24. Mai 2017

Liederabend – Jonas Kaufmann.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12 Bereich A, Podiumsplatz
(freie Platzwahl – Reihe 2, Platz 5)



Franz Schubert – Die Bürgschaft D 246

Henri Duparc – Fünf Lieder
L'invitation au voyage
Phidylé
Le manoir de Rosemonde
Chanson triste
La vie antérieure

(Pause)

Franz Liszt – Tre Sonetti di Petrarca S 270/1 / Erste Fassung

Richard Strauss – Sieben Lieder
Heimliche Aufforderung op. 27/3
Wozu noch, Mädchen, soll es frommen op. 19/1
Breit' über mein Haupt dein schwarzes Haar op. 19/2
Ich liebe dich op.37/2
Befreit op. 39/4
Freundliche Vision op. 48/1
Cäcilie op. 27/2

Zugaben:
Richard Strauss:
Ich trage meine Minne op. 32/1
Zueignung op.10/1
Morgen! op. 27/4



So sieht man also von der Bühne aus. Die Aussicht in den Saal ist von hier noch eine Spur imposanter – ich habe auf einem Stuhl der vier zusätzlich auf dem Podium aufgestellten, halbrunden Sitzreihen Platz genommen und beobachte, wie sich die verschachtelt aufsteigenden Ränge bis zur Decke langsam füllen. Ein Liederabend im Rücken des Sängers – ob das so eine gute Idee ist? Das Fazit vorweg: Nicht wirklich. Ich sitze so, dass ich Herrn Deutsch über die linke Schulter schaue, die Sicht auf die Klaviatur ist allerdings durch die Dame verdeckt, die ihm beim Umblättern der Noten behilflich ist. Herr Kaufmann entzieht sich nach der Begrüßung durch die Tatsache, dass ihn der Schalldeckel des Flügels verdeckt, mehr oder weniger komplett meinen Blicken. Sei´s drum, was wirklich zählt, ist schließlich der Klang. Der erste Eindruck daraufhin: oh, schade. Die Charakteristika dieser bekanntermaßen überwältigend schönen Stimme sind zwar zu vernehmen, aber eben rein indirekt. Zudem wird der Gesang doch sehr von der Begleitung dominiert, welche umso präsenter die wenigen Meter zu den Podiumsplätzen überbrückt. Ein Klavierabend mit dezenter Tenorbegleitung, könnte man festhalten. Bezogen auf die Wirkung des Klaviers hat das durchaus etwas – die Eingeweide eines Steinway auf den Seziertisch. Der Kasten klingt bombig, zumal Helmut Deutsch ein begnadeter Pianist mit traumhaft differenzierter Anschlagskultur ist – einen "echten" Klavierabend aus dieser Position kann ich mir durchaus vorstellen.

Aber heute ging es ja eigentlich um eine der betörendsten Stimmen unserer Tage. Die dramatische Szene Schuberts rauschte mehr oder weniger an mir vorbei. Die ganze Charakterarbeit, das Deklamatorische, bis hin zum Flüsterton, versang sich hinter der Steinway-Wand ins Unbestimmte des Saales. Etwas besser verhielt es sich dann mit den Liedern Duparcs, welche eine komplett andere gesangliche Herangehensweise erfordern. Legato, Schmelz, Sinnlichkeit. Darüber hinaus scheint die Begleitung hier etwas zurückgenommen. Allerdings machen die wenigen Momente, in denen Kaufmann sich leicht dem Pianisten zuwendet, schmerzlich deutlich, welch himmelweiter Unterschied zum Eindruck bestehen muss, den die Zuhörer auf der gegenüberliegenden Seite genießen dürfen. Duparcs Lieder haben es mir sofort angetan – gleich das erste transportiert den Hörer in eine ganz eigene, verwunschende Klangwelt. Umso frustrierender, dieser Kombination aus Ohrenspitzer-Programm und vollendeter Darbietung nur als Abglanz teilhaft zu werden. Dabei hatte ich fast vergessen, dass ich genau diese Lieder bereits 2012 in der Laeiszhalle mit Herrn Kaufmann erleben durfte (Link). Seinerzeit stand, beste Hörposition inklusive, ebenfalls Liszt auf dem Programm, allerdings erklangen mir die drei wunderbaren italienischen Sonette tatsächlich heute zum ersten Mal. Der Rest des Abends gehörte dann Strauss – insgesamt zehn Lieder inklusive Zugaben.

