25. November 2018

Götterdämmerung – Axel Kober.
Opernhaus Düsseldorf.

17:00 Uhr, Orchestersitz links, Reihe 5, Platz 153



Gutrune als Fixerbraut, Gunther als Edel-Alki und dann lässt sich Siegfried am Gibichungenhof auch noch ganz ohne Amnesie-Drink den doch ach so in ewiger Minne zu Brünnhilde entflammten Kopf verdrehen – das sind natürlich für den geneigten Erz-Wagnerianer unhaltbare Zustände, Sakrilegien am heiligen Hort Richard’schen Kulturgutes.

Ein einzelnes, schwachbrüstig-empörtes „Buh“ als Lautmeldung zu Gutrunes Griff zum Heroinbesteck zeugte von dieser Geisteshaltung eines eher überschaubaren Auseinandersetzungswillens mit den angeblich so heiß geliebten und verinnerlichten Klassikern. In mir lässt jenes irritierende Geräusch eher eine Mischung aus Mitleid und Fassungslosigkeit aufkommen und ist akustische Bestätigung dessen, dass Dietrich Hilsdorf und sein Team mit dieser Götterdämmerung, wie schon in den vorangehenden Teilen der Tetralogie, einiges richtig gemacht haben, mehr noch, auch inszenatorisch einen Ring zu schmieden wussten, der Wagners Riesenwerk ins Mark durchleuchtet und für mich persönlich spätestens mit diesem Schlussstein Referenzcharakter erreicht hat.

Es ist doch nicht so schwer: Gutrune ist halt verzweifelt am Hofe ihres Schwächling-Bruders – hier als Säufer dargestellt – und will folgerichtig bei ihrem ersten Auftritt gleich wieder abtreten und sich wie Rose in Titanic über die Heckreiling des Rheindampfers stürzen, der die Gibichungenhalle gibt. Überhaupt inszeniert Hilsdorf den Rhein gleich als Wink an die Oper am Rhein mit, inklusive Düsseldorfer Brücke (und Duisburg-Panorama?) Die Nornen am Rhein, oder: draußen nur Kännchen. Mit dem Kellner wird sich der Kreis bzw. Ring am Ende schließen.

Doch bis dahin gibt es noch eine Menge zu reflektieren. So erliegt Siegfried nicht dem Trank, sondern schlicht seinen Trieben. Das ergibt insofern Sinn, wenn man sich den Text später in der Rheintöchterszene einmal auf der Zunge zergehen lässt – Fremdgehen scheint auch hier kein Problem für den jungen Tunichtgut. Für Sex mit den Nixen hätte er den Ring bereitwillig abgegeben, erst ihre Warnungen und vor allem Drohungen entfachen seinen Trotz und besiegeln sein Schicksal. Sehr gut inszeniert und gespielt auch, wie Siegfried zu Beginn Gutrune gebannt folgt, die sich ihm verführerisch im Führerhaus entzieht, bis sie schließlich den Vorhang vielsagend zuzieht.

Und es kommt noch dicker für den hehrsten Helden. Kein Umkehrtrank, sondern schlicht Alkohol lässt Siegfried auf der Jagd wieder die Wahrheit sagen. Die Idee, dass Tränke bei Wagner eventuell nur als Bild oder Vehikel fungieren, ist vielleicht nicht neu (Vgl. den Liebestrank in Tristan und Isolde: Nur ein Depp merkt nicht, dass da schon vorher was ging), aber in dieser an tragischer Komik oder komischen Tragik kaum zu steinernen Szene bissig und böse umgesetzt.

Aber wer kommt schon gut weg in dieser Oper, Pardon, Bühnenfestspiel. Heute teilweise gar Bühnenkarneval. Und Karneval ist bekanntlich mitunter eine brutale Angelegenheit, fragen sie mal die Soldaten, die als Zeugen bei Siegfrieds Bier-Beichte dabei waren. Oder Alberich. Selbst sieht er sich als Einflüsterer Hagens und erliegt damit dem gleichen Marionettentrugschluss wie sein Erzfeind Wotan: „Für mich gewinn ich den Ring ...“ tönt der besäuselte Spross nach Vatis Abgang, oh weh.

