14. Mai 2017

NDR Elbphilharmonie Orchester – Antonio Méndez.
Elbphilharmonie Hamburg.


11:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 12, Platz 1



Michail Glinka – Ouvertüre zu „Ruslan und Ljudilla“
Béla Bartók – Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 BB 48a
(Vilde Frang – Violine)

(Pause)

Sergej Rachmaninow – Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27


Heute mal das Parkett mit Orchester ausprobiert; letzte Reihe, um genau zu sein. Was ich vermutete, hat sich bewahrheitet – viel weiter vorn sollte man bei groß besetzten Werken wohl nicht sitzen. Der Klangeindruck insgesamt ist mehr als ordentlich, vielleicht nicht ganz so gut wie im Block 13 E, dessen erhöhte Ebene direkt hinter diesem Platz aufragt. So sitzt man in Reihe 12 dementsprechend unmittelbar vor einer Wand der bekannten Akustikverschalung. Mitunter nicht das Schlechteste – keine potenziellen Nervquellen im Nacken. Ansonsten treten auch hier die liebgewonnenen Vorzüge zu Tage: Differenzierte Klangwirkungen, ordentlich Bumms, leise Stellen wirken atemberaubend.

Wobei heute in erster Linie Frau Frang für den geraubten Atem verantwortlich zeichnete. Insbesondere der erste Satz des Bartok-Konzertes hat mich sowohl vom Material her als auch durch dessen suggestive Vermittlung schwer beeindruckt. Die Solistin bringt alles mit, was man abgesehen von der obligatorischen Technik für einen berührenden Vortrag benötigt. Lebendiger Ausdruck von superzart bis zupackend. Darüber hinaus liefert der NDR unter Mendez mit diesem Satz ebenfalls seinen besten Beitrag zum Programm. Enorme Klangwirkungen, Crescendi, die sich wunderbar plastisch aufbauen – man sieht die Tongebilde förmlich wachsen. Welch Kontrast vom Fortissimo zur unmittelbar folgenden, ganz intimen Stelle. Irisierender Klang, die Harfen tragen ihren Teil dazu bei. Der zweite Satz gerät dann nicht ganz so eindringlich, zwischen Rhythmischem, Treibenden und Innehaltendem – mag aber auch daran liegen, dass ich seine Faktur trotz (oder wegen?) des lebhaften Tempos als weniger spannend empfinde. Unterm Strich spiegelt das Konzert ganz treffend das ambivalente Verhältnis wider, welches ich für diesen Komponisten hege.

Ambivalenz ist insgesamt ein gutes Motto für diesen Abend, Pardon, Vormittag. Nehmen wir den Glinka: Tadellos musiziert, nicht ohne Schwung, aber eben doch ohne die letzte Präzision. Schnelligkeit allein bringt die Agilität diese Ouvertüre nur unzureichend zur Geltung. Entweder man gibt noch Schärfe der Akzentuierung hinzu, damit die Sache Schneid bekommt, oder man macht es ganz locker flockig, Virtuosität, scheinbar mühelos aus dem Ärmel geschüttelt. Dabei gestaltet Méndez durchaus – beim Seitenthema dämpft er merklich die Lautstärke, dynamische Kontraste sind das Ziel. Das Blech klingt besser als gedacht, das Bassfundament sitzt. Dennoch bleibt der Eindruck: Da wäre noch mehr gegangen.

Hatte ich mich im Vorfeld noch am meisten auf die Rachmaninow-Sinfonie gefreut, traten hier die Meinungsverschiedenheiten zwischen Méndez und mir am deutlichsten zutage. Der Mann ist spürbar um Feinheiten bemüht, verschleppt dabei aber mehr oder weniger die komplette Sinfonie. Alles klingt weich und rund, wie er es mit ausladender, fließender Gestik vorgibt. Was dieser Interpretation jedoch als Ausdrucks-Gegengewicht abgeht, ist mehr Kante, mehr Kontur an entsprechender Stelle. So läuft dieser Koloss Gefahr, im süßlich-milden Fluß vor sich hin zu plätschern, ja staut sich teilweise zäh wie Sirup auf.

