31. August 2017

Anima Eterna Brugge – Jos van Immerseel.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 15, Bereich N, Reihe 2, Platz 28



„The Gershwin Project“

George Gershwin –
Rhapsody in Blue (Frank Braley – Klavier)
Ein Amerikaner in Paris

(Pause)

Catfish Row / Suite aus Porgy and Bess
The Man I Love / aus: Lady, Be Good!
I Got Rhythm / aus: Girl Crazy
My Man’s Gone Now / aus: Porgy and Bess
By Strauß / aus: The Show is On
Zugabe: Summertime / aus: Porgy and Bess
(Yeree Suh – Sopran)



Irgendwie wollte der Funke heute nicht überspringen. Gershwin im Altersheim ist offenbar doch nicht so ne gute Kombi. Zumindest nicht, wenn er derart harmlos und behäbig dargeboten wird, wie durch den James Last von Antwerpen, Jos van Immerseel. Die Begeisterung hielt sich auf meiner Seite und im Saal insgesamt in Grenzen. Dabei machte das Publikum einen ähnlich ungeschulten Eindruck wie gestern, und ich hätte gedacht, dass die Mischung aus Blankoscheck-Busladungen und anderen Gelegenheitsbesuchern das überaus massentaugliche Angebot mit so viel „richtiger“ Musik heute dankbarer aufnehmen würde als das gestrige. Erst als mit der Sopranistin zum Finale ein neuer, optischer Reiz ins Spiel kam – am Gesang kann es wahrlich nicht gelegen haben – geriet man etwas mehr in Wallung.

Aber der Reihe nach, (mangelnde) Wallung ist schon das richtige Stichwort. Schwammige Rubato-Allüren und andere unmotivierte, teils regelrecht energiesaugende, flussverhindernde Tempowechsel, die zusammen mit einer verblüffend ungroovigen Lesart selbst aus der an sich unverwüstlichen Rhapsodie eine langatmige Angelegenheit machten, ließen die Verweildauer des Amerikaners in der französischen Kapitale doch arg geduldstrapazierend wirken. Dabei hatte ich mich gerade auf diese nette sinfonische Dichtung mit Autohupenbegleitung gefreut – Pustekuchen. Viel zu wenig Kante und Drive, dafür viel zu viel Akademisches und Gedeckeltes. Jazz im Schlafrock – die Oberstufen-AG möchte ihre Interpretation wiederhaben. Wenn man es sehr gnädig betrachtet, könnte man sicher von Understatement und elegantem Zugang fabulieren, ich fand es einfach einlullend und beliebig.

Dabei ist das Orchester in Ordnung, der Klang tadellos, die Technik trotz angezogener Handbremse gegeben, einzig der erste Teil des Trompetensolos im Amerikaner in Paris ging komplett daneben. Der Pianist der Rhapsodie tat sein Bestes, überhaupt sorgten Einzelleistungen der Musiker für klangliche Oasen in der interpretatorischen Wüste. Immer wieder waren es vor allem die Holzbläser, die daran erinnerten, welch tolle Kompositionen hier verheizt wurden, beispielhaft die Klarinette der Rhapsodie oder das einfühlsame Solo des Englischhorns im Parisurlaub. Die Verwendung historischer, bzw. zeittypischer Instrumente hatte im Erleben der „Exoten“ wie Sousaphon oder einem Steinway von 1906 eine gewisse museale Attraktion, die überschaubare Besetzung, insbesondere der Streicher, scheint ebenfalls diesem Authentizitätsanspruch geschuldet. Für meinen Teil bleibt die historische Aufführungspraxis jedoch eine Nische, in die ich nur dann und wann der Vollständigkeit halber einen Blick werfen möchte.