Unter Siegfrieds Trauermarsch wird schließlich jedes Deutschland als Flagge zu Grabe getragen, doch die letzte ist noch ein unbeschriebenes Blatt. Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit? Hilsdorf zieht mit dieser Götterdämmerung alle Register, am Ende schießt er mit den Botho-Strauß-Zeilen vielleicht eine Spur über das Ziel hinaus. Nicht inhaltlich, sondern die Aufnahmefähigkeit selbst gewillter Zuschauer wie mich betreffend.

Der rheinische Ring bleibt sich übrigens bis in Details der Ausstattung treu. Auch heute umrahmt die Bühne wieder die der an Varieté erinnernde Stuckrahmen mit Glühlampenreihen – bei der grünen Fee leuchtet er entsprechend gefärbt oder simuliert mit zwei Birnen, grün und rot, eine Rhein-Schleuse. Alles fließt. Nicht zuletzt die Musik.

Axel Kober und das delikate Dirigat. Bei Steigerungen mitunter sehr schnell, gar ungewohnt (vgl. das Rheinfahrt-Geschmetter oder die Hagen-Chorstellen), aber immer organisch und fesselnd. Dazu ein Top-Ensemble, aus dem ich nach vier fantastischen Abenden wirklich niemanden mehr hervorheben möchte. Auch wenn dies, so grüble ich, wohl mein erster Komplett-Ring war, so habe ich doch bereits genug Ring-Segmenten beigewohnt um klar sagen zu können, dass der Deutschen Oper am Rhein sowie insbesondere Herrn Hilsdorf und seinem Team etwas ganz Besonderes gelungen ist, an dem sich künftige Eindrücke werden messen lassen müssen. Vielen Dank für diese Reise.


Götterdämmerung
Dritter Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“
Musik und Text – Richard Wagner

Musikalische Leitung – Axel Kober
Inszenierung –Dietrich W. Hilsdorf
Bühne – Dieter Richter
Kostüme – Renate Schmitzer
Licht – Volker Weinhart
Chor –Gerhard Michalski
Mitarbeit Regie – Ilaria Lanzino, Dorian Dreher
Dramaturgie –Bernhard F. Loges, Anna Grundmeier

Siegfried – Michael Weinius
Gunther – Bogdan Baciu
Alberich – Michael Kraus
Hagen – Hans-Peter König
Brünnhilde – Linda Watson
Gutrune – Sylvia Hamvasi
Walraute – Katarzyna Kuncio
1. Norn – Susan Maclean
2. Norn – Sarah Ferede
3. Norn – Morenike Fadayomi
Woglinde – Anke Krabbe
Wellgunde – Kimberly Boettger-Soller
Floßhilde – Ramona Zaharia
Mannen – Bo-Hyeon Mun, Domg-In Choi, Volker Philippi

Chor und Extrachor der Deutschen Oper am Rhein
Statisterie der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker

16. November 2018

Swedish Radio Symphony Orchestra – Daniel Harding.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2



Allan Pettersson – Symphonic Movement 
Robert Schumann – Konzert für Violine und Orchester d-Moll WoO 23
(Alina Ibragimova)

(Pause)

Hector Berlioz – Roméo et Juliette / Symphonie dramatique op. 17 (Auszüge)



Allan Petterssons symphonischer Satz ist ein spannender „Widerspruch“ – von der Konzeption ist das Werk sehr konventionell angelegt, mit einer Folge mehrerer, sich klar voneinander abtrennender Abschnitte unterschiedlicher Tempi und Ausdruckscharaktere und erinnert darin z.B. an eine „klassische“ sinfonische Dichtung spätromantischer Prägung. Auch das verwendete Instrumentarium und die Klangfarben könnten dieser Epoche entsprungen sein, jedoch haben die darin angewandte Melodik und Harmonik nun wirklich nichts mit einer Stilkopie gemein. Ich weiß nicht genau, wie ich es besser beschreiben soll, aber die Melodielinien erinnern latent an vertraute, tonale Motive und Themen, ohne dabei jedoch wirklich fasslich, geschweige den eingängig zu sein. Auch die Harmonik ist keineswegs durchgängig atonal, schrammt immer wieder am Erwarteten vorbei (wobei keinesfalls Zitate oder konkrete Anklänge gemeint sind) und ist mit einer Fülle an Dissonanzen durchsetzt, ohne dabei genuin fremd zu wirken – ein bemerkenswerter Spagat, der Pettersson da gelingt.

