13. Dezember 2018

NDR Elbphilharmonie Orchester – Herbert Blomstedt.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 15, Bereich M, Reihe 2, Platz 7



Ludwig van Beethoven – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 
Es-Dur op. 73 (Emanuel Ax)
Zugabe: Schubert?

(Pause)

Johannes Brahms – Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73



Das Phänomen Blomstedt – auch mit mittlerweile 91 Jahren immer noch verblüffend flott unterwegs. Der Gang auf die Bühne vielleicht eine Spur steifer im Rücken (kann ich mir auch eingebildet haben) als 2017 in Berlin (Link), am Pult jedoch weiterhin mit beneidenswerter physischer Präsenz – Der Mann hat Übersicht und läßt keinen Zweifel daran, dass er die Zügel mit gütiger Mine aber fest im Griff hat. Auch das Beethoven-Dirigat selbst ist mit Berlin vergleichbar – sehr rund und elegant, mir persönlich jedoch etwas zu gemütlich. Doch gerade dynamisch absolut ausgefeilt, facettenreich, das Orchester klingt sehr gut, sehr homogen. Generell heute erst mal nichts zu meckern. Im Gegenteil: die Hörner richtig gut! Die Akustik auf 15 M ist immer noch nicht mein Fall, aber immerhin transparent – tiefes Horn als Grund für den Solisten im dritten Satz war mir so noch nie aufgefallen. Ax passt dabei prima zu Blomstedt, ebenfalls rund, phänomenales Legato und butterweicher Anschlag – auch und gerade in der Zugabe.

Eine Prise Pausen-Rassismus: Das alte Klischee „Asiaten spielen technisch perfekt, jedoch ohne Seele“ erfreut sich in Teilen der Hamburger Bildungselite ungebrochener Beliebtheit. So erfuhr man ungewollt über Lang Lang: „Da können sie auch einen Automaten hinstellen“ Jawoll! Deutsche Leitkultur über alles in der Welt!

Aber zurück zu echten Leitbildern. Über Blomstedts Mimik und Gestik allein ließe sich ein Essay zum Thema ansteckende Lebensfreude verfassen. Über den jungendlichen Schwung seines Handkantendirigats. Über die freudig-erwartungsvollen Blicke an seine Mitstreiter, wenn er ihnen ihre Einsätze gibt. Oder über seine typische Geste beim Herauspicken der verdienten Solisten für den Applaus: eine Mischung aus Winken und Segnen der Musiker. Wer mit über 90 noch so intensiv Freude an Musik zu vermitteln und offenkundig zu erleben imstande ist, darf wahrlich gesegnet genannt werden.

Kein Segen ist leider mein Aboplatz. Habe ich bereits oft mit ihm gehadert, wurde die problematische Akustik heute nach der Pause noch einmal schlagartig klar. Offenbar ist die Verstärkung von der Beethoven- zur Brahms-Instrumentation alles andere als förderlich (u.a. 8 statt 4 Bässe). Der runde Klang weicht einem harten, kalten, zudem fällt er auseinander. Die Bläser dominieren die Streicher, letztere – eigentlich das Prunkstück des NDR – klingen dünn und kalt. So z.B. die Celli am Anfang des zweiten Satzes gespenstisch matt. Das Blech dafür lärmend, Horn leider nun auch mit ein paar Unsicherheiten (u.a. Solo zweiter Satz), Trompeten mit Patzer zum Satzschluss. So macht große Sinfonik einfach keinen Spaß, ich hoffe, dass ich meinen Platz zur neuen Saison endlich umtopfen kann.

Dafür gibt es beim Brahms, wahrscheinlich auch angeregt durch die gute Einführung, unerwartet spannende Bezüge zu Mahler zu entdecken. Eigentlich unverständlich, dass mir das nicht schon früher aufgefallen ist, schließlich gehören die Sinfonien des Hamburger Jung nicht gerade zu den seltenen Exoten in den Konzertprogrammen und die auch in der Einführung angesprochene Leihgabe der „Naturlaut“-Intervalle aus dem Finale, mit denen Mahlers Erstling beginnt, stellt ein mir seit Jahr und Tag bekanntes Kuriosum dar. Viel spannender als diese einzelne zitathafte Stelle schien mir heute allerdings die ganze Faktur der Zweiten, welche – wenn man so will – Brahms konzeptionell viel näher an Mahler heranrückt, ja ihn in gewisser Weise durchaus als Vorgänger auf charakterlicher Ebene erscheinen lässt.

Ich muss gestehen, dass ich gemeinhin mit der Zweiten am wenigsten anfangen konnte, gerade nach dem ersten Kennenlernen schien sie mir ungleich uninteressanter, ja seichter als die von Dramatik nur so durchzuckte Erste. Das ist natürlich eine dumme Einschätzung, aber zum Glück muss man ja nicht unbedingt (ganz) dumm bleiben. Was mir immer mehr, und heute eben wieder mit Macht aufgeht, ist die Ambivalenz, die in dieser Sinfonie verborgen (oder halt für Blitzmerker offenkundig) ist. Nehmen wir einmal beispielhaft den dritten Satz, namentlich die Holzbläser, im Besonderen die Oboe: Ihr Auftreten wirkt zuerst beschaulich, gemütlich, dann jedoch mindestens in gleichem Maße melancholisch, fast sentimental.

Die Ton gewordene wehmütige Erinnerung, die bei Mahler so oft anzutreffen ist und deren Vorläufer ich immer eher bei Schubert gesehen habe – hier findet sich ein ergreifender Vorgriff beim „absoluten“ Musiker Brahms. Gut, über die Unsinnigkeit, von absoluter und programmatischer Musik in klar abgrenzbaren Kategorien zu sprechen, hatte ich mich sicher bereits oft genug ausgelassen, das würde hier den Rahmen sprengen. Vielleicht liegt auch keine Wahnsinnserkenntnis darin, diesen Bezügen zwischen den beiden (zumindest stilistisch) scheinbar grundverschiedenen Komponisten nachzuspüren, aber für mich war das heute frappierend, gewissermaßen vom privaten Ringen bei Brahms zum Weltringen bei Mahler.

10. Dezember 2018

Zyklus D „Große Stimmen“ – Cecilia Bartoli.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 1, Platz 1


Antonio Vivaldi:

Allegro / erster Satz aus „La Primavera“ op. 8 Nr. 1 RV 269
Quell’augelin / Arie der Silvia aus „La Silvia“ RV 734
Non ti lusinghi la crudeltade / Arie des Lucio aus „Tito Manlio“ RV 738
Gelosia, tu già rendi/ Arie des Caio aus „Ottone in villa“ RV 729
Allegro / dritter Satz aus „La Primavera“ op. 8 Nr. 1 RV 269
Vedrò con mio diletto / Arie des Anastasio aus „Il Giustino“ RV 717
Allegro non molto / erster Satz aus „L’Estate“ op. 8 Nr. 2 RV 315
Sol da te mio dolce amore/ Arie des Ruggiero aus „Orlando furioso“ RV 728
Adagio und Presto / zweiter und dritter Satz aus
„L’Estate“ op. 8 Nr. 2 RV 315
Se lento ancora il fulmine/ Arie der Zanaida aus „Argippo“ RV 697

(Pause)

Zeffiretti che sussurrate / Arie der Ippolita aus
„Ercole su’l Termodonte“ RV 710
Allegro /erster Satz aus „L’Autunno“ op. 8 Nr. 3 RV 293
Ah fügte rapido / Arie des Astolfo aus „Orlando furioso“ RV 728
Allegro / dritter Satz aus „L’Autunno“ op. 8 Nr. 3 RV 293
Gelido in ogni vena/ Arie des Farnace aus „Farnace“ RV 711
Allegro non molto / erster Satz aus „L’Inverno“ op. 8 Nr. 4 RV 297
Se mai senti spirarti sul volto / Arie des Cesare aus
„Catone in Utica“ RV 705
Largo und Allegro / zweiter und dritter Satz aus
„L’Inverno“ op. 8 Nr. 4 RV 297

Zugaben:
Georg Friedrich Händel – Mi deride ... Desterò /
Rezitativ und Arie der Melissa aus »Amadigi di Gaula« HWV 11
Wolfgang Amadeus Mozart – Voi che sapete che cosa è amor / Sagt,
holde Frauen / Arie des Cherubino aus »Le nozze di Figaro« KV 492
Ernesto de Curtis – Non ti scorda di me
Agostino Steffani – A facile vittoria

(Les Musiciens du Prince-Monaco, Gianluca Capuano – Dirigent, Andrés Gabetta – Violine, Cecilia Bartoli – Mezzosopran)



Bartolis Stimme absolut rund, nie keifig, selbst in der heftigsten „Aggression“ nicht. Die Koloraturen fließen (obwohl ich diese Musik weiterhin nicht besonders mag). Auch nicht das übliche Ältliche wie bei manchen Mezzos. Eindeutig DiDonato überlegen, viel feiner, perfekt nuanciert. Mit den anderen Solisten bin ich nicht so zufrieden, ob Holz oder Violinist hapert es hier und da doch mit der Intonation – oder sind das historische Instrumentenaltlasten?

Respekt vor der Dramaturgie des Programms, nahtlose Übergänge auch zu den Instrumentalstücken, Flöte und Oboe als Gesangspartner, Einstieg in die jeweiligen Arien. Die Jahreszeiten als Rückgrat ebenfalls clever gewählt, weil es so immer wieder bekannte Oasen gibt. Die Arien sind – so schön sie sein mögen – doch Spezi-Kost. Und die „Show“ ist ganz ohne Mätzchen packend, ein knackiges Dirigat und eine mal energische, mal berührende Sängerin, mehr braucht es nicht. Auch hier kann manche „Diva“ noch lernen.

Lustiger Stimmungswandel beim Pärchen neben mir: Von „Vivaldi – oh, wie schön!“ bis nervöses Sitzgerutsche und gelangweiltes Händchenhaltsuchen in weniger als einer Stunde. Eumel bleiben eben Eumel, vom Zappelphillip-Opa schräg rechts hinter mir ganz zu schweigen. Schade, da die Konzentration im Saal sonst nahezu vorbildlich ist, kein Vergleich zu Levit (Link).

Was DiDonato mit Pathos versucht, macht die Bartoli mit Herz. Die Dame ist ultrabeliebt beim Volk. Zurecht, was für ein Talent. schade, dass sie das falsche Repertoire besetzt :) Aber im Ernst, sehr interessanter Ansatz: einerseits ein Raritätenprogramm, gehaltvoll, ernst, und dann diese vier Zugaben:

1. Koloraturwettstreit zwischen Oboe, Trompete und Bartoli, 2. etwas Schlichtes (gemein gesagt Seichtes), was alle kannten – Rossini? (ne, war Mozart) 3. eine Kanzone? Schmalz triumphiert! 4. Arie und Duell Trompete/Bartoli inklusive Gershwin-Einschub (Jazztrompete/ Summertime). Und dann die Nummer mit der Glitzer-Weihnachtsmütze ... sowas kommt an. Die Leute ticken aus.

Also die meisten. Wenn Deine Loge nach der dritten Zugabe bis auf Dich selbst leer ist, weißt Du, wie sehr deine Umsitzenden Musik lieben ... Egal, was zählt, sind diese beiden Hammerarien nach der Pause. Diese Innigkeit, Zartheit, Pianissimo. Und bei der zweiten die Verwandtschaft zum Winter ... und dann der Übergang zum wirklichen Winter – genial. Gabetta durchaus krass virtuos, nur die Sache mit der Intonation bleibt seltsam.

Sollte Schule machen: Eumel-Klatschen durch die nahtlose Stringenz des Programms (fast) unmöglich. Auch keine zig „Vorhänge“, Frau Bartoli lässt sich nicht lang bitten – Zack, kommen die Zugaben.

Fazit: Selten hat mich ein Konzert mit Musik, die mich nicht wirklich interessiert, derart begeistert.

6. Dezember 2018

Klavierabend – Igor Levit.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 8, Reihe 2, Platz 6


Johannes Brahms – Ciaconna aus der Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 
von Johann Sebastian Bach
Ferruccio Busoni – Fantasia nach J.S. Bach BV 253
Robert Schumann – Geistervariationen Es-Dur WoO 24

(Pause)

Franz Liszt – Feierlicher Marsch zum heiligen Gral aus »Parsifal« 

(Wagner) S 450
Ferruccio Busoni – Fantasie und Fuge über den Choral
»Ad nos, ad salutarem undam« S 259 von Franz Liszt (Meyerbeer)

Zugabe: Schumann?