Nach der Pause nahm das Trauerspiel unverändert seinen Lauf. Die Suite aus Porgy ans Bess scheint ein ziemlich packender Querschnitt der Oper zu sein – der ebenfalls wirkungslos an mir vorbeizog. Den Tiefpunkt des Abends markierte dann das Zusammenwirken mit Frau Yeree Suh. Hatte ich mir zuvor schon die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen, welches Instrument denn bitte mit der rings um die Bühne angeordneten Lautsprecheranlage der Verstärkung bedürfe, gaben die ersten Töne aus dem Munde der Sopranistin darüber bitteren Aufschluss. Das heißt, vielmehr das, was man NICHT zu hören vermochte. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine kleinere Stimme in einem Saal dieser Größenordnung (fast) gehört zu haben. Blöd dann auch, wenn die Verstärker-Anlage nicht funktioniert, oder deutlich zu subtil eingestellt ist. Das war schon nicht ohne unfreiwillige Komik, einen bekannten Gassenhauser wie „I Got Rhythm“ quasi als Karaokeversion dargeboten zu bekommen. Hat sich aber niemand dazu hinreißen lassen, mitzuträllern. Beim dritten Lied war die Sängerin sogar plötzlich etwas lauter zu vernehmen, mit dem Ergebnis eines grundweg unnatürlichen Konservenklangs. Dann doch lieber den Stecker ziehen und sich das Volumen dazudenken.

An die alternative Erklärung, dass es nicht an der Künstlerin selbst – welche stimmgewichtig dem Barockfach zuzueignen ist – sondern dem Saal bzw. akustischen Unwägbarkeiten lag, mag ich angesichts einer zum Teil aus der hinterletzten Ecke ohne jegliche Einschränkung erlebten „Ariodante“ (Link) nicht so recht glauben. Der Fairness halber sei aber gesagt, dass ich über die eigentliche stimmliche Qualität der Sängerin kaum etwas sagen kann – dazu hätte es mehr als nur die vage Ahnung von Timbre, Charakter etc. bedurft. Am Ende reichte die Ökonomie des Vortrags sogar noch für eine Zugabe: Summertime, zuvor schon in der Suite gehört, nun mit untermotorisierter Stimme ein zweites Mal. Und so einfach geht das mit der Begeisterung der Ahnungslosen – was Nettes, Bekanntes aus dem Munde einer adretten Dame und man kann mit Fug und Recht auf dem Heimweg konstatieren: „Schön war’s!“ Ganz, ganz toll.

Fun fact: Beim Rausstürmen aus den Katakomben der Elbphilharmonie ins Dunkel hätte ich fast Herrn Toyota über den Haufen gerannt. Vielleicht wäre es ihm möglich gewesen, meine Stimmchen-Verstimmung aus Akustikersicht zu erhellen, aber die Zeit wird ohnehin zeigen, ob heute nur ein bedauerlicher Ausrutscher war.

30. August 2017

Gustav Mahler Jugendorchester – Ingo Metzmacher.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 15, Bereich N, Reihe 3, Platz 20



Olivier Messiaen – Turangalîla-Sinfonie
(Jean-Yves Thibaudet – Klavier,
Valérie Hartmann-Claverie – Ondes Martenot)



Womit wir wieder beim Thema Eignungstest für Konzertbesuche(r) wären. Was für eine Quälerei, die sich da unzählige Stoffel mit diesem wundervollen Werk aufgehalst haben, nur um einmal die Herzkammer von Hamburgs beliebtester Aussichtsplattform mit Parkdeckanbindung von innen gesehen zu haben. Gesehen wohlgemerkt. Mit einer Karte, die einem der Zufall, das Schicksal oder die gnädige Fügung eines Arbeitgebers und gleichzeitigen Sponsors in den unkundigen, unvorbereiteten, vorbereitungsunwilligen Schoß fallen ließ.

All diesen armen, geknechteten Seelen ist leider verborgen geblieben, welch Spitzenkonzert sie da gerade überfordert hat. Zehn Sätze Kontemplation bis Ekstase, vollendet dargeboten vom Gustav Mahler Jugendorchester. Wobei man den Zusatz „Jugend“ in Bezug auf das reine Ergebnis getrost streichen könnte – hier sitzen keine Fahranfänger, sondern professionelle Piloten, die die Mitglieder manch anderer gediegener Rennställe alt aussehen lassen. Da hat Abbado schon was Feines initiiert. Um Nachschub für das Mahler Chamber Orchestra muss einem nicht bange sein.