Was es Méndez mit seiner buttrigen Lesart zudem nicht leichter macht, ist der Umstand, dass das Residenzorchester der Elbphilharmonie nur bedingt in der Lage ist, all die Feinheiten und Klangfarbenschmankerl abzurufen, die solch eine betont romantisch-breite Sichtweise dann zumindest für Soundfetischisten zum Erlebnis machen. Stattdessen wird solides Handwerk geboten, kein Klangzauber. Der erste Einsatz der Holzbläser im Vergleich zu den Streichern – zu laut. Das Klarinettensolo im Adagio – könnte deutlich zarter kommen. Ein signifikanter Einstieg der Bratschen – konturlos. Und so weiter und so fort. Nichts Arges, aber halt auch bei weitem nichts, um angesichts der Möglichkeiten, die dieser Saal bietet, mit der Zunge zu schnalzen. Überraschend allerdings, dass Méndez im Finale auf den letzten Metern dann doch wieder einfällt, wie man die Handbremse löst – nahm er die Steigerungen bis dahin gemäß Konzept eher langsam, zieht er die letzten Takte das Tempo gehörig an und sorgt somit, auch im Kontrast zum zuvor erlebten, für einen wahren Knalleffekt zum Schluß. Respekt, das nenne ich mal Wirkungs-Ökonomie – Allgemeine Begeisterung im Saal.

Was mich, abgesehen von derlei Frotzeleien, jedoch wirklich bei diesem Konzert beschäftigt hat, ist die Frage, warum ich mehr als 70 Euro dafür ausgegeben habe. Kein Festakt, einfach ein stinknormales Aboprogramm des NDR. Gut, alte Laeiszhallenbillets als Vergleichsbeweismittel für günstigere Zeiten hervorzukramen, ist ebenso nicklig wie realitätsfern, angesichts der allgemeinen Preissteigerungen, die beispielsweise ebenso das Philharmonische Staatsorchester bei seinen Auftritten hier erfahren hat. Und auch die seltenen Gastspiele der Symphoniker Hamburg in der Elbphilharmonie haben ihren Preis. Natürlich ist es mehr oder weniger immer so gewesen, dass Preisstaffelungen vor allem mit der erwarteten Qualität, oder sagen wir besser Strahlkraft der jeweiligen Klangkörper, Solisten etc. einhergehen. Und natürlich ließe sich trefflich darüber streiten, ob man für entsprechende Gastspiele von Spitzenorchestern das Dreifache ausgeben möchte – ich persönlich sehe dieses Geld in der Regel jeweils gut investiert.

Und eigentlich geht es bei meiner Frage auch weniger um die 70 Euro, sondern darum, wofür das NDR Sinfonieorchester, jetzt Elbphilharmonie Orchester (mit Deppenleerzeichen, ohne Bindestrich), steht – klanglich, künstlerisch. Wie klingt dieses Orchester? Was ist sein Profil, sein akustischer Fingerabdruck, der es unverwechselbar macht? So richtig kann ich das nach ca. 15 Jahren Konzerten in Hamburg immer noch nicht sagen. Es gab eine Zeit, da habe ich zumindest auf den Streicherklang geschwört. Unter den Bedingungen des neuen Saales relativiert sich selbst das deutlich. Noch ist es ungewiss, wo die Reise hingeht. Ich werde trotz aller Skepsis, nicht zuletzt aus reiner Neugierde, diese Reise ein Stück mitgehen – Abo D ist bereits gebucht – und mich, solange geschätzte Gastdirigenten wie Herbert Blomstedt oder Paavo Järvi eingeladen werden, weiter um Karten bemühen. Man sieht sich.