Die ebenso verblüffende wie traurige Erkenntnis des Abends: Das Publikum in der Laeiszhalle ist (mittlerweile?) ebenso von ignorantem Pack durchsetzt wie die dafür oft von mir gescholtene Kundschaft der Elbphilharmonie. Wow, damit hätte ich wirklich nicht gerechnet – die mieseste Atmosphäre, die ich seit langem in einem Konzert, selbst und vor allem auch Soloabend, zu erleiden hatte. Die ganze Klaviatur (!) der Asozialitäten und Unmusikalismen in geballter, komprimierter Form bereits bis zur Halbzeit weidlich ausgereizt. Huster im Sekundentakt, ach was, regelrechte pulmologische Exzesse, vom verendenden Röcheln bis zur schleimgeballten Eruption, ein vollendet durchgehaltener Klingelton, später ein weiteres pianissimo-zerschneidendes Handy-Signal, diverses Lehnengeballer und strategisch günstigst platziertes Gedönsfallenlassen, abgerundet durch alle Feinheiten der nervösen Zappelphillipperei in besonders ruhigen Momenten – all dies machten den von Dante sträflich ausgelassenen Kreis der Hölle durch akustische Folter perfekt, der dummerweise von der uneingeschränkt beeindruckenden pianistischen Leistung untermalt wurde, die ich mir nach München (Link) von Igor Levit erhofft hatte.

Jener hatte eine Werkauswahl im Gepäck, welche ich mir in ihrer programmatischen Wucht nicht beeindruckender hätte erträumen können. Gerade für mich als Opern-Freak im Allgemeinen und Busoni-Fan im Besonderen war diese Zusammenstellung ein Geschenk, bzw. hätte es werden können, wenn, ja wenn ... Umso frustrierender, da der Vortrag des Russen an diesem Abend kaum zu toppen sein dürfte. Und welch eine Leistung, in diesem Banausenmoloch als Solist alles mit stoischer Ruhe über sich ergehen zu lassen – sieht man von Levits fassungslosem Kopfschütteln ab, als ein weiteres Handy das Verklingen eines Werkes jäh durchschnitt. Was könnte man heute nicht alles über pianistische Feinheiten fabulieren, über die überlegene Technik und Ausdruckskraft Levits ins Schwärmen geraten, doch leider ist mir heute ganz und gar nicht zum Schwärmen, denn zum Kotzen zumute. Dieses Publikum ist wirklich eine Schande für Hamburgs Kulturszene.

These: Die Elbphilharmonie bringt mehr Menschen in klassische Konzerte, auch in die Laeiszhalle, aber leider die falschen. Das hat gar nichts mit „Erfahrung“ oder „Überforderung“ zu tun – auch wenn ich noch nie im Sternerestaurant gespeist hab, komme ich als an die Gebräuche der allgemeinen Koexistenz herangeführter Mensch nicht auf die Idee, die Füße auf den Tisch zu legen. Wer sich beim Klavierabend nicht ruhig zu verhalten weiß, ist nicht weniger asozial und gehört je nach „Leiden“ entweder ins Lungensanatorium, die Nervenheilanstalt oder gleich zum Silbereisen. Immer wieder verblüffend: beim virtuosen Flügelgedonner des Liszt/Busoni/Meyerbeer-Finales wird seltsamerweise nicht mehr gehustet – da ist dem Künstler dann die Aufmerksamkeit selbst des letzten Akustik-Analphabeten gewiß.

Es war aber auch alles am Start. Eines der Highlights war zweifellos ein alter Klassiker: der Bonbonauswickler in Zeitlupe. Durchaus mit inhaltlichen Bezügen zur dadurch geschändeten Parsifal-Weihfestspiel-Verzückung – zum Raum wurde hier die Zeit, wenn auch ein grundweg hässlich eingerichteter. Ansonsten wie gesagt das Hauptproblem des Abends eine akustische Dichtung in der Nachfolge Liszts, frei nach Strauss: Tod und Verwesung. Allerdings fast noch schlimmer als jene Hustinettenbären sind die, die sich darüber hörbar echauffieren (um dann selbst sein Programmheft lautstark fallen zu lassen und nach ihm rumzusuchen), oder der verhinderte Kulturattaché hinter mir, der zwar um das Privileg weiß, in einer Probe einen leeren und somit stillen Saal genießen zu dürfen, trotzdem selbst aber die dummen Husterer als seines Zeichens dümmste Sau im Stall gut hörbar kommentiert.

Ab einem gewissen Zeitpunkt – man hat erkannt, das es zwecklos ist, dem musikalischen Fortgang konzentriert Folge leisten zu wollen – nimmt man verbittert aber leise (!) ganz neue Möglichkeiten der Instrumentation wahr. Das Handyfernorchester beispielsweise. An Mahlers Wirken ohrenscheinlich angelegt, funktioniert es doch gewissermaßen umgedreht: erst laut im Saal, dann ein einzelner trockener Schicksals-Hammerschlag der Sitzlehne, dann langsam beim Raustraben aus dem Saal verlöschend, nach dem Zufallen der Türe noch eine Weile von draußen zu vernehmen, jetzt leise, aber durchaus noch prägnant – ein Ton gewordenes Symbol für die Erinnerung an die gute alte (respektvolle) Zeit, die es so wahrscheinlich doch nie gab.

Einschub Funkuhren: Welcher Musikliebhaber kann eine Funkuhr besitzen, also so ein Ding, welches zu jeder vollen Stunde das Signal einer weiteren (überstandenen?) Stunde von sich gibt. Ich werde es wohl nicht mehr verstehen.

Wahrscheinlich sind das ganz wichtige Menschen, die immer und überall über alles informiert sein müssen, zur Not auch per Piepton. Überhaupt gehen scheinbar nur ganz wichtige Menschen ins Konzert, zumindest sind es solche, die ihre eigene Existenz klar über jene der anderen Beteiligten stellen. Wie der Herr, der in seinem Hustenanfall zumindest anstandshalber (aber natürlich doch ohne Anstand – knallende Lehne muss sein!) den Saal verlässt. Jedoch wenig später, die Loge in gleißendes Licht hüllend, selbige wieder betritt, erst hinten stehend, um dann schließlich doch bei laufendem Konzert seinen Platz an der Sonne in der ersten Reihe wieder einzunehmen, den er mit seiner Störung mehr als verwirkt hat. Das Ego der Leute. Ich, ich ich. Das gleiche Bild nach dem Konzert an der Garderobe: (Hauptsächlich alte) Menschen ohne Benehmen, die zur Mantelausgabe drängeln, als ginge gleich der letzte Zug ins Paradies. „Lassen Sie mich durch, ich bin Ar ... mleuchter!“

Dabei hätten diese armseligen Kulturtouristen doch ganz ergriffen oder beseelt nach Hause schweben müssen, wenn sie ein aufnahmefähiges Herz dafür besäßen, was Herr Levit da heute für sie veranstaltet hat. Für mich war der Abend – trotz der katastrophalen Umstände – nichts weniger als eine Wiedererstehung des Virtuosenkonzerts, vielleicht im Geiste Liszts – die Faszination des Virtuosen, bei der es aber um mehr geht als Technik und Artistik am Flügel – die Architektur der Überwältigung, durchaus mit dem Element der physischen Einwirkung und Berauschung, im Lauten wie im Leisen, im Schnellen wie im Langsamen, im Klingenden wie im Unhörbaren. Bestimmte einzelne Momente, das Wissen um die Möglichkeit dieser Intensität, trösten ein wenig darüber hinweg, ihre vollständige Einlösung heute nicht erfahren zu haben.

25. November 2018

Götterdämmerung – Axel Kober.
Opernhaus Düsseldorf.

17:00 Uhr, Orchestersitz links, Reihe 5, Platz 153



Gutrune als Fixerbraut, Gunther als Edel-Alki und dann lässt sich Siegfried am Gibichungenhof auch noch ganz ohne Amnesie-Drink den doch ach so in ewiger Minne zu Brünnhilde entflammten Kopf verdrehen – das sind natürlich für den geneigten Erz-Wagnerianer unhaltbare Zustände, Sakrilegien am heiligen Hort Richard’schen Kulturgutes.

Ein einzelnes, schwachbrüstig-empörtes „Buh“ als Lautmeldung zu Gutrunes Griff zum Heroinbesteck zeugte von dieser Geisteshaltung eines eher überschaubaren Auseinandersetzungswillens mit den angeblich so heiß geliebten und verinnerlichten Klassikern. In mir lässt jenes irritierende Geräusch eher eine Mischung aus Mitleid und Fassungslosigkeit aufkommen und ist akustische Bestätigung dessen, dass Dietrich Hilsdorf und sein Team mit dieser Götterdämmerung, wie schon in den vorangehenden Teilen der Tetralogie, einiges richtig gemacht haben, mehr noch, auch inszenatorisch einen Ring zu schmieden wussten, der Wagners Riesenwerk ins Mark durchleuchtet und für mich persönlich spätestens mit diesem Schlussstein Referenzcharakter erreicht hat.

Es ist doch nicht so schwer: Gutrune ist halt verzweifelt am Hofe ihres Schwächling-Bruders – hier als Säufer dargestellt – und will folgerichtig bei ihrem ersten Auftritt gleich wieder abtreten und sich wie Rose in Titanic über die Heckreiling des Rheindampfers stürzen, der die Gibichungenhalle gibt. Überhaupt inszeniert Hilsdorf den Rhein gleich als Wink an die Oper am Rhein mit, inklusive Düsseldorfer Brücke (und Duisburg-Panorama?) Die Nornen am Rhein, oder: draußen nur Kännchen. Mit dem Kellner wird sich der Kreis bzw. Ring am Ende schließen.

Doch bis dahin gibt es noch eine Menge zu reflektieren. So erliegt Siegfried nicht dem Trank, sondern schlicht seinen Trieben. Das ergibt insofern Sinn, wenn man sich den Text später in der Rheintöchterszene einmal auf der Zunge zergehen lässt – Fremdgehen scheint auch hier kein Problem für den jungen Tunichtgut. Für Sex mit den Nixen hätte er den Ring bereitwillig abgegeben, erst ihre Warnungen und vor allem Drohungen entfachen seinen Trotz und besiegeln sein Schicksal. Sehr gut inszeniert und gespielt auch, wie Siegfried zu Beginn Gutrune gebannt folgt, die sich ihm verführerisch im Führerhaus entzieht, bis sie schließlich den Vorhang vielsagend zuzieht.

Und es kommt noch dicker für den hehrsten Helden. Kein Umkehrtrank, sondern schlicht Alkohol lässt Siegfried auf der Jagd wieder die Wahrheit sagen. Die Idee, dass Tränke bei Wagner eventuell nur als Bild oder Vehikel fungieren, ist vielleicht nicht neu (Vgl. den Liebestrank in Tristan und Isolde: Nur ein Depp merkt nicht, dass da schon vorher was ging), aber in dieser an tragischer Komik oder komischen Tragik kaum zu steinernen Szene bissig und böse umgesetzt.

Aber wer kommt schon gut weg in dieser Oper, Pardon, Bühnenfestspiel. Heute teilweise gar Bühnenkarneval. Und Karneval ist bekanntlich mitunter eine brutale Angelegenheit, fragen sie mal die Soldaten, die als Zeugen bei Siegfrieds Bier-Beichte dabei waren. Oder Alberich. Selbst sieht er sich als Einflüsterer Hagens und erliegt damit dem gleichen Marionettentrugschluss wie sein Erzfeind Wotan: „Für mich gewinn ich den Ring ...“ tönt der besäuselte Spross nach Vatis Abgang, oh weh.

Unter Siegfrieds Trauermarsch wird schließlich jedes Deutschland als Flagge zu Grabe getragen, doch die letzte ist noch ein unbeschriebenes Blatt. Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit? Hilsdorf zieht mit dieser Götterdämmerung alle Register, am Ende schießt er mit den Botho-Strauß-Zeilen vielleicht eine Spur über das Ziel hinaus. Nicht inhaltlich, sondern die Aufnahmefähigkeit selbst gewillter Zuschauer wie mich betreffend.

Der rheinische Ring bleibt sich übrigens bis in Details der Ausstattung treu. Auch heute umrahmt die Bühne wieder die der an Varieté erinnernde Stuckrahmen mit Glühlampenreihen – bei der grünen Fee leuchtet er entsprechend gefärbt oder simuliert mit zwei Birnen, grün und rot, eine Rhein-Schleuse. Alles fließt. Nicht zuletzt die Musik.

Axel Kober und das delikate Dirigat. Bei Steigerungen mitunter sehr schnell, gar ungewohnt (vgl. das Rheinfahrt-Geschmetter oder die Hagen-Chorstellen), aber immer organisch und fesselnd. Dazu ein Top-Ensemble, aus dem ich nach vier fantastischen Abenden wirklich niemanden mehr hervorheben möchte. Auch wenn dies, so grüble ich, wohl mein erster Komplett-Ring war, so habe ich doch bereits genug Ring-Segmenten beigewohnt um klar sagen zu können, dass der Deutschen Oper am Rhein sowie insbesondere Herrn Hilsdorf und seinem Team etwas ganz Besonderes gelungen ist, an dem sich künftige Eindrücke werden messen lassen müssen. Vielen Dank für diese Reise.