Auch wenn ich weder Messiaen- noch Turangalîla-Experte bin, wüsste ich nicht, wie man diese Sinfonie mit mehr Konsequenz und vor allem Vehemenz rüberbringen könnte, als es Metzmacher heute gelungen ist. Wirklich beeindruckend, mit welcher Wirkung er sich (auch) als Anwalt der sogenannten modernen Musik auszeichnet – das Konzert mit den Wienern an gleicher Stätte war eine Offenbarung (Link). Obgleich Messiaen am Ende des Tages wohl in meinen Privat-Olymp der „Modernen“ nicht die Sympathiegipfel eines Britten und Schostakowitsch erklimmen wird, so hat sich an diesem Abend doch eingelöst, was sich in einigen vorherigen, flüchtigen Begegnungen, meist auf CD, angekündigt hat – ich mag den Mann! Als Freund der Variation nehme ich die Turangalîla-Symphonie mit ihren vielgestaltig wiederkehrenden Motiven und Mustern ebenso dankbar wie fasziniert auf.

Überwiegen auf den ersten Blick in der archaischen Artikulation und Rhythmik vielleicht noch Bezüge zum Sacre Strawinskys, ist es mit fortschreitender Dauer unter anderem die teilweise entwaffnend liebliche Melodik und Harmonik, welche den Personalstil Messiaens selbst Laien wie mir beim ersten Kennenlernen vermittelt. Allerdings muss ich gestehen, dass der Erstkontakt mit diesem Werk, sogar als Liveerlebnis, bereits vollzogen war, obwohl das Konzert in der Alten Oper Frankfurt mittlerweile mehr als 10 Jahre zurückliegt. Wie dem auch sei, die musikalische Sprache Messiaens hält immer wieder Momente bereit, ob im Taumel des rhythmischen Rausches oder in Passagen der Ruhe, die von einer verblüffenden Süße sind, bittersüß, wie ich das sonst nur von seinem Landsmann Poulenc kenne, der ebenfalls gern mal solch duftige Harmonien aus dem Nichts zaubert – gar ein französisches Phänomen?

Ich möchte mich in diesem Zusammenhang ausdrücklich gegen den Kitsch-Begriff wehren. Eher naiv im Sinne kindlicher Reinheit. Begriffe wie Güte, Anteilnahme, Verspieltheit, Witz, von mir aus auch Sentimentalität kommen mir in den Sinn. In jedem Fall ist die Wirkung dieser konsonanten Inseln, Kraft ihrer Implementierung in ein so komplexes, ausdrucksbreites Gefüge, welches aus dem Arsenal der das rein Tonale überwundenen Entwicklung gespeist wird, in höchstem Maße anregend. Und für einen solchen Klops der Moderne obendrein ziemlich einstiegsfördernd. Die Melodielinien, welche Frau Hartmann-Claverie (übrigens auch seinerzeit in Frankfurt) dem Ondes Martenot entlockt, das oft als eine Art Leitinstrument für die Streicher fungiert, greifen die Emphase der Spätromantik auf, es sehnt, seufzt und jauchzt, dass es beinahe schon trieft. Im Gegensatz dazu brennt sich z.B. das immer wiederkehrende Posaunenmotiv trotz oder gerade wegen seines schroffen Charakters ein – nebenbei bemerkt: Was für eine Perfektion des Klangs, den die Blechgruppe insgesamt an diesem Abend demonstriert.

Darüber hinaus vereint das Werk sehr anschaulich, wofür Messiaen mir vom Hörensagen bereits ein Begriff war. Einflüsse der traditionellen indonesischen Gamelan-Musik sind in der groß dimensionierten Schlagwerkabteilung inklusive Klavier ((Jean-Yves Thibaudet mit einem Anschlag-Ambitus von Amboss bis Daune) auszumachen, die gefiederten Motivbausteine, die der Ornithologe im Komponisten in seine Partitur integriert hat, die teils deutlich registerartige Behandlung des Orchesters, welche den Organisten im Komponisten verrät, allgemein die Liebe zum Farbigen, Rauschhaften. Und berührende Klangmalerei findet sich zur Genüge, etwa wenn Messiaen die Kontrabässe und alle weiteren tiefen Stimmen an einer Stelle erst komplett außen vor lässt, hohe Streicher und Bläser dieses fast schon choralartige Thema intonieren, bis dann schließlich das Bassfundament zugeschaltet wird. Glücklicherweise fanden sich trotz der eingangs monierten Sonntagshörer genug Musikfreunde im Saal, um dieses außergewöhnliche Konzert gebührend zu feiern.

