14. Mai 2017

Ariodante – Harry Bicket.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12 Bereich D, Reihe 3, Platz 4 (Akt 1), Etage 15 Bereich L, Reihe 4, Platz 7 (Akt 2 und 3)



Stell dir vor es gibt Weltklasse in der Elbphilharmonie und keiner geht hin. Fraglos eine Übertreibung, allerdings stimmt die Menge an grauen Rückenlehnen, welche im aktuell naturgemäß ausverkauften großen Saal der Elbphilharmonie die Sitzreihen sichtbar unterbrachen und sich nach jeder Pause ausbreiteten, angesichts der somit vielen Musikfreunden genommenen Möglichkeit der Teilhabe an diesem grandiosen Abend mehr als irritierend. Gut, man hat also keinen Bock auf vier Stunden Händel im Abo, traut dem welken Sitzfleisch oder der Akkuleistung des Hörgerätes nicht, geschenkt, aber warum gibt es in Fällen wie diesen keine Möglichkeit, wirklich interessierten Menschen den Sitzplatz zu überlassen? Vielleicht über eine Online-Plattform. Ach ne, falsche Zielgruppe. Dann doch eher ein Last-Minute-Anruf bei der Elphi, man gebe den Sessel für heute frei. Oder von mir aus auch per Fax oder Brieftaube, Hauptsache die Kunst kommt an die richtigen Leute. Klar, ist alles mit Aufwand verbunden und verkauft ist verkauft, war auch nur so ne Überlegung aus dem Frust heraus.

Ansonsten verlief die Aufführung, wie bereits angedeutet, alles andere als frustrierend – begeisternd und erhellend sind die Vokabeln der Wahl. Die Begeisterung erklärt sich unmittelbar aus der immensen Qualität, welche alle beteiligten Künstler heute abriefen. Dass der ursprünglich für die Titelpartie vorgesehene Superstar, Frau DiDinato, ihrem Engagement krankheitsbedingt nicht nachkommen konnte, gerät angesichts der hinreißenden „Vertretung“ Alice Coote zur Randnotiz. Deren ausdrucksstarker, gleichsam beseelter wie flexibler Sopran bildete den Fixstern um ein Sängerensemble, das ohne Ausnahme bis in die kleinste Rolle absolute Spitzenqualität lieferte.

Frau Kargs zauberhaft lyrische Stimme, in Kontrast dazu der herb-feurige Mezzo Sonia Prinas, die auch in dieser konzertanten Aufführung durch ihre überbordende Spielfreude aus Kehle und Gestik dem verschlagenen Polinesso ein lebendiges Gesicht gab und dadurch das Publikum im Sturm eroberte. Insbesondere die Szenen mit Mary Bevan als Darlinda, der Polinesso seine finsteren Absichten geschickt verschleiert einträufelt, sind von besonderer Intensität – auch gerade schauspielerisch – ganz ohne Kostümierung oder Requisiten. Auch die kleineren Rollen wie Lurcanio (David Portillo mit schlank-edlem Tenor voller Schmelz), der König (Matthew Brooke ungemein intensiv in der Erschütterung über die scheinbare Treulosigkeit Ginevras) oder selbst die ergänzende Tenorpartie des Odoardo (Bradley Smith) tragen zum phänomenalen Gesamteindruck bei. Harry Bicket und The English Concert geben ein Beispiel davon, wie berührend historische Aufführungspraxis sein kann, wenn technische Perfektion mit großer Leidenschaft einhergeht.

Neben diesen Eindrücken höchster Qualität bestimmte den Abend noch ein weiterer Faktor – die Möglichkeit, wieder einmal der Akustik der Halle auf den Zahn zu fühlen. Spannende Erkenntnis: Der Klangeindruck unter dem Dach auf Ebene 15 L ist, bezogen auf die Stimmen, verglichen mit meinem Stammplatz auf 12 D, nicht unbedingt schlechter. Logischerweise ist der Gesang in Bühnennähe präsenter, dafür bekommt er dort oben trotz der Distanz eine runde, volle Gestalt, die trotz geringerer Lautstärke eine enorme Nähe zum Bühnengeschehen erzeugt – ein weiterer Beleg für die vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten, die die Elbphilharmonie für unterschiedliche Geschmäcker bereithält.


Georg Friedrich Händel – Ariodante HWV 33 / Dramma per Musica

Ariodante – Alice Coote
Ginevra – Christiane Karg
Lurcanio – David Portillo
Polinesso – Sonia Prina
Dalinda – Mary Bevan
Re di Scozia – Matthew Brook
Odoardo – Bradley Smith

The English Concert
Musikalische Leitung und Cembalo – Harry Bicket