Götterdämmerung
Dritter Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“
Musik und Text – Richard Wagner

Musikalische Leitung – Axel Kober
Inszenierung –Dietrich W. Hilsdorf
Bühne – Dieter Richter
Kostüme – Renate Schmitzer
Licht – Volker Weinhart
Chor –Gerhard Michalski
Mitarbeit Regie – Ilaria Lanzino, Dorian Dreher
Dramaturgie –Bernhard F. Loges, Anna Grundmeier

Siegfried – Michael Weinius
Gunther – Bogdan Baciu
Alberich – Michael Kraus
Hagen – Hans-Peter König
Brünnhilde – Linda Watson
Gutrune – Sylvia Hamvasi
Walraute – Katarzyna Kuncio
1. Norn – Susan Maclean
2. Norn – Sarah Ferede
3. Norn – Morenike Fadayomi
Woglinde – Anke Krabbe
Wellgunde – Kimberly Boettger-Soller
Floßhilde – Ramona Zaharia
Mannen – Bo-Hyeon Mun, Domg-In Choi, Volker Philippi

Chor und Extrachor der Deutschen Oper am Rhein
Statisterie der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker

16. November 2018

Swedish Radio Symphony Orchestra – Daniel Harding.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2



Allan Pettersson – Symphonic Movement 
Robert Schumann – Konzert für Violine und Orchester d-Moll WoO 23
(Alina Ibragimova)

(Pause)

Hector Berlioz – Roméo et Juliette / Symphonie dramatique op. 17 (Auszüge)



Allan Petterssons symphonischer Satz ist ein spannender „Widerspruch“ – von der Konzeption ist das Werk sehr konventionell angelegt, mit einer Folge mehrerer, sich klar voneinander abtrennender Abschnitte unterschiedlicher Tempi und Ausdruckscharaktere und erinnert darin z.B. an eine „klassische“ sinfonische Dichtung spätromantischer Prägung. Auch das verwendete Instrumentarium und die Klangfarben könnten dieser Epoche entsprungen sein, jedoch haben die darin angewandte Melodik und Harmonik nun wirklich nichts mit einer Stilkopie gemein. Ich weiß nicht genau, wie ich es besser beschreiben soll, aber die Melodielinien erinnern latent an vertraute, tonale Motive und Themen, ohne dabei jedoch wirklich fasslich, geschweige den eingängig zu sein. Auch die Harmonik ist keineswegs durchgängig atonal, schrammt immer wieder am Erwarteten vorbei (wobei keinesfalls Zitate oder konkrete Anklänge gemeint sind) und ist mit einer Fülle an Dissonanzen durchsetzt, ohne dabei genuin fremd zu wirken – ein bemerkenswerter Spagat, der Pettersson da gelingt.

Robert Schumann findet in meinem musikalischen Kosmos ja nicht wirklich statt. Seine Klaviermusik mag auch für Banausen wie mich ihren Reiz haben, wovon ich mich beispielsweise durch Grigory Sokolovs Fürsprache (Link) überzeugen konnte, aber ich beschäftige mich generell nicht so häufig mit Solo-Klavierliteratur. Seine Sinfonik wiederum gibt mir als Verehrer Beethovens, Berlioz’, Bruckner, Mahlers oder Schostakowitschs zu wenig interessante Impulse, die Partituren wirken auf mich immer irgendwie zu sauber – ein Umstand, den sie für mich mit Mendelssohns Werken teilen. Ich kann dem „klassischen“ Ansatz durchaus etwas abgewinnen und liebe als Wagnerianer auch Brahms, aber die Evolutionsstufe Schumann spare ich weitgehend aus. Das Violinkonzert aus seiner Feder, wie ich dem Programmheft entnehme ein Spätwerk und von Freunden und Zeitgenossen eher verhalten aufgenommen, trägt da doch einiges zur Ehrenrettung bei.

Gerade der ausladende Kopfsatz birgt einiges an dräuender Dramatik, wie ich sie mag, wenngleich das lyrische Seitenthema wieder schwächerer Natur ist. Letztlich trifft mein – sicher unfaires – Schumann-Urteil auch auf diese Komposition zu: Am liebsten ist er mir, wenn er die Stirn in Falten legt, er ist berührend, wenn er träumt, aber leider nie wirklich überzeugend, wenn er jubelt, triumphieren möchte. So lässt sich kaum ein intimerer, versonnenerer Satz als der zweite denken – sicher unterstützt durch das phänomenal zarte Spiel Alina Ibragimovas und Hardings extremen Ausloten der Pianissimo-Tauglichkeit des Saales – das unmittelbar daran anschließende Finale beinhaltet wieder diese Art beschaulichen Jubel, wie er mir zutiefst zuwider ist. Bizarrer Weise klingt das eine prägnante Thema, oftmals keck von den Holzbläsern intoniert, wie eine biedere Vorwegname der Jung-Siegfried-Welt. Heissa, jetzt wird aber gar zünftig Kehraus betrieben ...

Da muss Schumanns Zeitgenosse Berlioz nun wirklich wie von einem anderen Stern wirken. Diese konzeptionelle Kühnheit, diese raffinierte Instrumentation – es ist mir wieder einmal sonnenklar, warum ich süchtig nach den Kompositionen des französischen Ton-Revolutionärs bin. Auch ohne seine Chorepisoden gelingt es der Shakespeare-Sinfonie mit ihren rein orchestralen Teilen die Elbphilharmonie in einen wahren Tempel des Klangrauschs zu verwandeln. Was ich besonders an Berlioz schätze: Er lässt sich Zeit. Die langsam Form und Raum gewinnenden Entwicklungen und Steigerungen, die nicht enden wollende Liebesmusik (die ein weiteres Mal in Berlioz’ Oeuvre Tristan-Assoziationen weckt), in jeder nur denkbaren Gestalt ihres Themas die emotionale Achterbahnfahrt des Paars illustrierend, oder das stufenweise Vordringen in jedesmal noch verwunschenere Traumsphären im Mab-Scherzo – ich liebe Berlioz für seine Kunst und Fähigkeiten ebenso wie für seine Umsicht und Geduld, diese in allen erdenklichen Facetten auszukosten.

Das Schwedische Radio-Sinfonieorchester macht unter Harding einen bärenstarken Eindruck, einzig manche Hornpassagen (unter anderem ein prägnantes Solo), blieben hinter dem ansonsten phänomenalen Klangeindruck zurück. Streicher, Holzbläser, Blech – alles von erster Güte. Dazu Hardings Dirigat, das – wie so oft bei jenen Dirigenten, welche die Akustik der Elbphilharmonie verinnerlicht haben – vor allem mit dynamischen Kontrasten arbeitet und namentlich die leisesten Töne zur Gänsehautgewinnung nutzt. Leider keine Zugabe dieser begnadeten Kombination.

14. November 2018

Trio Batiashvili, G. Capuçon & Thibaudet.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 4, Platz 8



Dmitri Schostakowitsch – Klaviertrio Nr. 1 c-Moll op. 8 
Maurice Ravel – Klaviertrio a-Moll

(Pause)

Felix Mendelssohn Bartholdy – Klaviertrio Nr. 2 c-Moll op. 66

Zugaben:
Piotr Iljitsch Tschaikowsky – Nur wer die Sehnsucht kennt op. 6/6 / Sechs Romanzen
Dmitri Schostakowitsch – Scherzo aus Klaviertrio Nr. 2 e-Moll op. 67

(Lisa Batiashvili – Violine, Gautier Capuçon – Violoncello, Jean-Yves Thibaudet – Klavier)



Das Trio des 17jährigen Schostakowitsch ist ein inniges Werk in vertrautem Idiom, aber doch noch weit von den Tiefen und Finessen entfernt, für die ich ihn so vergöttere. Verglichen damit zeugt die Komposition Ravels fraglos von mehr Reife: Ein Traum in Noten und Ausführung, insbesondere der dritte und vierte Satz. Der zweite ist wohl der bekannteste daraus? Der ruhige dritte hat es mir natürlich besonders angetan – Passacaglia funktioniert bei mir immer – zumal, wenn sie so unglaublich intim vorgetragen wird. Das Finale mit seinen krassen Harmonieschüben lässt ferner staunen darüber, wieviel Klangfarben, wieviel feinzieselierter Rausch mit nur drei Instrumenten geschaffen werden kann.

Die drei Solisten machen ihre Sache perfekt, nur ist mein Platz fast schon zu nah – das Piano geht zum Teil etwas unter, steht den Streichern auf die geringe Distanz dahinter positioniert an Brillanz nach. Das Hauptproblem ist jedoch wie so oft ein anderes: Das Programm ist zu subtil für das Publikum. Man ist zwar halbwegs ruhig, aber das reicht bei solch delikater Musik eben nicht. Huster, Raschler und dergleichen, frei übersetzt also wieder mal Banausentum, Unmusikalität. Ein Taschentuch in Zeitlupe aus der Folie zu ziehen, während man gerade Zeuge der denkbar fragilsten Pianissimo-Verzückung wird, kann nur einer gänzlich unsensiblen Person einfallen. Eigentlich möchte ich in der Pause gehen, aber der Respekt vor den Künstlern verbietet es.

So nehme ich doch noch den Mendelssohn mit, den ich mir fast sparen wollte: eigentlich ein perfektes Trio, wenn mir doch nur seine Sprache etwas sagen würde. Ich bin begeistert von der Konzeption, aber angeödet von seiner Melodik und Harmonik. Wie progressiv war da dagegen schon ein Beethoven, vom Zeitgenossen Berlioz ganz zu schweigen. Trotzdem toll: Der ganze Aufbau der vier Sätze, das flinke Scherzo mit derbem Trioteil, das Finale mit innerem Drama zwischen Drängen und erlösendem Choral (schön leise im Klavier eingeführt). Hätte nur halt ein Brahms oder Dvorak kompositorisch mit Leben füllen müssen.

Bei den Zugaben verfolgt man den Ansatz der Kontraste im Ausdruck. Auf den ruhigen, spätromantisch-kantablen Tschaikowsky folgt das gallige Schostakowitsch-Scherzo aus seinem zweiten Klaviertrio. Sehr, sehr geil, um mein Grinsen über beide Ohren einmal etwas flapsig zu übersetzen. Das war das Warten wert, schön giftig, dabei knackig gespielt – besser geht es nicht. Schade, dass es von dieser Künstler-Troika (noch?) keine Einspielungen gibt.

12. November 2018

Kremerata Baltica / Iveta Apkalna.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Pēteris Vasks – Voices (Stimmen) / Sinfonie für Streichorchester 
Johann Sebastian Bach – Konzert für Cembalo und Streichorchester d-Moll BWV 1052 / Fassung für Orgel

(Pause)

Lepo Sumera – Symphōnē für Streichorchester und Schlagwerk
Johann Sebastian Bach – Chaconne aus Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 / Bearbeitung für Streichorchester von Gidon Kremer auf Basis von Ferruccio Busoni
Ēriks Ešenvalds – Okeāna balss (Stimme des Ozeans) / Konzert für Orgel, Streicher und Schlagwerk

Zugaben:
Aivars Kalējs – Toccata über den Choral »Allein Gott in der Höh' sei Ehr«
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis – Prelude d-Moll op. 16/3 / Bearbeitung für Streichorchester

(Kremerata Baltica, Iveta Apkalna – Orgel)



Das nenne ich mal eine Einführung – Thomas Cornelius stellt das Arbeitsgerät von Frau Apkalna vor, in Worten und in Tönen. Die Funktionsweise einer Orgel im Allgemeinen und dieses ganz speziellen Instruments im Besonderen (Wer hätte z.B. vermutet, dass sich auch Pfeifen oberhalb des imposanten Schallreflektors unter der Saaldecke befinden), der Einsatz seiner Register und die daraus resultierenden mannigfaltigen Klangkombinationen in Farbe und Dynamik, all das erklärt der sympathische Herr ebenso verständlich wie kurzweilig und greift dazu ein ums andere mal veranschaulichend in die Tasten. Die registerweise Crescendo-Demonstration als Abschluss war der erste Gänsehautmoment dieses noch jungen Abends.

Weit weniger erbaulich, eher mit der unterschwelligen Tendenz zum Fremdschämen, geriet der sicher als besonderen Zuhörerservice gedachte Auftritt Gidon Kremers im Anschluss daran. Irgendwo zwischen unpassend süffisant und latent bockig gelang es Kremer, jegliche Interviewbemühungen Cornelius’ im Keim zu ersticken und stattdessen Konzertorgeln pauschal zu dissen und ungelenk über die Vorzüge der Orgel im Rigaer Dom zu fabulieren. Erhellendes über die Kamerata, geschweige denn die Komponisten des Abends – Fehlanzeige. Stattdessen ein bisschen fishing for compliments bezüglich seiner eigenen Bachbearbeitung à la: „ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist ...“ – ums vorwegzunehmen: Nein, Gidon, leider nein. Zumindest hatte er den Anstand einzugestehen, dass Busoni mit seiner Pianofassung als Inspiration diente und er bei der Niederschrift Hilfe in Anspruch nahm. Aber ich kann mir nicht helfen, einen souveränen Eindruck, der seinem Nimbus als Virtuose von Weltgeltung auf zwischenmenschlicher Ebene zur Ehre gereicht hätte, konnte Kremer als Gesprächspartner des darin nicht zu beneidenden Cornelius nicht vermitteln. Schade.