17. August 2017

Das Phantom der Oper – Stummfilm mit Livemusik.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich R, Reihe 1, Platz 16



Das Phantom der Oper
Regie: Rupert Julian, USA 1925
Franz Danksagmüller – Orgel



Nach einem Monat sommerpauslicher Abstinenz geht das Abenteuer Elbphilharmonie für mich nun also weiter, gleich mal mit etwas ganz anderem: Die große Orgel als Begleitinstrument für einen Stummfilm-Klassiker. Eine Leinwand beherrscht die Bühne, welche bis auf den Manualtisch des Organisten verwaist ist. Die Plätze neben und hinter der Projektionsfläche sind schlauerweise nicht in den Verkauf gegangen, Notenpulte mit Infoblättern weisen dezent darauf hin, dass jene Reihen heute nicht zur Verfügung stehen. Wobei der gesunde Menschenverstand und der Wille, auch visuell auf seine Kosten zukommen, dem ohnehin im Wege stehen sollten. Aber im Ernst, wirklich gut gemacht das Ganze, man hat selbst daran gedacht, die in die Treppenstufen eingelassene Beleuchtung in Leinwandnähe mit schwarzem Tuch abzudecken. Einzig das Geländer zerschneidet von meiner Warte aus unausweichlich das Sichtfeld, hier sind das Parkett und die unteren Ränge klar im Vorteil. Ein weiteres, individuell wahrgenommenes Manko: 15 R, zumindest mein Platz, ist doch schon ein wenig zu nah an der Königin der Instrumente.

Das wird gleich mit dem ersten, zu den Eingangstiteln des Films schlagartig einsetzenden, dissonanten Akkord deutlich, der mit unvermittelter Härte und brutaler Lautstärke das Ohr ereilt. Auf der anderen Seite: kein schlechter Effekt. Generell ist es auch weniger die schiere Lautstärke das Problem, sondern eher das Empfinden, doch sehr direkt an den Verlautbarungen der Pfeifen teilzuhaben - eine größere Distanz hätte sicher mehr Raumklang und Homogenität zur Folge gehabt. Nichts desto trotz entwickelt sich der Abend zu einer höchst gelungenen, spannenden Angelegenheit. Die Kombination aus Stummfilm und (in welchem Maße auch immer improvisierter) Begleitung funktioniert bestens. Natürlich ist der Film selbst etwas in die Jahre gekommen, gerade die Anlage der Charaktere, inklusive der Titelfigur, weist angesichts ihrer Simplizität und Überzeichnung eher die Nähe zur (aus heutiger Sicht) harmlosen Schauerromanwelt der Vorlage, denn zu tiefenpsychologischem Horror auf. Die ungleich dichtere, suggestivere Atmosphäre des einige Jahre älteren "Nosferatu" Friedrich Wilhelm Murnaus drängt sich als Vergleich auf.

Dennoch bietet der Film, lässt man sich einmal auf das, angesichts der sehr überschaubaren Handlung, doch ziemlich langsame Erzähltempo ein, eine Vielzahl eindrücklicher Momente. Namentlich die Vermittlung der Faszination jener Bühnen- und Unterwelt der Pariser Oper sowie die Einführung seines rätselhaften Phantom-Untermieters in Andeutungen und Schatten. Die Zeichnung des Phantoms selbst verliert für mich ab dem Moment ihren Reiz, nachdem es die faszinierend ausdruckslose, kalte Maske entzogen bekommt und wir mit der Maske des eigenen, entstellten Antlitzes konfrontiert werden, die eine Art permanenter Überausdruck eher in den Bereich des unfreiwillig Komischen treibt. Und doch gibt es auch hier Einstellungen, die den Wahnsinn Eriks besser einfangen als dessen allzu theatralische Gesten, etwa eine ruhige Ansicht der Fratze, von gespenstischen Schatten umflackert, oder die verwackelt gefilmte Raserei des verfolgten Phantoms auf dem Kutschbock. Darüber hinaus wartet der Film durch seine Ausstattungswucht und die aufwändigen Massenszenen, allen voran die nachcolorierte Ballsequenz, mit Schauwerten auf, die auch heute noch begeistern können.

