20. Juni 2017

Boris Godunow – Pavel Smelkov.
Mariinski-Theater St. Petersburg

19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 4, Platz 15



Was für ein ambitioniertes, hochkomplexes, wundersam heterogenes Werk – nicht schlecht für einen Säufer! Vom überwältigenden Gigantismus der Massenszenen bis zum intimen Kammerspiel der Zwiegespräche, eine Ausdruckspalette, welche die denkbar unterschiedlichsten Stimmungen in einem stringenten Konzept vereint: Den gebieterischen Ernst des pompösen Eingangstableaus mit seiner düsteren Ambivalenz eines majestätischen Jubels, der einzig auf Zwang gründet, ebenso wie den bierseligen Klamauk der Schenkenszene oder den Überschwang der Festlichkeiten am Hofe in Polen. Die fromme Lyrik der Unterredung zwischen dem aufstrebenden Grigori und dem besonnen-gütigen Mönch Pimen ebenso wie jene Dämonie, die von dem sinistren Jesuiten Rangoni ausgeht, wenn er der eben noch stolzen Marina mit teuflischer Verschlagenheit Wort für Wort das Gift des Zweifels einträufelt, um sie schließlich ganz im Sinne seines Planes einzuspannen.

Jene Breite des Ausdrucks findet sich auch in einzelnen Figuren, allein die differenzierte musikalische Behandlung Boris’ trägt viel dazu bei, dessen Vielschichtigkeit jenseits klischeehafter Stigmatisierung aufzuzeigen – Herrscher und Machtmensch einerseits, gütiger, umsorgender Vater andererseits. Darüber hinaus zeichnet Mussorgski eindringlich die Entwicklung des Zaren in Tönen nach, von dem ersten Glanz, auf dem gleich ein Schatten liegt, über die beginnenden Zweifel des Despoten, aus seinem schlechten Gewissen, den Gedanken an den ermordeten Zarewitsch wuchernd, schließlich der Wahn, die lähmende Fäulnis, die sein Ende begleitet.

Dabei ist Mussorgskis Musik mitnichten auf das Irritierende, Groteske limitiert. So stellt beispielsweise das wechselseitige Auf und Ab der Liebesbekundungen und Forderungen zwischen dem falschen Dmitri und Marina einen Grad an konsonanter, kantabler Seligkeit dar, wie ich ihn bei diesem Komponisten nie erwartet hätte. Ich muss allerdings gestehen, dass ich persönlich auf diese (rein politisch motivierte) Schmonzette problemlos verzichten könnte. Die Urfassung der Oper – ohne Marinas Ränkespiele – würde ich gern im Vergleich dazu kennenlernen, auch wenn allein schon Rangonis Teufeleien die Überarbeitung des Werks rechtfertigen.

Die Inszenierung kommt buchstäblich in historischem Gewande daher – selten habe ich solche Pracht und Detailversessenheit in den offenbar nach konkreten geschichtlichen Vorbildern gefertigten Kostümen gesehen. Ob einfacher Bauer oder Zar, hier scheint tatsächlich jeder Darsteller einem Bild Repins entsprungen, das alte Russland erfährt seine textile Wiederauferstehung auf der Bühne. Doch obgleich die Szenen, gerade diejenigen mit Unmengen an Menschen, immer wieder den Eindruck von lebendigen Gemälden, ja perfekt choreografierten Wimmelbildern vermitteln, sollten dieser visuelle Konservatismus und die Opulenz nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Regiearbeit insgesamt betrachtet keineswegs in Augenschmaus erschöpft.

Gerade auf der Ebene der Personenregie glänzt die Produktion nicht allein mit wirklich organisch und authentisch eingesetzten Chormassen, sondern kommentiert auch auf subtiler Detailstufe mit intelligenten Kommentaren. So weicht der eben inthronisierte Boris einen Wimpernschlag, nachdem er seinen Willen bekundet hat, dem Volk ein gerechter Herrscher zu sein, angewidert vor einem armen, offenbar kranken oder geschwächten Bettler zurück, der ihn zu Füßen anfleht. Wir erleben während der Unterredung mit Boris ebenso plakativ wie beiläufig, wie der doppelzüngige Schuiski seine eigenen Pläne mit Russland verfolgt, indem er die als Teppich ausgebreitete Karte des Reiches scheinbar achtlos mit jedem seiner Schritte mehr und mehr zusammenwirft, das Territorium verkleinert.

Aber auch das Bühnenbild ist bei genauerem Hinsehen mehr als historische Staffage – im Gegenteil: Der ganze Abend wird von einem unveränderlichen Rahmen beherrscht, der in jedem Bild nur leichte Modifikationen durch wenige zweckdienliche Requisiten erfährt. Was genau sehen wir da eigentlich? Keinen Marktplatz, keinen Zarenpalast, auch keinen Palais in Polen oder ein Waldgebiet. Stattdessen die unveränderliche Ruine (oder doch Baustelle?) eines Palastes oder einer Kathedrale vielleicht. Einmal erblicken wir ein – versehrtes – Kruzifix in dem großen Torbogen ganz im Hintergrund – es ist die Szene, in der der Katholik Rangoni seine Saat gegen das (orthodoxe) Volk sät. Ein anderes Mal sehen wir dort ein großes Pendel schwingen, zweimal, um genau zu sein, Bei Boris’ Einführung und dann wieder gegen Ende der Oper – das Schicksal schreitet unaufhaltsam voran, auch für all jene großen Häupter, so triumphal sie auch durch das große Tor ziehen mögen. Boris, aber auch Dmitri/Grigori. Die Geschichtsbücher geben Aufschluss darüber, dass auch der Triumph des Gegenzaren nicht von Dauer war und den Strom des Leids in der russischen Bevölkerung nicht versiegen ließ. Der Narr spricht es am Ende klar und eindringlich aus: „Wehe dir, du armes Volk“