Über die alternativlose Qualität des Vortrages braucht es eigentlich keine weiteren Worte. Auch hier: Die Nuancen, die göttliche Phrasierung, das unnachahmliche Timbre, das den ganzen Saal füllende Strahlen – all das ist von meinem Platz leider nur ein matter Schatten. Bei der zweiten Zugabe, passenderweise der "Zueigung", macht Kaufmann singend eine Runde um den Flügel und beschert so auch den "Rückenplätzen" ihren Moment erhoffter Labsal. Ob Herr Lieben-Seutter dem Tenor wohl einen Tipp gegeben hat, als er nach der ersten Zugabe eilig den Weg Richtung Bühnenkatakomben antrat? Andererseits kann es nicht Aufgabe eines Sängers sein, seinen von Konzentration und Symbiose mit dem Begleiter geprägten Auftritt durch stetige Brummkreiseleinlagen derart anzupassen, um alle Zuhörer gleichermaßen zu "bedienen". Das größere Problem als der "statische" Kaufmann war heute meiner Ansicht nach eher die unvorteilhafte Einteilung der Preiskategorien. Der Podiumsplatz ermöglichte einen nicht uninteressanten Einblick, insbesondere durch die enge Tuchfühlung zum Pianisten – aber sollten diese Spezialplätze in der zweiten Kategorie angesiedelt sein? Sicher nicht. Wie gesagt, bei einem reinen Klavierabend mag das zutreffen, für die heute erlebte akustische Güte waren die Karten deutlich zu teuer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man in der letzten Reihe auf Ebene 16, wohlgemerkt vor der Bühne, den Sänger schlechter vernommen hat als hier. Hätte man sich denken können, aber immer noch besser ein Kaufmann, der einem die kalte Schulter zeigt, als gar kein Kaufmann.

20. Mai 2017

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks –
Mariss Jansons. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 13 Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 1 f-Moll op. 10

(Pause)

Thomas Larcher – A Padmore Cycle / Fassung für Tenor und Orchester
(Mark Padmore – Tenor)
Maurice Ravel – La Valse

Zugaben:
Franz Schubert – Moments musicaux, D. 780 (op. 94) Nr. 3
(Fassung für Streichorchester)
Antonín Dvořák – Slawischer Tanz op. 72, Nr. 7 C-Dur


Nach einem Konzert wie diesem fällt es mir schwer, mein breites Grinsen wieder abzustellen. Freude und Genugtuung. Über die Eindrücke, die mir ein Orchester von Weltrang, wie es die bayerischen Gäste wieder bewiesen haben, in diesem Saal und ganz speziell auf diesem traumhaften Platz bescheren kann. Über Klangwirkungen, die ich in ihrer Intimität, Transparenz und Plastizität so noch nie in all den Jahren als Klassik-Groupie erfahren habe. Als wäre mir fast über Nacht ein neues Paar Ohren gewachsen. Und wissen Sie, was das Beste an diesem akustischen Wunderwerk ist? Dass man NICHT auf jedem Platz gleich hört. Anders: Gestern ist mir der eigentliche Hauptvorzug des Saales erst bewußt geworden. Ein Wechsel zur Pause von 13 E Mitte/Mitte zu 13 E links, erste Reihe ergab, dass selbst ein paar Meter Luftlinie einen signifikanten Unterschied ausmachen. Was im ersten Augenblick für Irritation sorgen könnte, beinhaltet jedoch tatsächlich ein Riesenpotenzial: Die Möglichkeit, den optimalen Platz gemäß der individuellen Hörvorlieben wählen zu können, und zwar in denkbar feinsten Abstufungen. Klar, aktuell ist das angesichts anhaltenden Hypes und Komplettauslastung natürlich eine recht theoretische Option, aber allein ihre Existenz elektrisiert mich. Bislang hatte ich die Unterschiede der akustischen Eindrücke auf weit auseinander liegenden Plätzen getestet und dabei noch keinen schlechten gefunden (Nein, direkt hinter oder neben dem Orchester habe ich erst mal ausgelassen, da ich zwar mittlerweile an akustische Wunder, aber immer noch auch an die Physik glaube). "Besser" oder "schlechter" hat da, wie bei allen Sinneserfahrungen, logischerweise ganz viel mit individuellem Geschmack zu tun – das Tolle an der Elbphilharmonie ist, dass sie mir eine enorme Bandbreite liefert, innerhalb derer man Klang auf höchstem Niveau an sein Ohr gelangen lassen kann. Darf´s ein bisschen direkter sein? Kein Problem, ein paar Reihen weiter vorn sieht die Welt schon ganz anders aus. Sie stehen eher auf möglichst homogenen Mischklang, ohne dabei auf Durchhörbarkeit verzichten zu wollen? Ab nach oben! Es mag durchaus Konstellationen geben, bei denen die "billigen Plätze" beispielsweise dem Parkett überlegen sein können. Irgendwann, wenn sich das ganze Elphi-Fieber ein wenig gelegt hat, wird es mir eine wahre Freunde sein, all diese Nuancen bei unterschiedlichsten Besetzungen genau zu erforschen.