Die Arbeit Danksagmüllers tut ihr übriges, den Handlungsverlauf mit sorgsam austarierter Dramaturgie in einer Vielzahl von musikalischen Stimmungsbildern fesselnd zu unterstützen. Dabei gibt es neben illustrativen Entsprechungen im Sinne des Mickey-Mousings – so begleitet beispielweise eine absteigende Tonfolge Stufe um Stufe den Gang in die Kellergewölbe – immer wieder minutiös entwickelte Steigerungen, die den Spannungsbogen bei entsprechenden Entwicklungen intensivieren. So mischt sich in der Kronleuchterszene unmerklich aber dann sehr deutlich eine verzerrte Variante in die konsonante Bühnenmusik, bis sich diese mit dem Fall des Lüsters ins Publikum vollends in Auflösung befindet und das ausbrechende Chaos illustriert. Das majestätische Orgelspiel Eriks, der Christine seine Komposition des "Don Juan Triumphant" präsentiert, enthält gut hörbar jenen "warnenden", bzw. bedrohlichen Unterton, auf den das Phantom selbst hinweist und der mit der Demaskierung seine Einlösung erfährt. Die finale Verfolgungsjagd durch den Lynchmob gestaltet Danksagsmüller ebenfalls als beeindruckende, atemlose Steigerung, in die er vielsagend die bekannte Tonfolge des "Dies Irae" einwebt.

Aber auch für die weniger effektgetriebenen, leiseren Schlüsselmomente des Film findet der Solist und Komponist starke Entsprechungen, etwa wenn er der überirdischen Stimme des "Engels der Musik", von der wir ja ansonsten nur durch die Zwischentitel erfahren, mit irisierenden Klängen akustische Gestalt verleiht. Ebenso fein, ja delikat vertont ist die Szene auf dem Dach der Oper, wo ein kristallines Gewebe die Verletzlichkeit der nächtlichen Unterredung zwischen Christine und Raoul herausstellt, die schließlich vom Phantom belauscht werden. Als erhellenden "Nebeneffekt" brachte die vielgestaltige Komposition die Wandlungsfähigkeit und Differenzierungsmöglichkeiten der herrlichen Orgel hervor – ich freue mich bereits jetzt auf mein entsprechendes Abo, möchte aber doch hoffen, dass dieses Konzept der Stummfilmumsetzung kein einmaliges Vergnügen bleiben wird.

12. August 2017

Tristan und Isolde – Christian Thielemann.
Festspielhaus Bayreuth.

16:00 Uhr, Türe IV links, Reihe 17, Platz 13



Immer wieder faszinierend, wie sich so ein Opernabend – bzw. in Bayreuther Maßstäben Operntag – doch entwickeln kann. War die musikalische Qualität gleich ab Beginn der Aufführung über jeden Zweifel erhaben, erfuhr die szenische Umsetzung Akt für Akt eine ungeheure Steigerung der Intensität. Es mag auch der ebenso redseligen wie statischen Anlage des ersten Aufzuges geschuldet sein, dass, innerhalb eines Bühnenbild gewordenen Escher-Zitats, welches sinnbildlich und konkret das Zueinanderfinden der beiden Titelpartien bis kurz vor Aktschluss verhindert, die dialogfixierte Handlung etwas schwer in Gang kommt. Interessant hierbei: Tristan und Isolde streben von Anfang an zueinander, werden jedoch von ihren jeweiligen Dienern resolut davon abgehalten. Die Sache ist also klar, nur die äußeren Umstände verhindern vorerst den Drang des Paares, an die gemeinsamen Geschehnisse in Irland anzuknüpfen. Demzufolge ist es nur konsequent, dass der Liebestrank nicht getrunken, sondern im entsprechenden Moment vergossen wird. Der vorgebliche Gifttrank ist nur der Auslöser für beide, im Angesicht des sicher geglaubten Todes die Fesseln der gesellschaftlichen Zwänge abzulegen und dem inneren Trieb nachzugeben. Das zögerliche Hin-und Herreichen des Tranks, bei dem die erst zufälligen, dann immer länger werdenden Berührungen der Hände zunehmend an Zärtlichkeit gewinnen, gehört zu den stärksten Eindrücken dieses szenisch doch insgesamt etwas unmotiviert empfundenen ersten Aufzugs. Vielleicht gehörte auch eine gewisse Gewöhnungsphase dazu, die teils heftig agierende, jedoch stumme Darstellerin und "ihre" Stimme von der Seite der Bühne im Kopf in Einklang zu bringen.