Robert Schumann findet in meinem musikalischen Kosmos ja nicht wirklich statt. Seine Klaviermusik mag auch für Banausen wie mich ihren Reiz haben, wovon ich mich beispielsweise durch Grigory Sokolovs Fürsprache (Link) überzeugen konnte, aber ich beschäftige mich generell nicht so häufig mit Solo-Klavierliteratur. Seine Sinfonik wiederum gibt mir als Verehrer Beethovens, Berlioz’, Bruckner, Mahlers oder Schostakowitschs zu wenig interessante Impulse, die Partituren wirken auf mich immer irgendwie zu sauber – ein Umstand, den sie für mich mit Mendelssohns Werken teilen. Ich kann dem „klassischen“ Ansatz durchaus etwas abgewinnen und liebe als Wagnerianer auch Brahms, aber die Evolutionsstufe Schumann spare ich weitgehend aus. Das Violinkonzert aus seiner Feder, wie ich dem Programmheft entnehme ein Spätwerk und von Freunden und Zeitgenossen eher verhalten aufgenommen, trägt da doch einiges zur Ehrenrettung bei.

Gerade der ausladende Kopfsatz birgt einiges an dräuender Dramatik, wie ich sie mag, wenngleich das lyrische Seitenthema wieder schwächerer Natur ist. Letztlich trifft mein – sicher unfaires – Schumann-Urteil auch auf diese Komposition zu: Am liebsten ist er mir, wenn er die Stirn in Falten legt, er ist berührend, wenn er träumt, aber leider nie wirklich überzeugend, wenn er jubelt, triumphieren möchte. So lässt sich kaum ein intimerer, versonnenerer Satz als der zweite denken – sicher unterstützt durch das phänomenal zarte Spiel Alina Ibragimovas und Hardings extremen Ausloten der Pianissimo-Tauglichkeit des Saales – das unmittelbar daran anschließende Finale beinhaltet wieder diese Art beschaulichen Jubel, wie er mir zutiefst zuwider ist. Bizarrer Weise klingt das eine prägnante Thema, oftmals keck von den Holzbläsern intoniert, wie eine biedere Vorwegname der Jung-Siegfried-Welt. Heissa, jetzt wird aber gar zünftig Kehraus betrieben ...

Da muss Schumanns Zeitgenosse Berlioz nun wirklich wie von einem anderen Stern wirken. Diese konzeptionelle Kühnheit, diese raffinierte Instrumentation – es ist mir wieder einmal sonnenklar, warum ich süchtig nach den Kompositionen des französischen Ton-Revolutionärs bin. Auch ohne seine Chorepisoden gelingt es der Shakespeare-Sinfonie mit ihren rein orchestralen Teilen die Elbphilharmonie in einen wahren Tempel des Klangrauschs zu verwandeln. Was ich besonders an Berlioz schätze: Er lässt sich Zeit. Die langsam Form und Raum gewinnenden Entwicklungen und Steigerungen, die nicht enden wollende Liebesmusik (die ein weiteres Mal in Berlioz’ Oeuvre Tristan-Assoziationen weckt), in jeder nur denkbaren Gestalt ihres Themas die emotionale Achterbahnfahrt des Paars illustrierend, oder das stufenweise Vordringen in jedesmal noch verwunschenere Traumsphären im Mab-Scherzo – ich liebe Berlioz für seine Kunst und Fähigkeiten ebenso wie für seine Umsicht und Geduld, diese in allen erdenklichen Facetten auszukosten.

Das Schwedische Radio-Sinfonieorchester macht unter Harding einen bärenstarken Eindruck, einzig manche Hornpassagen (unter anderem ein prägnantes Solo), blieben hinter dem ansonsten phänomenalen Klangeindruck zurück. Streicher, Holzbläser, Blech – alles von erster Güte. Dazu Hardings Dirigat, das – wie so oft bei jenen Dirigenten, welche die Akustik der Elbphilharmonie verinnerlicht haben – vor allem mit dynamischen Kontrasten arbeitet und namentlich die leisesten Töne zur Gänsehautgewinnung nutzt. Leider keine Zugabe dieser begnadeten Kombination.