Vasks: welch positive Überraschung! Erst kürzlich unterhielt ich mich darüber, ob heute noch tonal komponiert wird – und wie! Die Streichersinfonie ist eine wirkliche Entdeckung. Eine Klangsprache, die in ihrer tonalen Expressivität an Schostakowitsch erinnert, ohne ihn zu kopieren. Ein Werden und Vergehen, dynamische Steigerungen, eine Reise bis zu den Randbereichen der Harmonik, durchaus mal dissonant, und doch oder gerade deshalb entsteht in all der Reibung und Dramatik eine Welt der Melodik, die sich für die platte Klassifizierung „wunderschön“ nicht zu schämen braucht. Bisschen Pärt-Feeling hier und da, aber insgesamt gesehen für mich deutlich spannender als die oftmals so schlichten Kontemplationen des bekannteren estnischen Kollegen. Muss ich unbedingt noch mal reinhören. Die Kremerata zudem mit dem perfekten Streicherklang – der sich in dieser Akustik optimal entfalten konnte.

Bach: Orgel statt Cembalo kann man machen, generell finde ich das allzu gut bekannte Stück – zumindest heute – nicht so anregend. Apkalna in letzter Konsequenz nicht mit meiner Vorstellung von Geläufigkeit, wie sie Top-Pianisten besitzen, kann aber auch am Orgel-Zugang generell, an der anderen Technik liegen.

Sumera: Das zweite Highlight des Abends. Rhythmische Rückungen wechseln mit irisierend Verwunschenem. Sowohl von den Klängen als auch harmonisch fesselnd, gleich ab dem ersten Eindruck sehr vielversprechend.

Bach-Bearbeitung (Chaconne): Lieber Gidon, Du hast es selber angesprochen, vielleicht ist Deine Übertragung nichts – und so ist es leider auch. Das Busoni-Intro vom Band und ein kurzer Violinsolo-Einspieler bestätigen, dass das Werk halt nur als Solostück funktioniert. Mit der Aufteilung des Materials geht ein enormer Spannungsverlust einher, die Komposition wirkt in dieser Gestalt seltsam gefällig – harmlos, formlos, zahnlos. Ganz klares Nein.

Ešenvalds: Ganz schwach. Bach-Zitat-Beginn, dann Poulenc für Arme. Zweiter Satz melodisch öde (Solovioline), Streicherbegleitung vorhersehbar und harmonisch belanglos. Generell: schlecht kopierte Filmmusik – und ich liebe Filmmusik. Finale mit Eumelharmonien, möchtegernprogressiv. Kitsch. Schwer unterfordernd und schwer zu ertragen.

Die beiden Zugaben: Mit meiner Sozialisation als braver Kirchgänger ist mir das Thema der Kalējs-Toccata natürlich wohl bekannt. Da möchte man gleich das Gesangbuch herausholen und mit einstimmen. Besser nicht, so lausche ich unbehelligt von Auslassungen aus schiefer Kehle der beeindruckenden Verarbeitung, mit atemberaubender Sicherheit und zwingender Gestaltungskonzeption von Frau Apkalna ein Triumph der Elphi-Orgel und eingelöstes Versprechen der Einführung. Das abschließende Präludium komplettiert den Reigen baltischer Komponisten um den noch fehlenden litauischen Vertreter. Čiurlionis’ Werk bleibt zudem dem heutigen heimlichen roten Faden der Bearbeitungen treu, indem es, ursprünglich für Orgel gesetzt, nun in einer Fassung für Streichorchester erklingt – für mich die gelungenste Transformation des Programms.

10. November 2018

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks –
Manfred Honeck. Gasteig München.

19:00 Uhr, Block Q, Reihe 5, Sitz 25



Ludwig van Beethoven – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 
G-Dur, op. 58 (Igor Levit)
Zugabe des Solisten: Beethoven? Variationssatz?

(Pause)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 1 D-Dur



Der Gasteig und ich werden wohl keine Freunde mehr werden. Nachdem sich heute abermals die akustischen Defizite des (viel zu) großen Saales bemerkbar machten und darüber hinaus von einer äußerst befremdlichen Attitüde des Personals akkompagniert wurden, welche irgendwo zwischen überfordert, argwöhnisch belehrend oder schlichtweg ungastfreundlich anzusiedeln war, bin ich doch mehr als froh, dieses herrliche Orchester in schöner Regelmäßigkeit in der heimischen Philharmonie-Alternative bewundern zu dürfen. Vielleicht bringt ein Sitz mit weniger Outsorcing-Feeling, irgendwo auf halbem Wege zwischen Bühne und dem Hang, der noch nicht einmal das Ende der platztechnischen Fahnenstange bedeutet, sich aber dennoch meilenweit vom Geschehen anfühlt, eine Verbesserung, aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob sich weitere Experimente in dieser Scheune lohnen und man nicht einfach abwarten sollte, bis sich München ebenfalls zu einem vernünftigen Konzerthaus durchgerungen hat. So bleibt erst einmal die Erinnerung an ein großartiges Konzert unter kleinartigen Bedingungen. Man ist nicht allein zu weit von der Bühne entfernt, als dass ein Fortissimo auch wie ein solches bei einem ankommen könnte, der übertragene Ton ist zudem durchweg stumpf und breiig ohne jede Brillanz, so dass sich gerade Feinheiten lediglich als Ahnung übertragen und eine transparente Wirkung des Orchestergefüges nahezu ausgeschlossen ist. Aber genug der Schelte, selbst diese maue Akustik konnte einer nahezu perfekten Darbietung kaum etwas anhaben.

Nachdem Maestro Jansons seine Teilnahme an diesem und weiteren Konzerten seines Orchesters aus gesundheitlichen Gründen absagen musste, ließen mich Umbesetzung und Programmänderung doch weiterhin auf einen großen Abend hoffen. Der Verzicht auf Mahlers eher selten gespielte Siebte mag im ersten Moment ein kleiner Dämpfer gewesen sein, doch wenn man Mahler ersetzt, dann am besten mit Mahler, und natürlich ist auch Beethoven als Beifang nicht zu verachten. Manfred Honeck genießt seit dem Mahler-Geniestreich mit seinen Pittsburghern in der Laeiszhalle (Link) mein höchstes Vertrauen und vermochte jenes heute auf beeindruckende Art aufzufrischen. Mit Igor Levit konnte ich endlich einmal einen Künstler erleben, von dem ich zwar bereits viel Gutes gehört hatte – ihn selbst jedoch nicht. Die Kombination Honeck/Levit sollte sich dabei als ideal erweisen.

Während der Einspringer vom Pult aus für eine enorm konstrastreiche Lesart des Partitur sorgte und eine flotte Interpretation mit oftmals knackig-scharf konturiertem Ausdruck gestaltete, ergänzte sich dies vortrefflich mit dem überaus zarten Anschlag des jungen Russen – am eindringlichsten im zweiten Satz zu beobachten, in dem die mit größtmöglicher Schroffheit, ja Aggressivität vorgetragenen Eingaben der Streicher vom Solisten auf das Zarteste, Behutsamste beantwortet wurden. Dabei ist Honeck beileibe kein Brutalisnki, wovon beispielhaft die daraufhin einsetzende Beruhigung des Orchesters und viele weitere Passagen intimsten Ausdrucks zeugen, die teilweise den akustischen Rahmen bis an die Grenzen des Hörbaren ausloteten. Bleibt noch die Frage nach der Urheberschaft der vom Solisten gewählten Kadenz des ersten Satzes, welche in ihrem modernen, expressiven Duktus überraschte, gleichzeitig jedoch das Wesen des Beethovenschen Mikromotivik-Baukastens perfekt einfing. Bei der Zugabe stellte Levit noch einmal die Vielseitigkeit seiner Anschlagskultur und Wandlungsfähigkeit im Ausdruck unter Beweis, anstatt das Publikum mit einer typischen Virtuosenblendgranate beeindrucken zu wollen – sehr sympathisch.

Mit Mahlers Ersten blieb Honeck seiner von mir erstmals in Hamburg genossenen Handschrift treu. Auch hier arbeitete er mit starken Kontrasten, vor allem im Ausdruck, aber ebenfalls im Tempo, dass mal rubatoartig changierte und immer wieder vehement anzog, um das vermeintlich Disparate, die oft collagenhaft aufeinanderprallenden Gegensätze konsequent herauszuarbeiten. Dabei kam neben dem Treibenden, unbändig Vitalen ebenso das lyrische Moment nicht zu kurz, welches beispielsweise in der scheu-entrückten Lindenbaum-Passage des dritten Satzes an intimer Verletzlichkeit kaum zu steigern war. Andererseits ist sich Honeck nicht zu schade, das bäuerliche Tanzbein im zweiten Satz aufs Derbste schwingen zu lassen, was wiederum einen wunderbaren Kontrast zum für meine Begriffe durchaus parodistisch aufzufassenden „feinen“ Walzer schuf. Abgesehen davon, dass ich ohnehin jedesmal aufs Neue über die Großartigkeit der Konzeption der Sinfonie als Ganzes und ihres Finales im Besonderen staune, war es wieder eine Wonne, dieses musikalisch wie narrativ so plastisch fassliche Wunderwerk in solch kompromissloser Perfektion erleben zu dürfen. Da spielt es auch keine Rolle, dass z.B. unter der Dauerbelastung im Blech der ein oder andere Ton nicht hundertprozentig saß – das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erweckt Mahler zum Leben, wie er zu klingen hat. Meinen Dank an Manfred Honeck und meine Genesungswünsche an Mariss Jansons.

17. Oktober 2018

St. Petersburger Philharmoniker – Yuri Temirkanov.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich N, Reihe 1, Platz 21



Nikolai Rimski-Korsakow – Tableaux musicaux zu »Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija« 

Sergej Prokofjew – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 g-Moll op. 16
(Yefim Bronfman)

(Pause)

Piotr I. Tschaikowsky – Suite aus »Schwanensee« op. 20 /
Arrangement: Yuri Temirkanov
Zugabe:
Edward Elgar – Salut d'amour op. 12



Nachdem ich dieses vorzügliche Orchester im letzten Jahr in seiner eigenen besten Stube (Link) kennenlernen durfte, gaben sich die St. Petersburger nun in meiner bevorzugten Klangtankstelle die Ehre, noch dazu unter der Stabführung ihres langjährigen Chefs. Herr Temirkanov (oder wie das Lektorat der Eintrittskarte meint „???“...) ist offenbar kein Vertreter radikaler Lesarten, sondern pflegt gerade bezogen auf den Ausdruck einen äußerst runden, vollmundigen Klang – was in diesem Falle keineswegs abfällig gemeint ist. Gepflegte Langeweile geht anders, zumal die ein oder andere kecke Tempoforcierung, namentlich im Schwanensee, durchaus Esprit versprüht. Ich möchte den Stil so beschreiben, dass hier eben eher Klangfeinschmecker als Interpretationsvergleicher auf ihre Kosten kommen.

Und allein dieser weiche, runde, selbst im Fortissimo nie schroffe Klang ist das eigentliche Ereignis. Ob im opulenten Farbrausch Rimski-Korsakows oder in der Vermittlung der expressiven Kühnheiten Prokofjews, hänge ich schwärmend an den Lippen der St. Petersburger. Das Klavierkonzert – brillant getragen von Yefim Bronfman – ist dabei wahrscheinlich die Entdeckung des Abends. Nach den Sonaten von Schostakowitsch und Ives die nächste „Uraufführung“ mit Nachhall. Es ist den Russen nicht hoch genug anzurechnen, dass sie ihre heimatliche Werkschau eben nicht allein mit beliebten Gassenhauern bestreiten, sondern auf die eigene und programmatische Vielfalt setzen.

Angesichts dieser musikalischen Qualität ist das natürlich ein überschaubares Wagnis, das spätestens in den wohlvertrauten Ballettweisen Tschaikowskys seine breitenwirksame Erfüllung findet. Wobei ich deutlich betonen möchte, dass eine solch perfekte Wiedergabe jener im kollektiven Gedächtnis allgegenwärtigen Musik sicher nichts Alltägliches hat. Das Finale mit seiner triumphal-erlösenden Wendung nach Dur erschüttert mich mit jedem Hören aufs Neue. Die Zugabe, der liebliche Liebesgruß Elgars, ist klug gewählt, um diesen vollendeten Abend vollends abzurunden – Harmonie im Hören, Denken und Fühlen.

1. Oktober 2018

Schwerpunkt Charles Ives.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 6, Platz 7



Edgard Varèse – Density 21.5 für Flöte solo 
Dmitri Schostakowitsch – Sonate für Viola und Klavier op. 147

(Pause)

Elliott Carter – Scrivo in vento für Flöte solo
Charles Ives – Sonate Nr. 2 „Concord, Mass., 1840-1860“
(Adam Walker – Flöte, Tabea Zimmermann – Viola, Pierre-Laurent Aimard – Klavier)



Varèse: Eine intime Hommage an ein Instrument, die so akustisch ausgefeilt wohl nur in dieser Halle zu realisieren ist – diese Feinheiten! Perfekt wäre es mit Kartoffelsäcken anstatt des übrigen Publikums ... welche Kontraste – Dynamik und Ausdruck. Herr Walker ist ein absoluter Könner.

