16. November 2014

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg

19:00 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 5, Reihe 1, Platz 2


Dylan Thomas – Do Not Go Gentle Into That Good Night (Gedicht)

Franz Schubert – Der Tod und das Mädchen, Streichquartett d-Moll op. 14, Allegro (Laeisz-Quartett)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 9 D-Dur



Allzu oft sollte ich mir diese Sinfonie wirklich nicht verabreichen. Mahlers Neunte, oder: Jedes Mal ein bisschen sterben. Eine Ahnung des Unausweichlichen. Der anderen Seite? Des Nichts? Oder anders herum betrachtet die Bewußtwerdung einer schier grenzenlose Liebe zum Leben, aus der sich dieses Nicht-Loslassen-Können speist. Am Ende allen Kampfes und Aufbäumens, aller Bitterkeit und Ironie, folgt nach dem Klagen und Sehnen doch das Verlöschen. Aber eines ist gewiß – zumindest bei Mahler – dort ist Güte und Trost, auch wenn es schmerzt. Ich muß darüber nachdenken, ob Trost der richtige Begriff ist. Diese Musik löst in mir einen Zustand aus, der Gegensätzlichstes wie durch ein Brennglas im Innersten vereint wachruft. Trauer und Hoffnungslosigkeit im Angesicht des Verlustes, gepaart mit der Gewißheit, im Vergehen Frieden zu finden. Erlebter und erinnerter Schmerz, umschlungen von tiefer Dankbarkeit in der gleichzeitigen Empfindung von Reinheit, Unschuld und Schönheit. Unwiederbringlich verloren und doch ganz zu Hause. Mit allem allein bei sich. Kein Zustand, dem sich ein gesunder, zufriedener, fröhlicher Mensch allzu oft aussetzen sollte. Obwohl oder gerade weil dieses Gefühl, dieses kleine bisschen Ahnung so süß schmeckt. Komm, süßer Tod, du Schlafes Bruder. Noch. Nicht.

Tate bleibt sich treu. Langsame Tempi, breit, warmer Klang, langer Atem. Nicht immer mein Tempo? Was ist schon „Mein Mahler“? Beispiel: Zweiter Satz mit weniger Wirkung – weniger zügig und kantig als ich es mag. Weniger Solti-Faktor. Dritter Satz: Dem ersten Eindruck nach ebenfalls „zu langsam“ – aber weit gefehlt! Was für eine unentrinnbare Konzeption der Tempoverschärfung auf den letzten Schlag des Satzes hin! Größtmögliche Entladung all der galligen Energie dieses Totentanzes und gleichzeitig krasse Fallhöhe für den Einsatz der flehenden Streicher zu Beginn des Finalsatzes.

Ich springe noch mal zurück an den Anfang des ersten Satzes. Gleich mit dem ersten Seufzermotiv der Violinen ist es um mich geschehen. Ich kenne kaum einen zweiten Dirigenten, der Tate in Sachen Streicherbehandlung das Wasser reichen könnte. So fein abgestimmt, so differenziert, so facettenreich. In diesem für mich vielleicht erschütterndsten aller Sätze aus der Feder Mahlers beweisen die Hamburger Symphoniker vom ersten bis zum letzten Takt ihre Meisterklasse. Einzig die Horngruppe lässt es hier und da etwas an Feingefühl mangeln – ein Eindruck, der mich auch in den folgenden Sätzen begleitet und der vielleicht auch nur auf ungünstige akustische Gegebenheiten zurückzuführen ist. Dieser Schluß liegt nahe, hält man sich vor Augen, welch unglaubliche Akribie Tate gerade in der Abstufung der Dynamik permanent an den Tag legt. Im letzten Satz steigert er dies Prinzip ins Extrem, wenn er nach den gewaltigen Steigerungs-Eruptionen die Streicher in kaum hörbarem Pianissimo fortfahren läßt – Ein Kontrast von unfassbarer Intensität, der mehr als sprichwörtlich den Atem verschlägt.

Aber so oder so, bei einer solch leidenschaftlichen Darbietung verschwinden Details im Fluss der Überwältigung. Bevorzugt geglaubte Tempi hin, liebgewonnene Einspielungen her, an diesem Abend war die Laeiszhalle vom Wesen und Geist Mahlers erfüllt. Die Hamburger Symphoniker und Tate mit der Neunten – mehr Mahler ist kaum denkbar. Wenn überhaupt ratsam.

3. November 2014

Orquesta Sinfónica Juvenil de Caracas –
Dietrich Paredes. Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Silvestre Revueltas – Sensemayá
Evencio Castellanos Yumar – Santa Cruz de Pacairigua

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 60 „Leningrader“



Pimp my Orchestra, oder: viel hilft viel – so könnte man vom ersten Eindruck der wundersamen Besetzungsvermehrung auf der erweiterten Laeiszhallen-Bühne geleitet witzeln, aber der Klang des riesenhaften Jugendorchesters entlastet umgehend vom Verdacht der bloßen Effekthascherei. Gut, das mitgebrachte Programm war jetzt auch nicht gerade auf ein schüchternes Sichvorstellen der Damen und Herren aus Caracas ausgelegt, gleich das Revueltas-Stück – eine Art Sacre-Burito für Zwischendurch – fällt eher mit der Tür ins Konzerthaus: „Hoppla, hier kommen wir!“ Und wie!