Ab dem zweiten Aufzug waren sowohl diese Diskrepanz als auch etwaige letzte Zweifel an der Regiearbeit verflogen. Katharina Wagner verortet den rauschhaften Sog der gemeinsamen Liebesnacht tiefenpsychologisch motiviert in einem Gefängnishof, das Paar beäugt von Marke selbst und seinen Schergen, die die Szene teils mit Suchscheinwerfern von einer Art Wehrgang aus beleuchten. Das Bild des Gefängnisses, aus dem es kein Entrinnen gibt, verbunden mit der permanenten Gefahr des Entdecktwerdens, ist eine ebenso einfache wie zwingende Umsetzung der Innenwelt der Liebenden. Während Kurwenal verzweifelt versucht, einen Ausweg aus dem Kerker zu finden und scheitert, nutzen Tristan und Isolde die Gegebenheiten, um ihre "Nacht der Liebe" trotz aller Widrigkeiten wahr werden zu lassen. Haben sich beide zu den berühmten Zeilen noch ein sternbesetztes kleines Zelt geschaffen, dass sie vor dem verhassten Licht der Scheinwerfer, letztlich des verhassten Tages schirmt, zerreißt Tristan schließlich das Tuch. Zur musikalischen Vorwegnahme der finalen Verklärung Isoldens, dem "So starben wir um ungetrennt ...", stehen beide fest nebeneinander in der Mitte des Gefängnishofs, die Gesichter im Dunklen, nur die Silhouetten illuminiert, während im Hintergrund die schemenhaften Projektionen einer Frau und eines Mannes langsam aber sicher miteinander verschmelzen. Was sich niedergeschrieben vielleicht kitschig ausmacht, gehört zweifellos zu den anrührendsten Momenten, derer ich je in einem Theater beiwohnen durfte. Interessantes Ausstattungsdetail: Sämtliche Elemente des Verließes bestehen aus Bögen, die beispielsweise als trügerische Sprossen einer Leiter, oder als folterinstrumentartige Anordnungen von Metallringen Einsatz finden, die das Paar umschließen, und an dem sie sich schließlich in gegenseitigem Einvernehmen ihre Pulsadern auftrennen. Die Rückkehr Markes macht deutlich, dass Katharina Wagner die Figur fernab der gängigen, zwischen onkelig und treudoof changierenden Lesart sieht – der König ist hier ein zynischer Sadist, der sich das Spiel in Ruhe angesehen hat, um es nun nach seinen Spielregeln zu beenden. So reicht er am Ende des Akts dem zögernden Melot das Messer, mit dem dieser den knieenden Tristan rücklings niedersticht.