Schostakowitsch: Ebenfalls akustisch beeindruckend (Pianissimo, insbesondere der Bratsche, Flageolett erster Satz), aber darüber hinaus eines der berührendsten Werke, die ich je live kennenlernen durfte. Vergleiche mit Mahlers letzten beiden Sinfonien tun sich auf. Der Finalsatz ist ein Wunderwerk der Empfindsamkeit, des Ton gewordenen Abschieds. Wie sich Viola und Piano ergänzen, buchstäblich zusammen situativ neue, doch so vertraute, tröstliche Klangspektren im Zweifel und im Schmerz aufblühen lassen, ist beinahe beispiellos. Ich brauche eine Aufnahme!

Carter: Nochmal krassere Kontraste – Varèse 2.0. Schönster Flötenton aller Zeiten. Ansatzlos zartes Crescendo aus dem Nichts, welchselt mit brutal hart schneidendem Zischen etc. – Flötenspiel auf atomarer Ebene.

Ives: Eine Offenbarung – ich wurde eine Dreiviertelstunde in den Steinway gesogen. Alles, was (nicht nur) moderne Musik leisten soll: stimulieren, faszinieren, transzendieren. Diese Dichte! Erster Satz: Gleichzeitigkeit halbwegs tonaler Einzelteile, ein Wahnsinn, da reinzuhorchen, zu scannen. Unglaublich der Effekt der Violasekunden! Genial als Schatten, der über die Bühne weht (Fachkundiger Kommentar dazu: „schon witzig, dass sie das mit der Geige auch eingebaut haben ...“). Zweiter Satz: diese Steigerungen, Eruptionen, tonale Splitter, der Klang gewordene Duft! Dritter Satz: Diese Schönheit, zauberisch, innig empfunden, entwaffnend – melodiös. Finale: Ton gewordener Humanismus (vgl. Einführung). Die Flötenmelodie als Fenster ins Verständnis, Beethovens Ringen, wenn auch nicht überwunden, aber mit ihm versöhnt, Blick in eine (tonale) Utopie.

Fazit: welch ein Glück, dass die Musik weiterhin solche persönliche Uraufführungen für mich bereit hält – tiefe Dankbarkeit.

10. September 2018

Polish National Radio Symphony Orchestra –
Alexander Liebreich.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Krzysztof Penderecki – Als Jakob erwachte ... 
Ignaz Jan Paderewski – Klavierkonzert a-Moll op. 17
(Szymon Nehring – Klavier)

Zugabe des Solisten:
Ignaz Jan Paderewski – Cracovienne fantastique op. 14 Nr. 6

(Pause)

Andrzej Panufnik – Wiegenlied
Witold Lutosławski – Konzert für Orchester
Zugabe des Orchesters:
Edvard Grieg – Solveigs Lied / Peer Gynt-Suite Nr. 2



Penderecki: „REDRUM“ in der Elphi. Immer wieder spannend, aus welchen Werken Stanley Kubrick sich für seine Meisterwerke bedient hat. Und Hut ab vor der Musikalität, so verschiedene Komponisten wie Bartok, Ligeti oder eben Penderecki zu einem packenden Soundtrack wie „Shining“ zu amalgamieren, ohne dass dabei Geschnetzeltes herauskommt. Aber auch ganz ohne Horror-Kontext weiß Penderecki, wie bereits durch seine Sinfonien bekannt, mit seiner Musik zu faszinieren. Die Klänge, welche zeitweise von der gesamten Holzbläsertruppe auf einer Art Muschelpanflöte hervorgerufen werden, sind da nur ein interessantes akustisches Detail von vielen. Kleine ketzerische Anmerkung am Rande: ob Penderecki wohl jemals ein heiteres Scherzo verfasst hat?

Nachdem der Name relativ häufig in der Musikliteratur fällt, konnte ich heute endlich mal eine Komposition mit dem Namen Paderewski verbinden, den ich allerdings weniger als Komponist denn Solist abgespeichert hatte – Dieses Vor-Urteil bestätigend kommt leider sein Klavierkonzert daher, ein überaus eingängiges Virtuosenkonzert ohne jeden Nachhall. Der Pianist schien mir recht vielversprechend, die Zugabe – ebenfalls aus Paderewskis Feder – weniger. Ungewöhnlich: Der Flügel wurde ohne Schalldeckel betätigt.

Panufniks Wiegenlied war da schon deutlich mehr nach meinem Geschmack. Spannend, welche Reibung sich durch die Kombination des scheinbar atonal irrlichternden Streicherteppichs mit dem ausgesprochen simplen Thema ergibt, das sich wie ein Kinderlied in Endlosschleife durch die Komposition zieht. Eine interessante akustische Verwandschaft zum ebenfalls leicht „schrägen“ Glissandi-Zauber des Sommernachtstraums von Britten tut sich auf.

Beim Konzert für Orchester von Lutoslawski hat mir wieder mal mein Gedächtnis ein Schnippchen geschlagen. Kenn ich nicht? Und wie ich das Konzert kenne – ein wahres Meisterwerk! Parallelen zur Filmmusik (schwankend wogende Harmonien à la Jaws im ersten Satz) und wiederum zum geliebten Britten (Beginn der Passacaglia mit Peter-Grimes-Nähe), viel modern Kühnes, aber auch ganz viel „Altes“ (z.B. Blechchoral wie bei Hindemith) lassen das Werk zu einem wahrlich packenden Ohrenschmaus werden.

Solveigs Lied als Zugabe sorgte dann noch für den bittersüßen Schlusspunkt eines anregenden Konzertes.

9. September 2018

Liederabend – Christian Gerhaher.
Glocke Bremen.

20:00 Uhr, Saal links, Reihe 11, Platz 4



Franz Schubert – »Schwanengesang«

Lieder nach Friedrich Rückert
Sei mir gegrüßt D 741
Dass sie hier gewesen D 775
Lachen und Weinen D 777
Du bist die Ruh D 776
Greisengesang D 778

Lieder nach Ludwig Rellstab D 957/1-7
Liebesbotschaft
Kriegers Ahnung
Frühlingssehnsucht
Ständchen
Aufenthalt
In der Ferne
Abschied

(Pause)

Lieder nach Heinrich Heine D 957/8-13
Der Atlas
Ihr Bild
Das Fischermädchen
Die Stadt
Am Meer
Der Doppelgänger

Die Taubenpost D 965A (Johan Gabriel Seidl)

Schwanengesang D 957

(Christian Gerhaher – Bariton, Gerold Huber – Klavier)



Christian Gerhaher gehört zweifelsohne zu den versiertesten Liedsängern, die man heute erleben kann. Mir persönlich steht im Baritonfach Matthias Goerne noch etwas näher, aber das bezieht sich rein auf das subjektive Geschmacksempfinden. In Sachen nuancierter Detailarbeit und Ausdruckskraft setzen beide jeder auf seine Weise Maßstäbe. Gerhaher zeichnet dabei ein besonders edler Ton aus, der sich über die gesamte dynamische Bandbreite erhält. Dabei sind es gerade deren Extreme, die mich besonders in den Bann ziehen. Da ist zum einen ein fast schon gesprochen sangloser Tonfall in den leisesten Stellen, der diesen durch etwas ambivalent Brüchiges enorme Präsenz verleiht. Zum anderen ist es schier überwältigend, zu welchen Fortissimo-Schüben sich seine vermeintlich so schlanke Stimme aufschwingt – die Glocke erzittert ein ums andere mal unter den Ausbrüchen. Auch wenn ich sicher kein Schubert-Experte bin, kann ich mir eine ausgefeiltere, intensivere Beschäftigung und Wiedergabe mit diesen Werken kaum vorstellen – ein Liederabend der Extraklasse.

2. September 2018

Orchestre Révolutionnaire et Romantique –
Sir John Eliot Gardiner.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich I, Reihe 3, Platz19



Hector Berlioz – Le Corsaire / Ouverture op. 21 
Hector Berlioz – La mort de Cléopâtre / 
Scène lyrique für Mezzosopran und Orchester
(Joyce DiDonato – Mezzosopran)

Hector Berlioz – Chasse royale et orage / aus »Les Troyens«

Hector Berlioz – Je vais mourir / Monolog und Arie der Dido
aus »Les Troyens« op. 5
(Joyce DiDonato – Mezzosopran)

(Pause)

Hector Berlioz – Symphonie fantastique /
Episode de la vie d'un artiste op. 14



Der offizielle Saisonauftakt brachte gleich zwei versöhnliche Erkenntnisse: Frau DiDonatos Stimme kann, losgelöst von Selbstdarstellung und Sendungsbewußtsein, durchaus berühren und historische Aufführungspraxis muss keine furztrockene Angelegenheit sein. Denn während die Solistin sich diesmal ohne das Diven-Brimborium und jene naiv-kitschige Weltverbesserungsattitüde ihres Soloprogramms (Link) ganz in den Dienst der vorgetragenen Werke stellte, brannte Sir John Eliot Gardiner ein wahres Feuerwerk der Kontraste mit seinen revolutionär-romantischen Kollegen ab.

Ein reines Berlioz-Programm – was könnte es Schöneres zum Start in die neue Elphi-Spielzeit geben? Ein wenig skeptisch war ich nur bezüglich der beteiligten Künstler. Frau DiDonato hatte vor nicht allzu langer Zeit an gleicher Stelle einen mehr als nachdrücklichen ersten Eindruck auf mich gemacht – selten hat mich ein Liederabend so abgestoßen. Heute konnte ich mich glücklicherweise voll auf ihren stimmlichen Vortrag konzentrieren, ohne von Flitter und Schwulst abgelenkt zu werden. Nach dieser Darbietung kann ich schon eher nachvollziehen, warum die Dame einen so großen Namen in der Szene besitzt, wenn ich auch bei meinem Urteil bleibe, dass mir persönlich andere Mezzos (Garanča, Coote) noch besser gefallen. So oder so, der gesprochen-gehauchte Tod der Cleopatra war schon ein bewegendes Ereignis.

Held des Abends war für mich jedoch eindeutig Herr Gardiner mit seiner Truppe. Beileibe kein Freund der historischen Ausfführungsart, muss ich zugeben, dass die alten Instrumente mit ihrem z.T. doch sehr herben, unbehauenen Klang in Kombination mit dem knackigen Dirigat dem expressiven Berlioz gut zu Gesicht standen. Es ist schon krass, wie anders allein das Becken klang, mehr Mülltonnendeckel denn Schallverteiler, oder wie oft die Hörner ihre Windungen während eines Stückes getauscht haben. Was aber am Ende zählt, ist ein mitreißender Vortrag dieser unglaublich progressiven Werke. Die Kleopatra-Szene ist fast schon ein Vorgriff auf Berg, die Wirkung der Symphonie Fantastique auf ihre Zeitgenossen lässt sich beinahe heute noch nachspüren. Mein größter Respekt an den rüstigen Pultmeister – das Feuer, es brannte!

15. August 2018

Estonian Festival Orchestra – Paavo Järvi.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 1, Platz 3



Arvo Pärt – Sinfonie Nr. 3 
Edvard Grieg – Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 16
(Khatia Buniastishvili)
Zugabe: Franz Liszt – Ungarische Rhapsodie Nr. 2 cis-Moll S 244/2

(Pause)

Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82
Zugaben:
Lepo Sumera – Spring Fly / Die Frühlingsfliege
Hugo Alfvén – Vallflickans Dans / Bergakungen / Ballett-Pantomime op. 37



Einer meiner Lieblingsdirigenten hat in seiner Heimat ein Orchester ins Leben gerufen – das klingt doch spannend. Und eines ist nach dem heutigen Konzert klar: Das 2011 von Paavo Järvi gegründete Estonian Festival Orchestra ist eine Bereicherung für jeden Saal – erst Recht die Elbphilharmonie. Man ist mit großer, wenn auch keinesfalls riesenhafter Besetzung angereist, einzig die neun Kontrabässe springen ins Auge – hat der Elphi-Kenner Järvi hier bewusst auf das Fundament Einfluss genommen oder ist das ein Zufall? Egal, die Bässe klingen jedenfalls wunderbar – wie das ganze Orchester, das von seinem Dirigenten aber auch perfekt in Szene gesetzt wird. Insbesondere die Soli lassen mit der Zunge schnalzen, egal ob Holzbläser, Horn oder Konzertmeister. Aber der Reihe nach.