Doch erst mal zurück ins Hier und Jetzt, wo das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Mariss Jansons ähnlich eindrucksvoll wie ihre Wiener Kollegen im Januar (Link) aufgezeigt haben, wofür diese Halle erbaut wurde – Weltspitzenklang. Eigentlich hatte ich mich am meisten auf "La Valse" gefreut, aber bereits mit dem Schostakowitsch war es um mich geschehen. Perfekte Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Stimmgruppen. Die Streicher ungemein präsent und von edelstem Timbre. Die Violinen regelrecht schneidend, an den Stellen, wo sie sich entsprechend Gehör zu verschaffen haben – bei Jansons kommt der Eindruck, daß die hohen Streicher ab dem Forte leicht in die Defensive geraten, keine Sekunde auf. Im Gegenteil. Auch spannend: Die zweiten Violinen sind, "trotz" der Amerikanischen Aufstellung, also direkt neben den ersten verortet, sehr schön einzeln und im Dialog herauszuhören. Die tiefen Streicher, vor allem die Bässe, wirken verblüffender Weise etwas weniger sonor, als ich es in diesem Saal gewohnt bin – keine Ahnung, ob das am Material oder der Abstimmung liegt. Das Blech für seinen Teil agiert unter Jansons angenehm zurückhaltend, besser gesagt perfekt in das große Ganze integriert, um dann an den dynamischen Kulminationspunkten mit überwältigender Klangpracht und -Fülle über dem Fortissimo zu thronen. Wohlgemerkt: darüber thronend, es nicht zukleisternd. Auch in den extremsten Eruptionen der Sinfonie ist der Klang gleichzeitig transparent UND präsent – das ist es, was ich an diesem Platz so liebe. Die Streicher, das Holz, selbst einzelne Facetten wie die des Flügels, bleiben erfahrbar und formen im Schlagwerk- und Blechgewitter Kulminationen von geradezu körperlicher Anschaulichkeit. Stellvertretend für die außergewöhnliche Qualität, die jeder einzelne Musiker dieses Klangkörpers zu besitzen scheint, sei auf das Oboensolo eingangs des dritten Satzes hingewiesen. Phrasierung, die ganze innige, sensible Gestaltung des Themas – diese einzelne Passage besitzt wie die gesamte Aufführung der Sinfonie Referenzcharakter. Auch die Sinfonie selbst hatte ich gar nicht derart mitreißend und berührend im Gedächtnis. Es müssen halt nicht immer die Siebte oder Fünfte sein, auch das hatten die Wiener seinerzeit unter Beweis gestellt ­– um eine weitere Parallele dieser beiden Ausnahmekonzerte zu benennen.

Ebenfalls bezeichnend, dass in beiden Fällen die Gunst der Stunde dazu genutzt wurde, programmatisch einen Abend jenseits ausgetretener Klassikpfade zu begehen. Waren es im Februar Webern und Hartmann, die manchem Gelegenheitshörer oder Traditionalisten einiges abverlangten, trug diesmal das Stück Larchers zur Entmusealisierung bei. "A Padmore Cycle" – benannt nach dem Solisten und in dessen Kehle komponiert – entpuppte sich als wahres Klangexperimentierfeld für Stimme und Orchester und dabei gleichzeitig als ein fesselndes Werk zwischen scharfer Expressivität und Passagen überraschend vertrauter und umarmender Tonalität. Teilweise musste ich an eine Art "Britten 2.0" denken, weniger vom Idiom, als vom Konzept des Zyklus her. Wobei der Einsatz der in höchstem Maße Britten-prädestinierten Tenorstimme Padmores wahrscheinlich auch diesen Gedanken angeregt haben mag. Edler, feiner ist ein Tenor kaum denkbar. Subtilste Nuancen, noch dazu in extrem hoher Lage, Fragilität und Seele. Die Stimme als lebendiger Charakter. Und Larcher scheint sein Handwerk zu verstehen, deckt Padmore trotz des Riesenorchesters nie zu, lässt ihn nur bis zu einem gewissen Grad mit in dynamische Steigerungen einsteigen, überlässt das Fortissimo dann dem Instrumentarium. Natürlich auch eine Frage des Dirigates, bei Jansons aber perfekt austariert. Ferner eine Wohltat: die verwendeten "Spezialsounds" von Akkordeon, Äußerungen des Klaviers bei gehaltenen Saiten bis hin zum Ölfass als Perkussionselement durchdringender Härte, treten nie zum Selbstzweck zutage, sondern sind nahtlos in den vielschichtigen Klangkosmos eingebettet. Glücklicherweise wurde das Konzert aufgezeichnet, so dass ich den Schönheiten dieser Arbeit noch wiederholt auf den Grund gehen kann. Eine Stelle ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, die Worte Padmores dazu: "Und beim Weggehen schmilzt aus den Augen der Schnee."