Die szenische Gestaltung des dritten Aktes wiederum gehört zum Sublimsten, was auf einer Bühne möglich ist. Die Umsetzung der wahnhaften Fieberschübe Tristans als stetig variierte Vision seiner Geliebten, die jedesmal schlaglichtartig erscheint, nur um sich auf alle nur erdenklich grausame Weisen ihm wieder zu entziehen, ist in seiner radikal-artifiziellen wie suggestiven Ausformung ebenso genial wie erschütternd. Jede neue Lichtpyramide birgt eine weitere blau gewandete, gesichtslose Frauengestalt, die dem Sehnen Tristans doch nichts als ein Trugbild ist. Einmal versinkt die Figur vor seinen Augen wie in Treibsand, eine weitere zerfällt wie eine Puppe, das Antlitz einer anderen füllt sich mit Blut – der Albtraum seines Todeskampfes hat viele Gesichter und doch nur eines. An einer Stelle reißt Tristan die leblose Hülle in Fetzen, so wie sie es beide gemeinsam im ersten Akt mit dem Brautschleier gemacht hatten. Von all dem nehmen Kurwenal und sein weiteres Gefolge keine Notiz, sie harren unbewegt an seinem Kranken- , vielmehr Totenbette aus. Vielleicht sind die Grabkerzen ein Indiz, dass ihr Held die ganze Zeit zu ihren Füßen liegt, sein Ringen die Schwelle des Todes gar schon vor Isoldes Ankunft überschritten hat. Die letzte Musik mag Isolde gehören, die Tristan noch einmal der verlogenen, von Marke angeordneten Staatstraueraufbahrung entreißt und ihn, von ihren Händen geführt, für einen Moment den Anschein des Lebendigen verleiht, doch das letzte Wort hat der König, wenn er seine Gemahlin mit festem Griff von der Leiche seines "besten Freundes" wegzerrt – Der Traum ist vorbei, die Realität als folgsames Weib an seiner Seite beginnt.

Als ich den Besetzungszettel der heutigen Aufführung auf dem sonnenbeschienenen Vorplatz des Theaters studierte, verfinsterte sich unvermittelt meine Miene: Ein Tristan, ein Marke – aber zwei Isolden, die in stimmlicher und szenischer Arbeitsteilung die Partie gestalten. Das kann ja heiter werden. Etwa acht Stunden später kann ich es bei Rindsroulade und Kloß im Goldenen Löwen immer noch kaum glauben, welche musikalischen Sternstunden da gerade durch mich hindurch gegangen sind, den Zustand beseelter Dankbarkeit initiiert haben. Ricarda Merbeth verleiht der Isolde jene stimmliche Präsenz und Qualität des Ausdrucks, wie sie für diese emotionale Verausgabung unerlässlich ist, Stephen Gould gibt einen Tristan mit schier unerschöpflichen Reserven, bei dem jedoch ungeachtet aller dynamischen Ausbrüche, vor allem der berserkerhaften Abbildung der Fieberkurve des dritten Aktes, die intimen, zarten Momente auch als solche angelegt sind – beachtliche Feinheiten für solch eine große Stimme. Von den Nebenrollen setzen sich Christa Mayer als Brangäne mit volltönendem, reichem Timbre und der unvergleichliche René Pape als teuflischer Marke mit himmlischem Bass-Balsam am meisten in der Erinnerung fest, wobei die Besetzung keine Schwachstellen kennt. Ungeachtet dieser akustischen Wonnen erwächst das eigentliche musikalische Ereignis den Tiefen des Bayreuther Grabens, von wo Christian Thielemann das Festspielorchester zu einer bedingungslos ekstatischen Leistung antreibt, wie sie nur schwer zu toppen sein dürfte. Zwischen wollüstiger Raserei und fragilster Verklärung des Augenblicks geht dieser Tristan aufs Ganze – nicht abreißen wollender Jubel und stilles Erfülltsein nach dem letzten Vorhang.


Richard Wagner – Tristan und Isolde
Musikalische Leitung – Christian Thielemann
Inszenierung – Katharina Wagner
Bühne – Frank Philipp Schlößmann, Matthias Lippert
Kostüm – Thomas Kaiser
Dramaturgie – Daniel Weber
Licht – Reinhard Traub
Chor – Eberhard Friedrich

Tristan – Stephen Gould
König Marke – René Pape
Isolde – gesungen von Ricarda Merbeth, gespielt von Petra Lang
Kurwenal – Iain Paterson
Melot – Raimund Nolte
Brangäne – Christa Mayer
Ein Hirt – Tansel Akzeybek
Ein Steuermann – Kay Stiefermann
Junger Seemann – Tansel Akzeybek

Der Festspielchor
Das Festspielorchester