Dietrich Paredes kann man getrost als Starkstromdirigenten bezeichnen, dessen Spannung sich widerstandslos auf seine jungen Mitstreiter überträgt. Oder, um ein Paar Lateinamerika-Klischees in die Luft zu werfen: feurig, rassig, temperamentvoll. Der Stellenwert von kulturellen Klischees bzw. Erwartungshaltungen sollte mich übrigens dann überraschenderweise noch beim Schostakowitsch beschäftigen, aber der Reihe nach. Paredes steht einem Orchester vor, dessen Zusatz „Jugend“ sich mitnichten in mangelnder Reife oder Güte bemerkbar macht, wenn überhaupt dann in einer unwiderstehlichen Sturm-und-Drang-Vitalität, die manch etablierten Klangkörper sprichwörtlich alt aussehen bzw. klingen läßt.

Der Eindruck einer gewissen Fortissimo-Vorliebe bei Paredes beschlich mich dabei des Öfteren, wobei auch die Mammut-Besetzung und die Faktur der Werke vor der Pause ihren Anteil daran gehabt haben mögen. Auf das „Venezolanische Volksfest“ hätte ich persönlich jedenfalls verzichten können. Sehr – nett formuliert – eingängig folgt Abschnitt auf Abschnitt, einen wirklichen Spannungsbogen bleibt Herr Castellanos ebenso schuldig wie musikalisch Nachwirkendes. Einzig die ernste Passage nach dem Bratschensolo brachte ein wenig Abwechslung in den mal bunt-lärmenden, mal süßlich-schwelgenden Bilderbogen. Kurzum: Das ist einfach ganz und gar nicht meine Musik.

Was man von Schostakowitschs Œuvre nicht gerade behaupten kann. Umso bizarrer, ja eher noch frustrierender, die Tatsache, daß mich seine siebte Sinfonie, die ja zudem bekanntermaßen auch nicht zu den dürftigsten Eingebungen des Petersburgers/Leningraders gehört, heute nicht im Ansatz so mitgerissen hat, wie es das Potenzial der gegebenen Umstände verheißen hätte. Ein beherzt aufspielendes Orchester voller Virtuosität und Leidenschaft, angetrieben von seinem energischen Chefdirigenten, an dessen Interpretation es rein gar nichts zu bemängeln gab, ein Streicherklang, voll und seidig, schneidende Violinen, wie ich sie mir immer wünsche, sonore Bässe, elegante Holzbläser, ein majestätisches Blech, in seiner überwältigenden Wirkung durch die überaus großzügig bemessene Bühnenmusik-Sektion – rechts und links in den ersten Rang ausgelagert – bis an die akustische Schmerzgrenze gesteigert, dazu ein idealer Sitzplatz nah am Geschehen, der die räumliche Staffelung auf überragende Weise erlebbar machte, all diese Komponenten sollten nach Adam Riese einen Gesamteindruck ergeben, bei dem emotional kein Stein auf dem anderen bleibt. Denkste.

Und hier sind wir, wie angekündigt, beim Thema Erwartungshaltung und Klischees angelangt. Zumindest geisterte mir das durch den Kopf, während ich wie im falschen Film nach meiner ausbleibenden Begeisterung Ausschau hielt: Erscheint dir diese Musik gerade weniger russisch als sonst, weil sie von einem südamerikanischen Orchester dargeboten wird, oder ist das bloße Einbildung? Was heißt schon „russisch“? Einigen wir uns auf „weniger nach Schostakowitsch“. Irgendwie „südländischer“. Bin ich jetzt auf meine alten Tage unter die Rassisten gegangen? Hör genau hin, hörst Du einen objektiven Unterschied? In der Bogenführung vielleicht? In der Betonung und Phrasierung, gerade der rhythmischen, der tänzerischen Elemente? Also Dampf ist in jedem Fall auf dem Kessel. Die sonst so ergreifenden Passagen des Adagio ziehen trotz himmlischen Streicherklanges bedeutungslos an mir vorbei, wie um ihrer eigentlich verinnerlichten Aussage beraubt. Das Finale ist an Wucht und Intensität kaum zu überbieten, dennoch fühle ich mich mehr im Auge des Sturms denn den Gewalten ausgesetzt. Ich bin überfordert.

Man beschwert sich ja auch nicht, wenn die Wiener oder Berliner oder Amsterdamer oder Bostoner Schostakowitsch spielen. Oder Sibelius. Oder Ginastera. Oder doch? Dazu müßte ich mal den ein oder anderen Finnen oder Argentinier befragen, wenn ich mal einen zur Hand habe. Musik ist eine Sprache, die überall verstanden wird. Klingt erst mal gut, ist aber vielleicht in letzter Instanz Humbug – man muß ja gar nicht erst nach Afrika oder Fernost schweifen, um festzustellen, daß die kulturelle Vielfalt in der Welt uns durchaus manchmal an Grenzen des Fasslichen bzw. auf Anhieb Verständlichen bringt. Ein Wagner wird an der Scala wohl auf absehbare Zeit einen Verdi in der Gunst des Publikums nicht überflügeln, ohne daß ihm daraus jemand ernsthaft einen musikalischen Mangel ableiten würde. Die Geschmäcker sind halt verschieden.

Und wer sagt denn nicht, daß es GERADE das südliche Temperament dieser Musiker war, das diese herrliche Sinfonie unbestreitbar zum Triumph bei so ziemlich allen anderen Besuchern der Laeiszhalle werden ließ? Fest steht nur, daß ich die Diskrepanz zwischen erlebter Qualität und empfundener Reaktion darauf nicht erklären kann, so viel Gedanken und Worte ich auch darauf ver(sch)wenden mag. Im Zweifel war heute einfach nicht mein Tag. Trotzdem irgendwie schade.

Am Ende bin ich jedoch froh und dankbar, dieses großartige Orchester gehört zu haben. Ich hoffe, ich werde einmal die Gelegenheit erhalten, diese unwirkliche Begegnung bei einem Wiedersehen unter anderen Bedingungen vertiefen zu können.