14. November 2018

Trio Batiashvili, G. Capuçon & Thibaudet.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 4, Platz 8



Dmitri Schostakowitsch – Klaviertrio Nr. 1 c-Moll op. 8 
Maurice Ravel – Klaviertrio a-Moll

(Pause)

Felix Mendelssohn Bartholdy – Klaviertrio Nr. 2 c-Moll op. 66

Zugaben:
Piotr Iljitsch Tschaikowsky – Nur wer die Sehnsucht kennt op. 6/6 / Sechs Romanzen
Dmitri Schostakowitsch – Scherzo aus Klaviertrio Nr. 2 e-Moll op. 67

(Lisa Batiashvili – Violine, Gautier Capuçon – Violoncello, Jean-Yves Thibaudet – Klavier)



Das Trio des 17jährigen Schostakowitsch ist ein inniges Werk in vertrautem Idiom, aber doch noch weit von den Tiefen und Finessen entfernt, für die ich ihn so vergöttere. Verglichen damit zeugt die Komposition Ravels fraglos von mehr Reife: Ein Traum in Noten und Ausführung, insbesondere der dritte und vierte Satz. Der zweite ist wohl der bekannteste daraus? Der ruhige dritte hat es mir natürlich besonders angetan – Passacaglia funktioniert bei mir immer – zumal, wenn sie so unglaublich intim vorgetragen wird. Das Finale mit seinen krassen Harmonieschüben lässt ferner staunen darüber, wieviel Klangfarben, wieviel feinzieselierter Rausch mit nur drei Instrumenten geschaffen werden kann.

Die drei Solisten machen ihre Sache perfekt, nur ist mein Platz fast schon zu nah – das Piano geht zum Teil etwas unter, steht den Streichern auf die geringe Distanz dahinter positioniert an Brillanz nach. Das Hauptproblem ist jedoch wie so oft ein anderes: Das Programm ist zu subtil für das Publikum. Man ist zwar halbwegs ruhig, aber das reicht bei solch delikater Musik eben nicht. Huster, Raschler und dergleichen, frei übersetzt also wieder mal Banausentum, Unmusikalität. Ein Taschentuch in Zeitlupe aus der Folie zu ziehen, während man gerade Zeuge der denkbar fragilsten Pianissimo-Verzückung wird, kann nur einer gänzlich unsensiblen Person einfallen. Eigentlich möchte ich in der Pause gehen, aber der Respekt vor den Künstlern verbietet es.

So nehme ich doch noch den Mendelssohn mit, den ich mir fast sparen wollte: eigentlich ein perfektes Trio, wenn mir doch nur seine Sprache etwas sagen würde. Ich bin begeistert von der Konzeption, aber angeödet von seiner Melodik und Harmonik. Wie progressiv war da dagegen schon ein Beethoven, vom Zeitgenossen Berlioz ganz zu schweigen. Trotzdem toll: Der ganze Aufbau der vier Sätze, das flinke Scherzo mit derbem Trioteil, das Finale mit innerem Drama zwischen Drängen und erlösendem Choral (schön leise im Klavier eingeführt). Hätte nur halt ein Brahms oder Dvorak kompositorisch mit Leben füllen müssen.

Bei den Zugaben verfolgt man den Ansatz der Kontraste im Ausdruck. Auf den ruhigen, spätromantisch-kantablen Tschaikowsky folgt das gallige Schostakowitsch-Scherzo aus seinem zweiten Klaviertrio. Sehr, sehr geil, um mein Grinsen über beide Ohren einmal etwas flapsig zu übersetzen. Das war das Warten wert, schön giftig, dabei knackig gespielt – besser geht es nicht. Schade, dass es von dieser Künstler-Troika (noch?) keine Einspielungen gibt.

