Akustik aus einem Durchschnittsensemble nicht die Wiener Philharmoniker macht. Unabhängig davon, ob beispielsweise deren naturhornbedingte Kiekseranfälligkeit gerade hier für den Vergleich taugt, liegt natürlich darin die Crux, dass mit dem NDR zumindest nominell kein sogenanntes Orchester von Weltgeltung das Heimrecht in der Elbphilharmonie genießt. Alles was ich jedoch per Kopfhörer daheim vernommen habe, konnte sich klanglich und, von den angesprochenen, zugegebenermaßen unschönen Patzern abgesehen, ebenfalls technisch durchaus hören lassen. Ich denke, auch für das NDR Elbphilharmonie Orchester beginnt mit ihrer neuen Spielstätte eine Reise, deren Entwicklung man erst in ein paar Jahren wird absehen können. Klar, mit der Umbenennung allein ist noch nichts gewonnen. Kurz zur Lesart durch Hengelbrock: Durchaus behutsam, transparent gestaltet, in der Ausformulierung manches Melodiebogens mir persönlich etwas zu hastig, kurzatmig, insgesamt aber definitiv nicht einfach nur langsam hingenudelt, wie es der Tod für dieses Wunderwerk der Opernliteratur wäre. Kann man definitiv so machen.

Der nahtlose Übergang zum Rihm wirkt verblüffend homogen. Das Auftragswerk bringt uns einen weiteren Hamburger Künstler nah, von dem zumindest ich auch nur den nach ihm benannten Weg in Uhlenhorst kenne: Hans Henny Jahnn. Die vier Stücke taugen nicht unbedingt als Stimmungsheber zum Mitschunkeln, spiegeln offenbar aber die Persönlichkeit Jahnns wider, welche die Vertonung eigener und fremder Verse umreißt. Düster, grüblerisch mäandert die Musik dahin, durchaus melodisch, im Grenzbereich zwischen Tonalität und Atonalität changierend. Mir gefällt´s. Dazu Pavol Bresliks strahlend-feiner Tenor, weniger heldisch als der eigentlich vorgesehene Jonas Kaufmann, aber klar und ausdrucksstark mit guter Textverständlichkeit – soweit man das über Mikrophon beurteilen kann. Währenddessen entwickelt das Werk einen schmerzverzerrten Furor, die Orgel kommt zu ihrem Recht – vielleicht eine Anspielung auf Jahnns Liebe zu diesem Instrument. Mir erscheint es bemerkenswert zur Eröffnung eines neuen Hauses eine solch nachdenkliche Arbeit vorzulegen. Aber warum nicht, gewissermaßen das Pendant zu Brahms: Vier ernste Gesänge über die Vergänglichkeit.

Zumal Hengelbrock es nicht bei diesem toten Punkt beläßt – mit schmetterndem Blech und energischen Bässen sorgt Beethoven für den letzten großen Kontrast des Abends und mahnt: "O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere!" Ich will nicht ausschließen, daß er damit auch all jenen aus dem Herzen spricht, von denen eingangs die Rede war. Nun ja, was den einen abstößt, ist für den anderen eine der stringentesten Programm-Konzeptionen seit langem. Klar, man hätte auch einfach ein bisschen Mozart, Beethoven und Brahms hinter einander wegdudeln lassen können, wie man das sonst so in tausendfach durchgekauter Ödnis kennt – zumindest wenn man von Zeit zu Zeit einen Konzertsaal von innen gesehen hat. Der ganzen Fraktion "Warum nicht was Gefälliges, das auch Laien mitnimmt?" möchte ich nur sagen, daß meiner Ansicht nach generell niemand bei Klassik im vorbeigehen mitgenommen wird. Das ist Mumpitz. Phrasen wie "Das ist so schöne Musik, die begeistert auf Anhieb" gehören meiner Erfahrung nach ins Reich der Märchen und Sagen. Selbst das sogenannte Klassik-Klientel findet in der Regel das prima, was es bereits kennt, und tut sich schwer mit allem "Neuen". Dabei ist es mit der Klassik wie mit so vielem: erst intensive Beschäftigung damit bringt Erlebnisse jenseits der Oberflächlichkeit hervor. Nicht daß das jeder so zu handhaben hat, man kann in der Musik natürlich auch nur eine nette Nebensache sehen, die im rechten Moment die Stimmung hebt oder die Zeit am Bügelbrett verkürzt – warum nicht. Schön aber, daß Herr Hengelbrock seine Funktion als künstlerischer Leiter des Abends tatsächlich mit dieser, zugegebenermaßen anspruchsvollen, Konzeption wahrgenommen und sich, sein Orchester und nicht zuletzt den neuen Saal in einer Art und Weise persönlich vorgestellt hat, wie ich es bei einem Ereignis der Randgruppen-Sparte Klassik, das so im Fokus der Öffentlichkeit stand, nie für möglich gehalten hätte. Meinen tiefsten Respekt.