Zu Arvo Pärt habe ich ein etwas gespaltenes Verhältnis. Zwar hat mich seine ebenso simple wie eingängige Komposition Fratres, eingesetzt im Film „There will be Blood“ durchaus berührt, weitere Annäherungsversuche an diesen Komponisten waren danach allerdings weniger erfolgreich. Diese Art von statischer „Stimmungsmusik“, wie ich sie in vielen seiner Werke angetroffen habe, deckt sich, gelinde gesagt, nicht exakt mit meinen Vorlieben. Derart negativ voreingenommen kam die heutige Sinfonie aus Pärts Feder nahezu einer Offenbarung gleich. Interessante Themenkomplexe, motivische Arbeit, differenzierte Instrumentation, Kontraste in Ausdruck, Dynamik und Tempo, gewaltige Steigerungen – kurz: alles, was eine Komposition erfahrenswert macht. Die vielschichtige Faktur hat mich regelrecht verblüfft, da ist viel „Altes“, antikisierend Archaisches, aber eben nicht immer nur dieses monoton Mönchische in Sack und Asche Gehen, das ich bislang mit Pärt verbunden habe. Es gibt sogar heitere Passagen – ich werd verrückt! Letzten Endes ist das vielleicht immer noch nicht so ganz meine Klangsprache, aber doch ein Quantensprung in der Beziehung zu diesem Komponisten. Woran Järvi und seine Musiker großen Anteil haben. Konzentration und Kontemplation. Allein schon das bärenstarke Blech sorgte für einen nachhaltigen Eindruck. Auch stark, wie fokussiert der Paukist seine Schläge beschleunigte, die sich schließlich nahtlos zum Paukenwirbel fügten.

Das Grieg-Konzert erklang ebenfalls in einer Top-Darbietung aller Beteiligten. Das Orchester weiterhin vorzüglich, egal ob Horn, übriges Blech oder Streicher. Und Järvi wie gewohnt: knackig, aber differenziert. Dabei zusätzlich mit teilweise extrem flottem Antritt, was wiederum mit dem Energielevel des Wirbelwindauftritts von Frau Buniastishvili korreliert. Die Dame scheint ein regelrechter Tempoholic zu sein, beinahe gerät mir mancher Lauf fast zu ungestüm, weil dann kurz das Gefühl von Hast aufblitzt. Aber wer solch einen Anschlag von zartperlend bis unerbittlich im Köcher hat, darf gern auch mal übertreiben.

Ebenfalls spannend, nicht verhehlen zu können, dass ihr Spiel (oder vielmehr ihr Auftritt insgesamt?) eine „sexy Komponente“ aufkommen ließ, die dem gefährlich vertrauten Klavierkonzert-Klassiker Griegs ungemein gut zu Gesicht stand. Bleibt die Überlegung, wie wahrscheinlich eine solche Erwähnung bei einem männlichen Kollegen oder einer weniger attraktiven Kollegin (auch Geschmackssache, klar) den Weg in meine Ausführungen gefunden hätte – Relevanz für die Rezeption der Darbietung besitzen derlei Gedanken meiner Ansicht nach jedoch in jedem Fall. Solange solch ein pianistischen Ausnahmetalent am Flügel sitzt, ist es im Umkehrschluss allerdings ebenso unstrittig, dass es von Dummheit und/oder Oberflächlichkeit zeugt, sich an der Absatzhöhe der Schuhe zu stören, welche die Pedale des Steinway so meisterhaft regulieren.

Ich könnte jetzt einen Exkurs über Yuja Wangs Bühnenoutfits, Jonas Kaufmanns Wirkung auf Frauen oder über erotische Stimmen, die unscheinbaren Körpern entfahren, einschieben, belasse es aber doch mit der Erkenntnis, das große Künstler weil/ungeachtet/unabhängig davon, dass sie in der Regel mehr als einen Sinn im Kunstliebhaber stimulieren, so oder so große Künstler bleiben.

Järvi und Sibelius – das passt zusammen. Sein Ansatz ist weniger kontemplativ, sondern bietet Sturm und Drang vom Feinsten. Besonders ohrenkundig wird das in dem wiederholt angewandten Mittel, ordentlich Schwung zu nehmen, um regelrecht soghaft rauszubeschleunigen. Das Finale des ersten Satzes gerät auf diese Weise zur wuchtigen Explosion. Aber auch Leises und Feines ist bei Järvi wie gewohnt in den besten Händen – an seiner Pianissimo-Gestaltung sollte sich das Hausorchester ein Beispiel nehmen. Die beiden Zugaben boten einerseits den exzellenten Musikern des Estonian Festival Orchestra noch einmal Gelegenheit, ihre individuelle Klasse unter Beweis zu stellen (Sumera mit vielen Solostellen) und kombinierten mit der Alfvén-Ouvertüre Virtuosität und Gefühl (Flinker Streicherbeginn versus ruhiger Mittelteil) zu einem Abschied, der ein Wiedersehen und -hören herbeisehnen lässt.

5. August 2018

The Orchestra of the Americas – Carlos Miguel Prieto.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 4, Platz 9



Carlos Chávez – Sinfonía india 

Gabriela Montero – Latin Concerto /
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1
(Gabriela Montero, Klavier)

Zugaben Gabriela Montero:
Improvisation über „Happy Birthday“
Improvisation über „Summertime“
(begleitet von zwei Percussionisten und einem Bassisten)

(Pause)

Aaron Copland – Sinfonie Nr. 3
Zugabe: Medley



Bei Chávez hab ich ein wenig gebraucht, um reinzukommen. Vielleicht war da auch eine gewisse, unterbewusste Anti-Haltung, nachdem ich im Programmheft über sein Streben gelesen habe, sich unbedingt von der „europäischen“ Musik abzugrenzen. Warum dann weiterhin das klassische Sinfonieorchester bemühen, kommt es mir sofort in den Sinn. Innovation, Emanzipation – in diesem, wie in so vielen Fällen, ist das Ergebnis eher Evolution. Warum auch nicht, wenn die Wurzeln eben in der „Alten Welt“ liegen, ob die Sprösslinge nun Chávez oder Copland heißen. Generell ist es ja recht unsinnig, sich gegen eine „europäische“ Musik positionieren zu wollen, wenn es einem schlicht formuliert doch nur um ein wenig lokales Kolorit geht. Nein, nein, es geht um etwas Identität Stiftendes, könnte man etwas tiefer in die Pathos-Schublade greifen. So wie halt in den Musiktraditionen der einzelnen europäischen Länder auch.

Unabhängig davon, dass man sicher ewig darüber wird diskutieren können, wie deutsch ein Wagner, wie italienisch ein Verdi oder wie russisch ein Tschaikowsky sind – von Kosmopoliten wie Meyerbeer, dem französischen Deutschen bzw. deutschen Franzosen mit italienischem Werdegang, ganz zu schweigen – ist die klassische europäische Musik natürlich gleichermaßen von lokalen, regionalen, dabei mal ganz unterschiedlichen und mal verblüffend ähnlichen Traditionen geprägt. So könnte man sich als Komponist der europäischen Außenstelle Amerika auch einfach entspannen und die vorzufindenden gewachsenen oder importierten Einflüsse einfach mit dem nötigen Talent in etwas Eigenständiges transformieren, das trotz alledem der Traditionslinie westlicher „klassischer“ Musik folgt. Nichts anderes macht ja auch Chávez, schließlich ist er weder im Tipi noch am Fuße einer Sonnenpyramide zur Welt gekommen. Kunstmusik bleibt Kunstmusik. Wie „amerikanisch“ die Musik eines Copland auch immer sein mag, was am Ende zählt ist, dass es große, großartige Musik ist, die der Nachkomme litauischer Einwanderer unter anderem mit seiner monumentalen Dritten geschaffen hat.

Aber zunächst noch einmal zu seinem mexikanischen Kollegen. Der Beginn seiner „Sinfonia india“ hat mich wie gesagt nicht unbedingt aus den Schuhen gehauen mit seiner repetitiven, überaus simplen Art mit folkloristischen Einsprengseln, aber gleich das erste melodiöse Lebenszeichen (wahrscheinlich eines der verwendeten Indianer-Themen), von den Holzbläsern solistisch eingeführt, und dann nach und nach vom ganzen Orchester aufgenommen und von durchaus spannender Harmonik begleitet, ließ doch hoffen. Nach einer weiteren langsamen Holzbläserpassage, die schließlich in triefendes Orchesterpathos mündet, fährt sich das Ganze wieder in spechtartig skandierten Ostinati fest, bevor erneut das nette Thema die Situation rettet, Orchestertutti inklusive. Wenn man sich hier die perkussive Ethno-Dekoration wegdenkt, ist das schon ganz schön alte Welt, gelle, Herr Chávez? Zum Finale kommt dann tatsächlich noch einmal Leben in die Bude – Repetitionen auch hier, aber endlich mal mit Drive! Ein ordentlicher Rausschmeisser, man ist schon mal aus dem Häuschen.

Es folgt Frau Montero als Solistin ihrer eigenen Komposition. Das „Latin Concerto“ ist durchweg von eingängiger Natur, jedoch mit erfreulich spröder Note. Nach dem suchenden, solistischen Beginn verströmt der erste Satz immer wieder etwas Geheimnisvolles – kein schlechter Auftakt. Der ruhige zweite Satz kommt ein wenig wie eine Kreuzung aus Piazolla-Anleihen mit dem James-Bond-Idiom eines John Barry daher, man schwelgt und träumt , aber auch hier mit bitterer Einfärbung. Am schwächsten erschien mir der dritte Satz, das Finale übernimmt die klassische Funktion des flotten Kehraus, nur dass mir dabei ein wenig das Überraschende gefehlt hat.

Nachdem bereits das Konzert frenetisch gefeiert wurde, machte sich Frau Montero mit ihren beiden Zugaben daran, den Saal vollends für sich zu gewinnen. Es scheint so etwas wie ihr Markenzeichen zu sein, über beliebige Themen zu improvisieren, gern auch über spontane Vorschläge des Publikums. Heute waren dies die Themen „Happy Birthday“ sowie „Summertime“. Ich muss gestehen, dass es sehr wohl ein besonderes Erlebnis war, wie Frau Montero scheinbar aus dem Nichts eine Art Bach’schen Variationsfluss dahingoss, der immer wieder Elemente bzw. Intervalle der nicht gerade für ihre Komplexität berühmten Ständchen-Melodie aufgriff. Dennoch hat das Ganze auch ein wenig von einem sehr gut einstudierten Zaubertrick, der die Zuhörer naturgemäß verblüfft – Muster, durch jahrelange Übung in ihrem musikalischen Unterbewusstsein verankert, bereit, jederzeit abgerufen zu werden. Womit ich keinesfalls unterstellen möchte, dass ihre Improvisationen einstudiert sind, nur geht es hier meiner Empfindung nach mehr um Neukombination denn Invention in Echtzeit – was ihre Leistung nicht im geringsten schmälert. Man muss sich nur einmal ein paar ihrer Improvisationsabende auf YouTube ansehen, dann erkennt man das Bild. Aber noch einmal: natürlich kommt es beim Publikum prima an, wenn die Künstlerin „ungeprobt“ mit einigen Musikern des Orchesters über „Summertime“ abgroovt – die Faszination des Augenblicks eben.

Leider konnte meine geliebte Dritte von Copland die Umsitzenden offenbar weit weniger faszinieren – obwohl ich die Sinfonie gerade auch wegen ihrer eingängigen Faktur schätze, scheint sie nicht wenige im Saal überfordert zu haben. Zumindest in meinem direkten Umfeld trübten Unruhe und Unkonzentriertheit die Aufnahme dieser großartigen Komposition. Darüber hinaus offenbarten die Ausführenden bei diesem Werk, welches ich im Gegensatz zu den anderen Programmpunkten in- und auswendig kenne, doch einige Schwächen. Das Dirigat war mir über weite Strecken zu überhastet, zu wenig weihevoll – da bin ich allerdings auch durch Bernstein verdorben – namentlich im ersten Satz nahm ein ziemlich flottes Tempo doch einiges von der gewohnten Wucht. Im zweiten Satz schien mir die rhythmische Artikulation zu lasch, am besten gefiel mir noch der klagende dritte, in dem die Streicher sich wunderbar schneidend verzehrten, generell war das Dirigat hier endlich mal differenziert genug. Das Finale mit der berühmten Fanfare gelang passabel, aber die fehlende (Klangfarben-)Qualität und Dominanz des Blechs schlug wie schon im Kopfsatz ernüchternd zu Buche. Das Orchestra of the Americas ist ein guter Klangkörper – für solche Herzensangelegenheiten ist mir das allerdings zu wenig.

Im Nachhinein würde ich ohnehin den Eindruck nicht los, dass der Copland heute irgendwie die (Lateinamerka-)Party störte. Die Zugabe des Orchesters, eine Art solistisch vorgetragenes Medley bekannter Melodien aus den Herkunftsländern der Musiker, kam dann auch wieder ungleich besser beim Publikum an. Heiße Rhythmen und buntes Fahnengeschwenke mag doch jeder – von solch kalten Fischen wie mir einmal abgesehen. Die Kollegen vom Simon Bolivar Orchestra haben ihre Venezuela-Jäckchen, hier gipfelt das Ganze in eine nicht enden wollende Flaggenparade auf der Bühne, Mitklatschen ausdrücklich erwünscht. Oder, frei nach Copland: Polonaise for the Common Man.