12. November 2018

Kremerata Baltica / Iveta Apkalna.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Pēteris Vasks – Voices (Stimmen) / Sinfonie für Streichorchester 
Johann Sebastian Bach – Konzert für Cembalo und Streichorchester d-Moll BWV 1052 / Fassung für Orgel

(Pause)

Lepo Sumera – Symphōnē für Streichorchester und Schlagwerk
Johann Sebastian Bach – Chaconne aus Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 / Bearbeitung für Streichorchester von Gidon Kremer auf Basis von Ferruccio Busoni
Ēriks Ešenvalds – Okeāna balss (Stimme des Ozeans) / Konzert für Orgel, Streicher und Schlagwerk

Zugaben:
Aivars Kalējs – Toccata über den Choral »Allein Gott in der Höh' sei Ehr«
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis – Prelude d-Moll op. 16/3 / Bearbeitung für Streichorchester

(Kremerata Baltica, Iveta Apkalna – Orgel)



Das nenne ich mal eine Einführung – Thomas Cornelius stellt das Arbeitsgerät von Frau Apkalna vor, in Worten und in Tönen. Die Funktionsweise einer Orgel im Allgemeinen und dieses ganz speziellen Instruments im Besonderen (Wer hätte z.B. vermutet, dass sich auch Pfeifen oberhalb des imposanten Schallreflektors unter der Saaldecke befinden), der Einsatz seiner Register und die daraus resultierenden mannigfaltigen Klangkombinationen in Farbe und Dynamik, all das erklärt der sympathische Herr ebenso verständlich wie kurzweilig und greift dazu ein ums andere mal veranschaulichend in die Tasten. Die registerweise Crescendo-Demonstration als Abschluss war der erste Gänsehautmoment dieses noch jungen Abends.

Weit weniger erbaulich, eher mit der unterschwelligen Tendenz zum Fremdschämen, geriet der sicher als besonderen Zuhörerservice gedachte Auftritt Gidon Kremers im Anschluss daran. Irgendwo zwischen unpassend süffisant und latent bockig gelang es Kremer, jegliche Interviewbemühungen Cornelius’ im Keim zu ersticken und stattdessen Konzertorgeln pauschal zu dissen und ungelenk über die Vorzüge der Orgel im Rigaer Dom zu fabulieren. Erhellendes über die Kamerata, geschweige denn die Komponisten des Abends – Fehlanzeige. Stattdessen ein bisschen fishing for compliments bezüglich seiner eigenen Bachbearbeitung à la: „ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist ...“ – ums vorwegzunehmen: Nein, Gidon, leider nein. Zumindest hatte er den Anstand einzugestehen, dass Busoni mit seiner Pianofassung als Inspiration diente und er bei der Niederschrift Hilfe in Anspruch nahm. Aber ich kann mir nicht helfen, einen souveränen Eindruck, der seinem Nimbus als Virtuose von Weltgeltung auf zwischenmenschlicher Ebene zur Ehre gereicht hätte, konnte Kremer als Gesprächspartner des darin nicht zu beneidenden Cornelius nicht vermitteln. Schade.

Vasks: welch positive Überraschung! Erst kürzlich unterhielt ich mich darüber, ob heute noch tonal komponiert wird – und wie! Die Streichersinfonie ist eine wirkliche Entdeckung. Eine Klangsprache, die in ihrer tonalen Expressivität an Schostakowitsch erinnert, ohne ihn zu kopieren. Ein Werden und Vergehen, dynamische Steigerungen, eine Reise bis zu den Randbereichen der Harmonik, durchaus mal dissonant, und doch oder gerade deshalb entsteht in all der Reibung und Dramatik eine Welt der Melodik, die sich für die platte Klassifizierung „wunderschön“ nicht zu schämen braucht. Bisschen Pärt-Feeling hier und da, aber insgesamt gesehen für mich deutlich spannender als die oftmals so schlichten Kontemplationen des bekannteren estnischen Kollegen. Muss ich unbedingt noch mal reinhören. Die Kremerata zudem mit dem perfekten Streicherklang – der sich in dieser Akustik optimal entfalten konnte.

Bach: Orgel statt Cembalo kann man machen, generell finde ich das allzu gut bekannte Stück – zumindest heute – nicht so anregend. Apkalna in letzter Konsequenz nicht mit meiner Vorstellung von Geläufigkeit, wie sie Top-Pianisten besitzen, kann aber auch am Orgel-Zugang generell, an der anderen Technik liegen.

Sumera: Das zweite Highlight des Abends. Rhythmische Rückungen wechseln mit irisierend Verwunschenem. Sowohl von den Klängen als auch harmonisch fesselnd, gleich ab dem ersten Eindruck sehr vielversprechend.