Mit dem letzen Programmpunkt, Ravels "La Valse", demonstrierten Dirigent und Orchester noch einmal, welch ideale Kombination hier zu bewundern war. Technische Brillanz und Klangfarbenreichtum werden erst durch Jansons Gestaltung vollends zum erfüllenden Erlebnis. Es ist eine Wonne zu sehen und zu hören, wie er die Ambivalenz des Stückes mit einer sehr aus dem Rubato kommenden Lesart unterstreicht. Die stetigen, kleinen Tempomodifikationen geben dem schattenhaften, verzerrten Abbild eines Walzers etwas extrem Nervöses, Unberechenbares. Gleichzeitig bleiben Schmelz und Schwung der von Ravel zitierten, dekonstruierten Sphäre aufgrund der hinreißend sinnlich aufspielenden Streicher erhalten. Eine ordentliche Portion Schizophrenie trägt untrüglich zum Gelingen des Werkes bei. Die Kontraste zwischen mehr erinnerter als tatsächlicher Melodienseeligkeit und harschen Ausbrüchen, die im seltsam kanalisierten, domestizierten Furor des Finale schließlich ihr abruptes Ende finden, all das wurde von den Münchnern als perfekt-unperfekte Ausgabe dieser nicht ganz rund laufenden Walzermaschine atemberaubend umgesetzt. Allein die Gestaltung der sich mit aller Macht ausdehnenden und jeweils jäh abreißenden Tutti-Schläge der Schlussphase ergab Klanggebilde, die man regelrecht hätte greifen können. Das SOdBR in der Elbphilharmonie – ein Naturereignis.

Mit der ersten Zugabe, Schuberts Moment musicaux Nr. 3 in einer Fassung für Streichorchester, scheint Jansons die neue Halle noch einmal auf ihre feine Resonanz abzuklopfen – sein verschmitztes Grinsen, nachdem sich die letzten zarten Töne in den Saal verströmen, scheint Zufriedenheit, vielleicht selbst ein bisschen Überraschung angesichts der delikaten Akustik, zu signalisieren. Als finaler Rausschmeißer beschließt ein furios um die Ohren gepfefferter Slawische Tanz von Dvořák dieses phänomenale Konzert. So wehmütig der Umstand stimmt, dieses Orchester nur als Gast in der Hansestadt zu wissen, so startet mit dem heutigen Tag bereits die Vorfreude auf drei weitere Chancen, es hier in der kommenden Spielzeit wieder erleben zu dürfen.

14. Mai 2017

Ariodante – Harry Bicket.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12 Bereich D, Reihe 3, Platz 4 (Akt 1), Etage 15 Bereich L, Reihe 4, Platz 7 (Akt 2 und 3)



Stell dir vor es gibt Weltklasse in der Elbphilharmonie und keiner geht hin. Fraglos eine Übertreibung, allerdings stimmt die Menge an grauen Rückenlehnen, welche im aktuell naturgemäß ausverkauften großen Saal der Elbphilharmonie die Sitzreihen sichtbar unterbrachen und sich nach jeder Pause ausbreiteten, angesichts der somit vielen Musikfreunden genommenen Möglichkeit der Teilhabe an diesem grandiosen Abend mehr als irritierend. Gut, man hat also keinen Bock auf vier Stunden Händel im Abo, traut dem welken Sitzfleisch oder der Akkuleistung des Hörgerätes nicht, geschenkt, aber warum gibt es in Fällen wie diesen keine Möglichkeit, wirklich interessierten Menschen den Sitzplatz zu überlassen? Vielleicht über eine Online-Plattform. Ach ne, falsche Zielgruppe. Dann doch eher ein Last-Minute-Anruf bei der Elphi, man gebe den Sessel für heute frei. Oder von mir aus auch per Fax oder Brieftaube, Hauptsache die Kunst kommt an die richtigen Leute. Klar, ist alles mit Aufwand verbunden und verkauft ist verkauft, war auch nur so ne Überlegung aus dem Frust heraus.

Ansonsten verlief die Aufführung, wie bereits angedeutet, alles andere als frustrierend – begeisternd und erhellend sind die Vokabeln der Wahl. Die Begeisterung erklärt sich unmittelbar aus der immensen Qualität, welche alle beteiligten Künstler heute abriefen. Dass der ursprünglich für die Titelpartie vorgesehene Superstar, Frau DiDinato, ihrem Engagement krankheitsbedingt nicht nachkommen konnte, gerät angesichts der hinreißenden „Vertretung“ Alice Coote zur Randnotiz. Deren ausdrucksstarker, gleichsam beseelter wie flexibler Sopran bildete den Fixstern um ein Sängerensemble, das ohne Ausnahme bis in die kleinste Rolle absolute Spitzenqualität lieferte.