Ohne auf jeden einzelnen Sänger einzugehen, bestätigt das gesamte Ensemble eindrucksvoll den Weltruf, den dieses Haus landläufig genießt. Wenn ein – nicht weiter begründeter, aber offenbar recht spontaner – Wechsel der titelgebenden Partie und seine – ebenso wundersame – Rücknahme nach der Pause letztendlich die Möglichkeit bot, gleich zwei Borise auf höchstem Niveau bewundern zu dürfen, so ist das eine (bemerkenswerte) Sache. Die wirkliche Extraklasse eines Theaters macht sich aber oft gerade in der Besetzung der (scheinbaren) Nebenrollen bemerkbar. Der sängerische Beitrag des Strippenziehers Rangoni mag quantitativ vergleichsweise gering ausfallen, diesem angesichts seiner intriganten Sprengkraft für die Entwicklungen so maßgeblichen Charakter aber mit einem stimmlich wie darstellerisch derart präsenten Künstler wie Roman Burdenko teuflisches Leben einhauchen zu können, ist schlicht sensationell. Wobei jene qualitative Sensation die Regel in dieser Besetzung darstellt, die mit Fug und Recht das seltene Prädikat Weltklasse verdient.

Das Orchester des Mariinski- Theaters steht dieser Leistung heute in nichts nach. Unter der traumhaft differenzierten, sensiblen wie packenden Stabführung Pavel Smelkovs entströmt dem Graben ein Hochgenuss, der das gesamte Spektrum musikalischer Ausdrucksformen in Vollendung präsentiert. Dass der alte Saal des ehrwürdigen Hauses zudem vorzüglich klingt, soll dabei ebensowenig unterschlagen werden, wie die als erfreulich konzentriert empfundene Atmosphäre in ihm, vor allem wenn man bedenkt, welch Magnet für touristische Einmalausflüge ins Reich des Musiktheaters diese Stätte darstellen muss.

Fazit: Mussorski und Mariinski – eine bessere Kombination hätte ich mir nicht träumen lassen.


Modest Mussorgski – Boris Godunow
Musikalische Leitung – Pavel Smelkov
Regie – Andrei Tarkovsky
(Premiere: Royal Opera House Convent Garden, 1983)
Bühne und Kostüme – Nikolai Dvigubsky
Bühne des Mariinski-Theaters – Steven Lawless & Irina Brown (1990)
Regisseur der Wiederaufnahme – Irkin Gabitov
Licht – Vladimir Lukasevich
Musikalische Einstudierung – Irina Soboleva
Haupt-Chorleiter – Andrei Petrenko
Begleiter – Alla Brosterman, Marina Yevseyeva & Marina Rapakova
Chorleiter – Nikita Gribanov & Pavel Petrenko
Ballett – Dmitry Korneyev
Leiter des Kinderchores – Irina Yatsemirskaya
Regieassistenz – Alena Ivanova
Dirigent Bühnenmusik – Arseny Shuplyakov

Boris Godunow – Einspringer? (1. & 2. Akt), Mikhail Petrenko (4. Akt)
Fjodor, sein Sohn – Yekaterina Sergeyeva
Xenia, seine Tochter – Anastasia Kalagina
Xenias Amme – Nedezhda Vassilieva
Fürst Wassili Iwanowitsch Schuiski – Yevgeny Akimov
Andrei Schtschelkalow, Schreiber der Bojarenduma – Yuri Laptev
Pimen, Chronikschreiber und Mönch – Mikhail Kit
Grigori Otrepjew, Prätendent, der falsche Dmitri – Sergei Skorokhodov
Marina Mnischek, Tochter des Woiwoden von Sandomir – Natalia Yevstafieva
Rangoni, geheimer Jesuit – Roman Burdenko
Warlaam und Misail, entlaufene vagabundierende Mönche – Mikhail Kolelishvili, Nikolai Gassiev
Eine Schenkwirtin – Elena Vitman
Ein Schwachsinniger (Narr) – Andrei Popov
Nikititsch, Vogt – Grigory Kasarev
Ein Leibbojar – Oleg Losev
Bojar Chruschtschow – Mikhail Latyshev
Lowitzki und Tschernjakowski, Jesuiten – Vitaly Yankovsky, Vladimir Babokin
Mitjuch (Bauer) – Yevgeny Ulanov
1. Frau aus dem Volke – Marina Mareskina
2. Frau aus dem Volke – Lyudmilla Kanunnikova
Mann mit einer Tasche – Viktor Vikhrov
Mann mit einem Stab – Mikhail Latyshev
Tauber alter Mann – Vitaly Yankovsky
Fröhlicher Junge – Vyacheslav Lukhanin

Chor: Volk, Bojaren, Strelitzen, Wachen, Hauptleute, Aufseher, Magnaten, Polnische Adlige, Mädchen aus Sandomir, Wandernde Pilger und Kinder (Knabenchor im letzten Bild)

Orchester des Mariinski-Theaters