7. Juli 2018

NDR Jugendsinfonieorchester – Stefan Geiger.
Elbphilhamonie Hamburg.

19:00 Uhr, Etage 15, Bereich M, Reihe 2, Platz 11



Richard Strauss – Wiener Philharmoniker Fanfare 
Louis Spohr – Konzert für Klarinette und Orchester Nr. 2 Es-Dur op. 57 (Gaspare Buonomano)

(Pause)

Richard Wagner – Der „Ring“ ohne Worte – zusammengestellt von Lorin Maazel



Ich muss sagen, dass Maazels Arrangement viel besser funktioniert, als ich im Vorwege angenommen hatte – auch und gerade weil er auf diverse „Schlager“ aus dem Ring verzichtet. Einige der beliebtesten Gesangsnummern, wie etwa Siegmunds „Winterstürme“ oder Siegfrieds „Schmiedelied“, das nur angerissen wird, haben nicht den Weg in die chronologische Zeitraffer-Tetralogie-Synthese gefunden, wodurch der Leitmotiv-Medley-Charakter erfreulich gedämpft und die symphonische Geschlossenheit unterstützt wird.

So findet sich, eingerahmt vom Rheingold-Vorspiel und der kompletten Schlussszene der Götterdämmerung nicht unbedingt das eingängigste Material, aber eben jenes, das die Verwandtschaft der vier Opern und die musikalische Entwicklung innerhalb dieser verblüffend anschaulich transportiert. Kein „Best of“, sondern eine wirklich sinfonische Reise vom Rhein zurück in den Rhein. Natürlich dürfen populäre orchestrale Perlen wie der Walkürenritt, das Waldweben oder Siegfrieds Trauermarsch nicht fehlen, aber gerade am Beispiel des wohl bekanntesten Auszugs aus dem Ring, besagtem Ritt der Walküren, lässt sich in dieser zeitlich kompakten Anordnung Wagners Entwicklungsarbeit auch für eher ungeübte Ohren nachvollziehen – deutet sich das bekannte Thema beispielsweise bereits Ende des Rheingolds in Donners reinigendem Gewitter an, begleitet es die Auftritte und Abgänge Wotans und ist letztlich doch untrennbar mit der hehrsten Walküre Brünnhilde verbunden, auch wenn sie bereits längst sterblich geworden ist und ihrem Siegfried in den Tod folgt.

Maazel ist ebenfalls weise genug, nicht jedes Akt- oder gar Werkfinale in die Partitur zu stopfen. Wenn es dramaturgisch passt, nutzt er z.B. den pfeilschnellen ersten Walküren-Aktschluss als Zäsur, ansonsten leitete er zumeist vor der eigentlichen Schlussklimax zum nächsten Teil über. Ein weiterer Grund, auf allzu „ariose“ Höchepunkte zu verzichten, liegt wahrscheinlich in dem Wissen darum, dass sich Gesang nur unbefriedigend durch die Übertragung an Orchesterstimmen ersetzen lässt, glücklicherweise verfügt das sinfonische Gerüst der Tetralogie Dank Wagner über derart viele Schichten, so daß es auch einmal spannend ist, ihren Reichtümern ohne die Textebene nachzuspüren. Wunderschön beispielsweise eine Passage im Gotterdämmerungsteil – ich tippe auf die Unterredung Siegfrieds mit den Rheintöchtern, obwohl ich nicht firm im letzten Teil des Ringes bin – meine erste Live-Götterdämmerung steht noch aus.

Alles in allem eine wunderbare Arbeit des hochgeschätzten Dirigenten Maazel, sowohl für Wagnerianer und solche, die, von der Vorstellung mehrstündiger Opernabende eingeschüchtert, so dennoch ihre Liebe zu dieser unglaublichen Musik entdecken können. Das Dirigat von Herrn Geiger fand ich übrigens gar nicht mal schlecht, wenn sich auch hier der Vergleich mit einem Maazel oder gar Solti verbietet. Das Jugendorchester des NDR liefert solide Arbeit, stößt jedoch immer wieder an seine Grenzen was Ausdruck, Zusammenspiel und Technik an sich angeht – gerade beim Blech muss man da Gnade vor Recht ergehen lassen. Die Strauss-Fanfare als Lippenlockerungsübung und das Spohr-Konzert waren nicht wirklich der Rede wert, obwohl Herr Buonomano mit stupender Virtuosität und makelloser Phrasierungskunst – allein dieses Legato im zweiten Satz! – begeisterte.

Fazit: ein wunderbarer Abend mit unschlagbarem Preis-Leistungsverhältnis.

16. Juni 2018

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – Evan Christ.
Staatstheater Cottbus.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 6, Platz 16



Mahagonny ist ja mittlerweile so etwas wie meine Lieblingsoper zur Erprobung mir unbekannter Spielstätten geworden, hat sich mit den Jahren irgendwie ergeben. Ist halt ein tolles Stück, dessen Umsetzung gerade die Regieteams an kleineren Häusern erfahrungsgemäß zu besonders kreativen, radikalen oder zumindest interessanten Inszenierungen anzuregen scheint.

Auch die Produktion hier in Cottbus kann sich in der Beziehung sehen lassen. Nicht so anarchisch wie seinerzeit in Bremen (Link), aber doch um einiges phantasievoller als in Münster (Link), stimmte die Balance zwischen Anlehnung an das Libretto und eigenen Interpretationen. Das heruntergekommene, dann wieder in Stand gesetzte Jahrmarks-Fahrgeschäft als physische Manifestation der Netzestadt ist sehr gelungen – hereinspaziert, hereinspaziert. Die häufige Einbeziehung des Zuschauer- bzw. bühnenfremden Raums (An- und Abreise der Kunden; Mahagonny-Bewohner sitzen angelnd um den Orchestergraben und haben ihre Ruten in denselben ausgeworfen) unterstützt die Intention des Stückes, mit den Gewohnheiten des Publikums zu brechen, aktiviert die Aufmerksamkeit und unterminiert im Brechtschen Sinne die Bühnenillusion. Der Umbau der Szene wird demzufolge einfach bei heruntergelassenem eisernen Vorhang vollzogen. Für die „Ewige Kunst“-Parodie wird das Gebet einer Jungfrau auf einem herrlich verstimmten Klavier auf der Bühne intoniert – ebenso effektvoll wie inhaltlich passend.

Generell gibt es diverse Regieeinfälle, die mir gut gefallen haben. Die Zwischentitel bzw. Ansagen werden von Kindern übernommen. Die Darstellung der vier „Vergnügen“ – Fressen, Boxen, Liebesakt, Saufen – werden von einem großen „mehr!“ überragt und jedes für sich zwingend umgesetzt. So erliegt Jakob Schmidt, sich und andere ekstatisch beschmierend, in der Schokopuddingbadewanne seinen magenkapazitären Grenzen, die käufliche Liebe ist eine nicht enden wollende, dabei penibel überwachte Reihe Fließband-Blowjobs, bei der jeder Kunden artig vom Feuchttuch Gebrauch zu machen hat. Für die Boxszene musste man sich ensemblebedingt etwas einfallen lassen, um den turmhohen Darsteller des Alaskawolf-Joe plausibel gegen den deutlich schmächtigeren Dreieinigkeitsmoses verlieren lassen zu können: Letzter bringt hier, obwohl körperlich bereits geschlagen, seinen Bezwinger mit dem ihm zugesteckten Elektroschocker auf die Bretter – ein abgekartetes Spiel bleibt auch so ein abgekartetes Spiel, schön gelöst! Jim endet schließlich martialisch am Galgen, im letzten Bild gehen der Regie dann ein wenig die Bilder durch – Demonstranten, Redner an Pulten, berauschte Virtual-Reality-Jünger, durch die Szene laufende Jogger, seltsame Trenchcoat-Gestalten und und. Vielleicht ein bisschen viel, aber irgendwie auch passend zu Chaos und Auflösung des Finales. Von den Nummern fehlt der „Gott im Whiskey“, dafür ist der Benares-Song mit von der Partie.

Über das rein Musikalische möchte ich nicht viele Worte verlieren, das Ensemble müht sich nach Kräften, die Solisten der Hauptpartien stoßen jedoch teilweise an ihre Grenzen, gerade mitunter der arg strapazierte Tenor von Herrn Wilde. Carola Fischer gibt die Witwe Begbick nicht unbedingt mit gesanglichem Wohlklang, kompensiert das aber mit ihrer resoluten Art, Liudmila Lokaichuk gehört vor allem darstellerisch zu den Besten. Teilweise sind es eher die Nebenrollen, die für die Höhepunkte sorgen, wenn etwa Dirk Kleine mit nahezu kantatenhaft geführtem Tenor seine Fressorgie besingt, oder Jims Kollegen als lupenreines Terzett die Vorzüge Mahagonnys preisen. Der Chor in Cottbus ist für die Anforderungen des Stückes etwas zu schmal bemessen, ob Hurrikan-Szene oder Finale, das muss wuchtiger, apokalyptischer kommen.

Alles in allem ein lohnenswerter Besuch in Cottbus mit seinem wunderschönen Theater. Bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Querelen um den Generalmusikdirektor die Zukunft dieses Hauses nicht gefährden.


Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Oper in drei Akten
Musik: Kurt Weill
Text: Bertold Brecht

Musikalische Leitung – Evan Christ
Regie – Matthias Oldag
Ausstattung – Barbara Blaschke
Choreinstudierung – Christian Möbius
Choreografie – Dirk Neumann
Dramaturgie und Übertitel – Bernhard Lenort

Leokadja Begbick – Carola Fischer
Fatty – Hardy Brachmann
Dreieinigkeitsmoses – Ulrich Schneider
Jenny Hill – Liudmila Lokaichuk
Jim – Jens Klaus Wilde
Jakob Schmidt – Dirk Kleine
Sparbüchsenbill – Christian Henneberg
Alaskawolf-Joe – Ingo Witzke
Tobby Higgins – Thorsten Coers
Mädchen und Männer von Mahagonny – Damen und Herren des Opernchores
Girls and Boys – Damen und Herren des Balletts
Kinder – Jan Marius Hofmann, Fynn Namyslo, Hayden Pietralczyk, Eric Pöschel

Philharmonisches Orchester des Staatstheaters Cottbus

10. Juni 2018

Pelléas et Mélisande – Daniel Barenboim.
Staatsoper Berlin.

18:15 Uhr Einführung, 19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 17



Das erste Mal, als ich mit dieser Oper in Berührung kam, war eine Produktion der Hamburgischen Staatsoper vor etwa 10 Jahren. Ich weiß noch, dass ich ziemlich gebannt war. Vom Werk, der Musik, dem ganzen Abend. Hatte ich gehofft, diese erste Begeisterung mit dem heutigen Besuch der Lindenoper zu vertiefen, stellte sich eher das Gegenteil ein. Woran lag dies? An den Sängern wohl kaum. Rolando Villazon mag es vielleicht (mittlerweile?) bei manchem Spitzenton an Durchschlagskraft mangeln, überhaupt wirkt seine Höhe seltsam gehemmt und limitiert, aber die Stimme an sich hat sich ihr besonderes, feuriges Timbre bewahrt, das gerade in der hier gefühlt häufig genutzten Mittellage überzeugt, hinzu kommt die darstellerische Präsenz dieses ausgemachten Bühnenmenschen. Eine Eigenschaft, die ihn mit Herrn Volle verbindet, dessen Stimme allerdings über jeden Zweifel erhaben ist – welch klangliche Autorität und Intensität! Schließlich die Sängerin der Mélisande, Marianne Crebassa, welche das Hauptrollen-Dreigestirn mit zauberhaft fein-entrückter Sensibilität komplettiert.

Und dennoch – auch das übrige Ensemble und selbstredend die Staatskapelle unter Barenboims Leitung liefern keinen Grund zur Beanstandung – funktioniert der Abend für mich nicht, oder nur an ganz wenigen Stellen, wofür ich in erster Linie die Arbeit von Ruth Berghaus und ihrem Team verantwortlich mache. In Hamburg war es seinerzeit eine Inszenierung Willy Deckers, der sich zu einem meiner Lieblingsregisseure entwickeln sollte, welche das Unwirkliche, Somnambule des Werkes in berückender Schönheit und gleichzeitig fremder Faszination sich in meine Wahrnehmung senken ließ. Ich kann den Ansatz von Frau Berghaus durchaus nachvollziehen, das Artifizielle von Werk und Handlung unterstreichen oder überhöhen zu wollen – es klingt erst mal durchaus spannend, die Akteure in ungemütlichen, grotesken Kostümen mit teilweise überzeichneten oder puppenhaften Gesten, theatralischen Tanzbewegungen agieren zu lassen, um das unheimliche, unbehagliche Moment zu unterstreichen, das über allem und jedem zu schweben scheint.