Frau Kargs zauberhaft lyrische Stimme, in Kontrast dazu der herb-feurige Mezzo Sonia Prinas, die auch in dieser konzertanten Aufführung durch ihre überbordende Spielfreude aus Kehle und Gestik dem verschlagenen Polinesso ein lebendiges Gesicht gab und dadurch das Publikum im Sturm eroberte. Insbesondere die Szenen mit Mary Bevan als Darlinda, der Polinesso seine finsteren Absichten geschickt verschleiert einträufelt, sind von besonderer Intensität – auch gerade schauspielerisch – ganz ohne Kostümierung oder Requisiten. Auch die kleineren Rollen wie Lurcanio (David Portillo mit schlank-edlem Tenor voller Schmelz), der König (Matthew Brooke ungemein intensiv in der Erschütterung über die scheinbare Treulosigkeit Ginevras) oder selbst die ergänzende Tenorpartie des Odoardo (Bradley Smith) tragen zum phänomenalen Gesamteindruck bei. Harry Bicket und The English Concert geben ein Beispiel davon, wie berührend historische Aufführungspraxis sein kann, wenn technische Perfektion mit großer Leidenschaft einhergeht.

Neben diesen Eindrücken höchster Qualität bestimmte den Abend noch ein weiterer Faktor – die Möglichkeit, wieder einmal der Akustik der Halle auf den Zahn zu fühlen. Spannende Erkenntnis: Der Klangeindruck unter dem Dach auf Ebene 15 L ist, bezogen auf die Stimmen, verglichen mit meinem Stammplatz auf 12 D, nicht unbedingt schlechter. Logischerweise ist der Gesang in Bühnennähe präsenter, dafür bekommt er dort oben trotz der Distanz eine runde, volle Gestalt, die trotz geringerer Lautstärke eine enorme Nähe zum Bühnengeschehen erzeugt – ein weiterer Beleg für die vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten, die die Elbphilharmonie für unterschiedliche Geschmäcker bereithält.


Georg Friedrich Händel – Ariodante HWV 33 / Dramma per Musica

Ariodante – Alice Coote
Ginevra – Christiane Karg
Lurcanio – David Portillo
Polinesso – Sonia Prina
Dalinda – Mary Bevan
Re di Scozia – Matthew Brook
Odoardo – Bradley Smith

The English Concert
Musikalische Leitung und Cembalo – Harry Bicket

NDR Elbphilharmonie Orchester – Antonio Méndez.
Elbphilharmonie Hamburg.


11:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 12, Platz 1



Michail Glinka – Ouvertüre zu „Ruslan und Ljudilla“
Béla Bartók – Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 BB 48a
(Vilde Frang – Violine)

(Pause)

Sergej Rachmaninow – Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27


Heute mal das Parkett mit Orchester ausprobiert; letzte Reihe, um genau zu sein. Was ich vermutete, hat sich bewahrheitet – viel weiter vorn sollte man bei groß besetzten Werken wohl nicht sitzen. Der Klangeindruck insgesamt ist mehr als ordentlich, vielleicht nicht ganz so gut wie im Block 13 E, dessen erhöhte Ebene direkt hinter diesem Platz aufragt. So sitzt man in Reihe 12 dementsprechend unmittelbar vor einer Wand der bekannten Akustikverschalung. Mitunter nicht das Schlechteste – keine potenziellen Nervquellen im Nacken. Ansonsten treten auch hier die liebgewonnenen Vorzüge zu Tage: Differenzierte Klangwirkungen, ordentlich Bumms, leise Stellen wirken atemberaubend.

Wobei heute in erster Linie Frau Frang für den geraubten Atem verantwortlich zeichnete. Insbesondere der erste Satz des Bartok-Konzertes hat mich sowohl vom Material her als auch durch dessen suggestive Vermittlung schwer beeindruckt. Die Solistin bringt alles mit, was man abgesehen von der obligatorischen Technik für einen berührenden Vortrag benötigt. Lebendiger Ausdruck von superzart bis zupackend. Darüber hinaus liefert der NDR unter Mendez mit diesem Satz ebenfalls seinen besten Beitrag zum Programm. Enorme Klangwirkungen, Crescendi, die sich wunderbar plastisch aufbauen – man sieht die Tongebilde förmlich wachsen. Welch Kontrast vom Fortissimo zur unmittelbar folgenden, ganz intimen Stelle. Irisierender Klang, die Harfen tragen ihren Teil dazu bei. Der zweite Satz gerät dann nicht ganz so eindringlich, zwischen Rhythmischem, Treibenden und Innehaltendem – mag aber auch daran liegen, dass ich seine Faktur trotz (oder wegen?) des lebhaften Tempos als weniger spannend empfinde. Unterm Strich spiegelt das Konzert ganz treffend das ambivalente Verhältnis wider, welches ich für diesen Komponisten hege.

Ambivalenz ist insgesamt ein gutes Motto für diesen Abend, Pardon, Vormittag. Nehmen wir den Glinka: Tadellos musiziert, nicht ohne Schwung, aber eben doch ohne die letzte Präzision. Schnelligkeit allein bringt die Agilität diese Ouvertüre nur unzureichend zur Geltung. Entweder man gibt noch Schärfe der Akzentuierung hinzu, damit die Sache Schneid bekommt, oder man macht es ganz locker flockig, Virtuosität, scheinbar mühelos aus dem Ärmel geschüttelt. Dabei gestaltet Méndez durchaus – beim Seitenthema dämpft er merklich die Lautstärke, dynamische Kontraste sind das Ziel. Das Blech klingt besser als gedacht, das Bassfundament sitzt. Dennoch bleibt der Eindruck: Da wäre noch mehr gegangen.

Hatte ich mich im Vorfeld noch am meisten auf die Rachmaninow-Sinfonie gefreut, traten hier die Meinungsverschiedenheiten zwischen Méndez und mir am deutlichsten zutage. Der Mann ist spürbar um Feinheiten bemüht, verschleppt dabei aber mehr oder weniger die komplette Sinfonie. Alles klingt weich und rund, wie er es mit ausladender, fließender Gestik vorgibt. Was dieser Interpretation jedoch als Ausdrucks-Gegengewicht abgeht, ist mehr Kante, mehr Kontur an entsprechender Stelle. So läuft dieser Koloss Gefahr, im süßlich-milden Fluß vor sich hin zu plätschern, ja staut sich teilweise zäh wie Sirup auf.

Was es Méndez mit seiner buttrigen Lesart zudem nicht leichter macht, ist der Umstand, dass das Residenzorchester der Elbphilharmonie nur bedingt in der Lage ist, all die Feinheiten und Klangfarbenschmankerl abzurufen, die solch eine betont romantisch-breite Sichtweise dann zumindest für Soundfetischisten zum Erlebnis machen. Stattdessen wird solides Handwerk geboten, kein Klangzauber. Der erste Einsatz der Holzbläser im Vergleich zu den Streichern – zu laut. Das Klarinettensolo im Adagio – könnte deutlich zarter kommen. Ein signifikanter Einstieg der Bratschen – konturlos. Und so weiter und so fort. Nichts Arges, aber halt auch bei weitem nichts, um angesichts der Möglichkeiten, die dieser Saal bietet, mit der Zunge zu schnalzen. Überraschend allerdings, dass Méndez im Finale auf den letzten Metern dann doch wieder einfällt, wie man die Handbremse löst – nahm er die Steigerungen bis dahin gemäß Konzept eher langsam, zieht er die letzten Takte das Tempo gehörig an und sorgt somit, auch im Kontrast zum zuvor erlebten, für einen wahren Knalleffekt zum Schluß. Respekt, das nenne ich mal Wirkungs-Ökonomie – Allgemeine Begeisterung im Saal.

Was mich, abgesehen von derlei Frotzeleien, jedoch wirklich bei diesem Konzert beschäftigt hat, ist die Frage, warum ich mehr als 70 Euro dafür ausgegeben habe. Kein Festakt, einfach ein stinknormales Aboprogramm des NDR. Gut, alte Laeiszhallenbillets als Vergleichsbeweismittel für günstigere Zeiten hervorzukramen, ist ebenso nicklig wie realitätsfern, angesichts der allgemeinen Preissteigerungen, die beispielsweise ebenso das Philharmonische Staatsorchester bei seinen Auftritten hier erfahren hat. Und auch die seltenen Gastspiele der Symphoniker Hamburg in der Elbphilharmonie haben ihren Preis. Natürlich ist es mehr oder weniger immer so gewesen, dass Preisstaffelungen vor allem mit der erwarteten Qualität, oder sagen wir besser Strahlkraft der jeweiligen Klangkörper, Solisten etc. einhergehen. Und natürlich ließe sich trefflich darüber streiten, ob man für entsprechende Gastspiele von Spitzenorchestern das Dreifache ausgeben möchte – ich persönlich sehe dieses Geld in der Regel jeweils gut investiert.

Und eigentlich geht es bei meiner Frage auch weniger um die 70 Euro, sondern darum, wofür das NDR Sinfonieorchester, jetzt Elbphilharmonie Orchester (mit Deppenleerzeichen, ohne Bindestrich), steht – klanglich, künstlerisch. Wie klingt dieses Orchester? Was ist sein Profil, sein akustischer Fingerabdruck, der es unverwechselbar macht? So richtig kann ich das nach ca. 15 Jahren Konzerten in Hamburg immer noch nicht sagen. Es gab eine Zeit, da habe ich zumindest auf den Streicherklang geschwört. Unter den Bedingungen des neuen Saales relativiert sich selbst das deutlich. Noch ist es ungewiss, wo die Reise hingeht. Ich werde trotz aller Skepsis, nicht zuletzt aus reiner Neugierde, diese Reise ein Stück mitgehen – Abo D ist bereits gebucht – und mich, solange geschätzte Gastdirigenten wie Herbert Blomstedt oder Paavo Järvi eingeladen werden, weiter um Karten bemühen. Man sieht sich.

13. Mai 2017

Lulu – Peter Sommerer.
Theater Flensburg.