Im Ergebnis haben Ausstattung, Personenführung und ebenso die Abstraktion bestimmter Orte, Sachverhalte und Situationen bis zur Unkenntlichkeit bei mir lediglich eine mangelnde Bindung zu Stoff und Geschehen zur Folge. Vieles wirkt albern, unfreiwillig komisch oder – viel schlimmer noch – ist mir in dieser Darreichungsform einfach Wurscht, geht mich nichts an und fasst mich nicht an. Expressives Arthaus-Puppentheater in einem nett illuminierten, angesichts seiner Einfachheit überraschend variablen Bühnenbild. Überhaupt wird es eigentlich nur dann spannend, wenn jenes inhaltlich motiviert interessant eingesetzt wird, etwa wenn Golaud den Knaben auf der knallgelben Treppe bei seinem eifersüchtigen (neidischen?) Drängen nach Spitzeltätigkeit Stufe um Stufe höher treibt.

Aber wo wir gerade bei Intensität sind – gerade der Mangel daran führte zu jener schmerzlichen Teilnahmslosigkeit. Ich werde nie vergessen, wie sich in Golaud – pikanterweise damals ebenfalls von Michael Volle dargestellt – in der Decker-Inszenierung die aufgestaute Aggression gegen Mélisande Bahn brach, dass es beinahe physische Schmerzen bereitete, ihm dabei zusehen zu müssen, wie er seiner Frau Gewalt antat. Bei Berghaus ist Mélisande zu dem Zeitpunkt schon mit einem stattlichen Babybauch ausgestattet, und trotzdem ließ mich das bisschen inszenierte Vergewaltigung in all seiner Plump- und Abgegriffenheit kalt. Zack, Beine breit – Jupp, kann man so machen.

Überhaupt oszilliert die Inszenierung zwischen einer Art Überreduktion einerseits, die vieles einfach bis an die Grenze der Unkenntlichkeit weginszeniert (stilisierter Nicht-Brunnen, Riesenball und Rampe, das alberne Stöckchen als „Waffe“, die Tatsache, dass es eigentlich Wumpe ist, ob wir uns gerade im Wald, im Gewölbe oder sonstwo befinden) und einer Art superplumpen Symbolismus-Ausinszenierung andererseits. Der Hirtendialog über den Weg der Schafe beispielsweise macht für sich ein starkes Bild der Vergänglichkeit auf, die hier gewählte Umsetzung, in welcher der Hirte als eine Art Totengräber die Leichen der drei Bettler auf seinen Bollerwagen bugsiert, scheint mir eher der Kategorie „Wink mit dem Zaunpfahl“ entsprungen. Und wie Golaud mit seinem Sattel die Bühne betritt, als bedürfe es dieses Requisits, um seinen „Reitunfall“ im Moment des Ringverlustes noch mal zu illustrieren, will so gar nicht zum restlichen Grad der Abstraktion passen.

Man könnte noch so vieles im Detail über diese Regiearbeit ansprechen und hinterfragen – die Perücke der Mélisande, ihr Drang, in den offenen Mänteln der Männer Zuflucht zu suchen, die Kinderpuppe am Ende, die Reaktion des Chores, bei all dem hat sich Frau Berghaus sicher eine Menge schlauer Gedanken gemacht – doch würde das im Nachhinein auch nicht den lauwarmen Eindruck und damit verbunden mein Herz für diese Produktion erwärmen.

Kommen wir stattdessen lieber zum Werk selbst und seinem Autor. Die Geschichten über die anfängliche Begeisterung Debussys für Wagner und seine spätere Ablehnung lassen mich immer wieder schmunzeln, angesichts einer Musik, die so vom Parsifal geprägt ist, aber auch vom Siegfried und vielen anderen Beispielen, in denen sich Wagner von seiner „impressionistischen“ Seite zeigt. Ich kann schon verstehen, dass man sich als „Nachfahre“ mit eigenen Ambitionen gern von seinen übergroßen Vorbildern abgrenzen möchte, aber es ist schon niedlich, wie durchschaubar diese Aussagen sind, die eher an Parteipolitik denn an das musikalische Gewissen appellieren.

Es ist ja gut und schön, dass das Wagnerorchester für Debussys Geschmack zu redselig ist, bzw. er der Sinfonik im Bühnenwerk misstrauisch gegenübersteht, andererseits entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn man sich nach seinen Worten vom Streben nach „Wahrhaftigkeit“ und „Lebensechtheit“ die große Liebesszene im vierten Akt vor Augen und Ohren führt – Opernkonvention par excellence, tiefstes 19. Jahrhundert, Lichtjahre von der psychologischen wie emotionalen Tiefe eines Tristan entfernt. Aber jeder macht halt wie er kann, und Debussy kann leider doch nicht so richtig, wie mich der Verdacht nach heute Abend beschleicht. Ohne den Zauber der Decker-Inszenierung erlebe ich ein langatmiges, vor sich hin plätscherndes Werk, dem Kontraste ebenso abgehen wie die Schaffung einer wie auch immer gearteten, zur Anteilnahme anregenden Atmosphäre. Wenn so Wirklichkeit auf der Bühne aussieht, bleibe ich gern weiterhin ein Anhänger des Überkommenen.


Pelléas et Mélisande
Drame Lyrique in fünf Akten und zwölf Bildern
Musik – Claude Debussy
Text – Maurice Maeterlinck

Musikalische Leitung – Daniel Barenboim
Inszenierung – Ruth Berghaus
Bühnenbild, Kostüme – Hartmut Meyer
Chor – Raymond Hughes

Arkel – Wolfgang Schöne
Geneviève – Anna Larsson
Pelléas – Rolando Villazón
Golaud – Michael Volle
Mélisande – Marianne Crebassa
Yniold – Solist des Tölzer Knabenchors
Arzt, Hirte – Dominic Barberi

Staatsoperchor, Staatskapelle Berlin

7. Juni 2018

NDR Elbphilharmonie Orchester – Jukka-Pekka Saraste.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 2, Platz 10



Carl Nielsen – Helios-Ouvertüre op. 17 
Dmitri Schostakowitsch – Konzert für Violine und Orchester
Nr. 1 a-Moll op. 77 

(Leonidas Kavakos)

(Pause)

Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82



Der Bestplatztest für den NDR, noch dazu mit mit dem geliebten Sibelius – man durfte gespannt sein.

Nielsen: Das Orchester klingt gut ... aber sicher nicht überragend. Der feine, oft fast schon an eine perfekte Studiomischung erinnernde Klangeffekt will sich nicht recht einstellen. Etwas lärmig, hart im Tutti. Zudem treten die üblichen Leiden zutage: Ich mag die Hörner nicht, unabhängig davon, dass gleich der erste Einsatz in die Hose ging. Spröde. Angestrengt. Unrund. Streicher und Holzbläser allerdings prima, Blech insgesamt naja – alles beim Alten.

Kavakos: erst dachte ich: hoppla, seine Intonation hatte ich aber besser in Erinnerung – aber dann! Feine Stellen, die nicht feiner können, hoch und hauchzart. Fast schon jenseitige Expression in der Kadenz. Doch Kavakos begeistert nicht allein mit seidig Duftigem, gerade der Höllenritt im Finale gelingt unglaublich mitreißend. Lustig: in tiefer Lage gefallen mir die Hörner hier ganz gut, z.B. zu Beginn des 3. Satzes (Passacaglia) ... sonst immer noch nicht. Saraste mit gutem Tempo, aber Kavakos zieht eh alle mit – Bravo! Leider keine Zugabe.

Irgendwie mag ich die Sitzordnung des Orchesters nicht, die hinteren Reihen sind zur gewohnten Konstellation gespiegelt – Bässe links, Hörner rechts u.s.w.. Aber es ist wohl vielsagend, dass ich nach der Pause Zeit für solche Gedankenspiele habe – als Begleitorchester für den Spitzensolisten reichts, aber nicht, um Sibelius zu tragen. Das ist zu wenig Kammermusik, zu wenig Feinheiten, Klangfarben, Übergänge, Mischungen, Artikulation, Phrasierung – hatte ich schon Feinheiten gesagt? Die verschiedenen Ebenen, Aggregatszustände kommen nicht rüber, es klingt das Skelett der Sinfonie durch, aber keine Spur von dem faszinierenden Organismus, den Sibelius uns zur immerwährenden (Neu-)Entdeckung hinterlassen hat. Da ist keine Transparenz, sondern es riecht nach ganz viel schwerer Arbeit, man ist offenbar nicht damit vertraut, ein Finne am Pult scheint auch nicht als Inspirationsquelle zu genügen.

Und immer wieder diese unsäglichen Hörner: Die erhabene Hauptmelodie im Finale zumindest zu Beginn ein einziger eiernder Brei, die (eigentlich guten) Streicher nicht schneidend genug. Viel zu laut dann bei der sonst atemberaubenden Passage, in der sie die eingangs vorgestellten Figuren sehr leise forttragen, während immer wieder Fragmente des Hauptthemas aufblitzen, darüber hinaus herrscht hier viel zu wenig Spannung, die Artikulation ist zu lasch – das muss wie auf der Rasierklinge klingen, über ganz dünnes Eis eilend. Apropos, der zweite Satz wiederum zu eilig, ohne die majestätische Ruhe, die von ihm ausgehen sollte. Die so wichtigen, bekrönenden Trompeten im ersten Satz und Finale auch nicht durchgehend überzeugend, teilweise flattrig. Kurzum, es holpert und klappert und klingt vor allem absolut nicht nach Sibelius. Unabhängig von den ganzen klanglichen und technischen Missständen hat mich Sarastes Interpretation ebenfalls enttäuscht.

Wobei ich mit dieser Meinung wohl wieder mal allein auf weiter Flur war – Applaus, Begeisterung. Den fachkundigen Hamburgern kann man halt nichts vormachen. Wenn ein Finne etwas Finnisches mit unserem NDR dirigiert, muss es gepasst haben, man kennt schließlich seine Pappenheimer ... beim Verlassen des Saales aufgeschnappt: „wie hieß der noch?“ ... „Salonen ... Esa-Pekka Salonen“. Merke, wie in der Ausführung von Musik gilt ebenso hier: knapp vorbei ist auch daneben.

5. Juni 2018

La Damnation de Faust – Marc Soustrot.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Eine traumhafte konzertante Aufführung dieses herrlich heterogenen Opernmischwesens aus Berlioz’ Feder. Das Orchester bestens aufgelegt unter dem differenzierten Dirigat Soustrots, welches die Feinheiten ins beste Licht rückte, ohne an entsprechender Stelle mit Schmackes zu sparen – ideal für diese kontrastreiche Partitur. Die Sängerin der Marguerite offenbar eine Expertin für diese Rolle, sehr souverän, mir allerdings eine Spur zu herb. Der Tenor eigentlich mit schöner Stimme, angenehmer Mittellage aber leider mit keinerlei Höhe gesegnet, so wurde mancher Spitzenton mehr verzweifelt eng gepresst denn ausgekostet.

Auskosten ist wiederum das richtige Stichwort für Herrn Terfel, der von der ersten Sekunde seines Erscheinens auf der Bühne an dem Abend als Höllenfürst seinen Stempel aufdrückte. Terfel, der Teufel, möchte man witzeln, aber was dieser Mann an darstellerischer wie stimmlicher Präsenz und Spielfreude mitbringt, reicht für ein ganzes Ensemble. Es ist eine schiere Wonne, ihn dem ekelhaften Widerling mit solch beißender Ironie, dabei stets kontrollierter Berechnung Gestalt verleihen zu sehen und dabei gleichzeitig einer der schönsten und ausdrucksstärksten Bassbaritonstimmen zu lauschen. Die mitunter auch richtig fies klingen kann, dann wieder verführerisch beschwörend oder unmissverständlich gebieterisch – eben durch und durch wandelbar-wunderbar.

Was in gleichem Maße eben auch auf das Stück selbst zutrifft. Ich liebe diesen Zwitter aus Nummernoper und Oratorium mit seinen grellen Kontrasten und einem Reichtum an musikalischer Originalität, die mich heute wieder sprachlos zurückließ. Die Rattenfuge, der Höllenritt, klar, das sind Bomben voller Ironie, Galle und im Finale auch ganz viel Schwefel und Zunder, aber gerade auch in den intimen Passagen besitzt diese Musik soviel Subtiles, Feines, Zauberisches, stellt das ebenso seltene wie glückliche Zusammenspiel beseelter Inspiration und höchster Meisterschaft der Instrumentation dar. Die Ballade der Marguerite, wie sie vom Orchester vorbereitet, begleitet und aufgenommen wird, oder die verwunschene Irrlichtermusik, gleichsam bizarr und zart, Ohr und Gemüt hypnotisierend.

Fazit: wo Kostüm und Bühnenbild fehlen, übernimmt die Fantasie, und wenn sie so wahrhaft fantastisch wie heute befeuert wird, entsteht ein Musiktheatertriumph in uns.


Hector Berlioz – La damnation de Faust,
Dramatische Legende in vier Teilen op. 24

Marguerite – Sophie Koch
Faust – Paul Groves
Méphistophélès – Sir Bryn Terfel
Brander – Edwin Crossley-Mercer

Malmö Symfoniorkester
MDR Rundfunkchor Leipzig
Dirigent – Marc Soustrot