19:30 Uhr, Parkett, Reihe 8, Platz 173



Das Landestheater Schleswig-Holstein erneut mit einer starken Produktion. Die Flensburger Lulu mag vielleicht nicht so ambitioniert und radikal wie ihre nur schwer zu übertreffende Hamburger Schwester (Link) sein, zeigt sich aber ihrerseits durchaus als schlüssige wie eigenständige Umsetzung des Stoffes. Auf das Parisbild wird hier zu Gunsten einer dramaturgischen Kompaktheit verzichtet – funktioniert. Ansonsten gibt es weniger Ideenfeuerwerk als gutes Handwerk, beispielsweise wenn das zentrale Leitmotiv des Lulu-Bildes entsprechend variiert wird, bis das Gemälde schließlich nur noch als Behelf gegen das miese Londoner Wetter herhalten muss.

Das Sängerensemble ist gut besetzt, einmal mehr sticht Kai-Moritz von Blanckenburg (Dr. Schön / Jack the Ripper) mit seinem volltönenden Bariton und gehobener Spielintensität hervor, aber die Sängerin der Titelpartie macht ihre Sache ebenfalls ausgesprochen gut. Orchester und Dirigat hinterlassen einen überzeugenden Eindruck, obgleich auch hier die Hamburger Produktion mit mehr Zwischentönen und Schattierungen verblüffte. Alles in Allem eine lohnende Reise an die Förde.


Alban Berg – Lulu
Musikalische Leitung – Peter Sommerer
Inszenierung – Peter Grisebach
Ausstattung – Martin Fischer
Dramaturgie – Anne Sprenger

Lulu – Eun-Joo Park
Tierbändiger / Theaterdirektor / Athlet – Daniel Dropulja
Maler / Neger – Christopher Hutchinson
Dr. Schön / Jack the Ripper – Kai-Moritz von Blanckenburg
Alwa – Junghwan Choi
Medizinalrat / Professor – Rouben Sevostianov
Schigolch – Markus Wessiack
Theatergarderobiere / Gymnasiast – Paulina Schulenburg
Prinz / Kammerdiener – Samuel Smith
Gräfin Geschwitz – Eva Schneidereit

Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester

12. Mai 2017

Steve Reich: Ensemble.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 7, Platz 6



Steve Reich im Gespräch mit Mischa Kreiskott

Steve Reich – Music for 18 Musicians
(Colin Currie Group, Synergy Vocals)



Am Anfang stand heute nicht wie erwartet das Wort, sondern der Rhythmus, genauer gesagt das Stück „Clapping Music“, welches Colin Currie und Steve Reich, nachdem sie schweigend die Bühne betreten hatten, Kraft ihrer klatschenden Hände darboten. Einige Minuten fein synchronisierter Geräuschentwicklung – rhythmische Strukturen als Keimzelle von Musik.

Das folgende Interview mit dem Komponisten zeigte, welch sympathischer, bodenständiger Geselle dieser alte Herr doch ist, der seinen Platz in den Geschichtsbüchern der Musik bereits eingenommen hat. Neben einer gänzlich unakademischen Einführung in seine Arbeitsweise und das Werk des Abends, gab Reich ein Beispiel davon, wie unkompliziert, bescheiden und geerdet man auch als Künstler von Weltgeltung auftreten kann. Dabei war es besonders interessant zu erfahren, dass sich Reich sehr wohl in einer Traditionslinie mit anderen Vertretern der klassischen, westlichen Musikhistorie wie Bach oder Beethoven sieht (so stellte er ein kleines rhythmisches Motiv vor und kommentierte: „This was my »ta ta ta taaa«.“) – ohne sich mit diesen Größen auf eine Stufe zu stellen. Entwaffnend unprätentiös dann auch sein abschließender Tipp auf die Frage, wie man seiner Kunst als Neuling am besten begegnen sollte: „Make sure you use your left ear ... and your right ear.“

Und das Zeug dazwischen am besten auch, möchte ich ergänzen. Denn so einfach die Bausteine dieser Musik sind – einzelne Harmonien, pulsierende Klänge, repetitiv eingesetzte Intervalle oder kurze Motive – ist sie doch weit mehr als ein suggestiv gewobener Ambient-Teppich und gewährt bei entsprechender Konzentration interessante Einblicke in Reichs Werkstatt struktureller Kombinations- und Variationsarbeit. Wobei das Stück mit fortschreitender Dauer durchaus etwas Hypnotisches bekommt. Der Maßstab für Zeit verschwimmt angesichts des stetig fließenden und gleichzeitig in seinen Wiederholungen auf der Stelle oszillierenden Gefüges. Größte Bewunderung auch für die Musiker, die ihr zum Teil gezwungenermaßen stoisch maschinenhaftes, aber keineswegs seelenloses Mitwirken in vorbildlicher Ausdauer und Harmonie vollziehen.

Parallelen zur elektronischen Musik werden offenkundig – Monotonie nicht als Makel, sondern Stilmittel zur Kanalisierung von Atmosphäre. Alles ordnet sich dem Flow unter. Weiterhin ist es verblüffend, wieviel Groove diese streng konzipierte Musik besitzt. Es wippt der Fuß, es nickt das Köpfchen. Und neben dem Stück als solches überzeugt aufs Neue dessen akustischer Transfer an das beschworene Ohrenpaar, diesmal in der elektrisch verstärkten Version mit Lautsprechern und dem damit verbundenen Einsatz der leider ein wenig die Saaloptik verschandelnden, ausfahrbaren Wandpaneele. Wirklich gelungen dabei das Zusammenspiel von Ausgewogenheit des verstärkten Klanges und (suggerierter) Ortbarkeit der einzelnen Musiker, egal ob einzelne Geige, gedoppelte Piano- Pärchen oder die ganz direkt mit dem Mikrophon arbeitenden Sänger, welche ihre Crescendo- und Diminuendo-Effekte allein durch die Veränderung des Abstands zu selbigem werden und vergehen lassen. Mein Lieblingsinstrument des Abends ist aber die Bassklarinette, dem Konzept gemäß ebenfalls im Doppelpack anzutreffen. Pulsierende, tiefe Töne für die jeweilige Dauer eines Atemzuges.

Zum Schlußapplaus bestritt Reich noch einmal die Bühne, bleibt zunächst jedoch am Rand stehen, möchte den frenetischen Applaus ganz seinen Musikern überlassen, bis er schließlich doch inmitten des Ensembles beklatscht wird – so schließt sich der Kreis: vom organisierten zum ritualisierten Geräusch.

4. Mai 2017

Wiener Philharmoniker – Herbert Blomstedt.
Konzerthaus Berlin.

20:00 Uhr, 1. Rang links, Reihe 1, Platz 31



Ludwig van Beethoven – Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37
(Kit Armstrong)

(Pause)

Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 4 Es-Dur



Spätestens nach diesem Konzert habe ich ein ganz konkretes Vorbild in Bezug auf die Zielgerade meines Aufenthaltes hier auf Erden – Herbert Blomstedt. Ganz gleich, wie viele Runden diesem Pult-Urgestein noch vergönnt sein mögen, aber wenn man mit knapp 90 Jahren die Bühne noch so flotten Schrittes betritt, und einen dicken Schinken wie Bruckner, mehr als eine Stunde ohne Pause stehend, mit vollem Körpereinsatz immer noch frei aus dem Gedächtnis den Wiener Kollegen zu entlocken vermag, hat man eine ganze Menge im Leben richtig gemacht. Oder extrem gute Gene. Oder absolut keinen Bock auf die Rente. Wahrscheinlich von allem etwas. Auf jeden Fall hat dieser Mann richtig Spaß bei dem was er tut, das merkt man auch mit weitaus weniger Lebenserfahrung.

Energie, Körperspannung, ungebrochener Drang nach Gestaltung. Während beim Beethoven vielleicht noch etwas wie Altersmilde angedichtet werden könnte – eher breite Tempi dominieren eine runde, aber keineswegs konturlose Lesart – findet sich in Blomstedts Bruckner keine Spur davon. Vielleicht auch bedingt durch das makellose, insgesamt aber etwas harmlose Spiel Armstrongs, ergibt sich ein bemerkenswerter Kontrast zwischen den beiden Konzerthälften. Ging es im Klavierkonzert noch beschaulich-elegant zu, sollte nach der Pause eine Demonstration von Saft und Kraft folgen. Diese „Romantische“ ist kein naiv-verträumtes blaues Blümelein, sondern eine mächtige Eiche, die in ihrer ganzen Pracht das Leben feiert. Eine trutzige Burg, deren Mauern im Sonnenschein strahlen, keine nebelumwaberte Zinne als Projektionsfläche verklärter Sehnsucht. Mehr Walhall als Monsalvat.

Es wäre spannend, den Mitteln Blomstedts nachzuforschen, durch die er die Sinfonie in dieses unerschütterlich optimistische Licht frei von allem Zweifelnden, Brütenden taucht, wie es Bruckner sonst so oft anhaftet. Gut, die Vierte ist – welch Erkenntnis – nicht die Siebte, Achte oder gar Neunte. Trotzdem ist es schon ungewöhnlich, wie selbstsicher und geerdet das Ganze rüberkommt, ohne dabei profan zu wirken. Leider war ich allzu sehr mit Staunen beschäftig, um viel über die Details der Interpretation sagen zu können. Auf jeden Fall gab es immer wieder Momente, namentlich im ersten und vierten Satz, bei denen Blomstedt Steigerungen durch ziemlich forsche Tempozunahme etwas extrem Mitreißendes, Zwingendes gab, das keinen Widerspruch duldete. Klingt erst mal banal, ist sicher auch nur ein kleines Mosaiksteinchen einer Herangehensweise, die ohne Zweifel als ebenso schlüssig wie konsequent bezeichnet werden kann.

Bleibt nur zu hoffen, dass uns jenes schelmische Lächeln und das, was es bewirkt, noch möglichst lange erhalten bleibt.