Bach-Bearbeitung (Chaconne): Lieber Gidon, Du hast es selber angesprochen, vielleicht ist Deine Übertragung nichts – und so ist es leider auch. Das Busoni-Intro vom Band und ein kurzer Violinsolo-Einspieler bestätigen, dass das Werk halt nur als Solostück funktioniert. Mit der Aufteilung des Materials geht ein enormer Spannungsverlust einher, die Komposition wirkt in dieser Gestalt seltsam gefällig – harmlos, formlos, zahnlos. Ganz klares Nein.

Ešenvalds: Ganz schwach. Bach-Zitat-Beginn, dann Poulenc für Arme. Zweiter Satz melodisch öde (Solovioline), Streicherbegleitung vorhersehbar und harmonisch belanglos. Generell: schlecht kopierte Filmmusik – und ich liebe Filmmusik. Finale mit Eumelharmonien, möchtegernprogressiv. Kitsch. Schwer unterfordernd und schwer zu ertragen.

Die beiden Zugaben: Mit meiner Sozialisation als braver Kirchgänger ist mir das Thema der Kalējs-Toccata natürlich wohl bekannt. Da möchte man gleich das Gesangbuch herausholen und mit einstimmen. Besser nicht, so lausche ich unbehelligt von Auslassungen aus schiefer Kehle der beeindruckenden Verarbeitung, mit atemberaubender Sicherheit und zwingender Gestaltungskonzeption von Frau Apkalna ein Triumph der Elphi-Orgel und eingelöstes Versprechen der Einführung. Das abschließende Präludium komplettiert den Reigen baltischer Komponisten um den noch fehlenden litauischen Vertreter. Čiurlionis’ Werk bleibt zudem dem heutigen heimlichen roten Faden der Bearbeitungen treu, indem es, ursprünglich für Orgel gesetzt, nun in einer Fassung für Streichorchester erklingt – für mich die gelungenste Transformation des Programms.

10. November 2018

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks –
Manfred Honeck. Gasteig München.

19:00 Uhr, Block Q, Reihe 5, Sitz 25



Ludwig van Beethoven – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 
G-Dur, op. 58 (Igor Levit)
Zugabe des Solisten: Beethoven? Variationssatz?

(Pause)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 1 D-Dur



Der Gasteig und ich werden wohl keine Freunde mehr werden. Nachdem sich heute abermals die akustischen Defizite des (viel zu) großen Saales bemerkbar machten und darüber hinaus von einer äußerst befremdlichen Attitüde des Personals akkompagniert wurden, welche irgendwo zwischen überfordert, argwöhnisch belehrend oder schlichtweg ungastfreundlich anzusiedeln war, bin ich doch mehr als froh, dieses herrliche Orchester in schöner Regelmäßigkeit in der heimischen Philharmonie-Alternative bewundern zu dürfen. Vielleicht bringt ein Sitz mit weniger Outsorcing-Feeling, irgendwo auf halbem Wege zwischen Bühne und dem Hang, der noch nicht einmal das Ende der platztechnischen Fahnenstange bedeutet, sich aber dennoch meilenweit vom Geschehen anfühlt, eine Verbesserung, aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob sich weitere Experimente in dieser Scheune lohnen und man nicht einfach abwarten sollte, bis sich München ebenfalls zu einem vernünftigen Konzerthaus durchgerungen hat. So bleibt erst einmal die Erinnerung an ein großartiges Konzert unter kleinartigen Bedingungen. Man ist nicht allein zu weit von der Bühne entfernt, als dass ein Fortissimo auch wie ein solches bei einem ankommen könnte, der übertragene Ton ist zudem durchweg stumpf und breiig ohne jede Brillanz, so dass sich gerade Feinheiten lediglich als Ahnung übertragen und eine transparente Wirkung des Orchestergefüges nahezu ausgeschlossen ist. Aber genug der Schelte, selbst diese maue Akustik konnte einer nahezu perfekten Darbietung kaum etwas anhaben.

Nachdem Maestro Jansons seine Teilnahme an diesem und weiteren Konzerten seines Orchesters aus gesundheitlichen Gründen absagen musste, ließen mich Umbesetzung und Programmänderung doch weiterhin auf einen großen Abend hoffen. Der Verzicht auf Mahlers eher selten gespielte Siebte mag im ersten Moment ein kleiner Dämpfer gewesen sein, doch wenn man Mahler ersetzt, dann am besten mit Mahler, und natürlich ist auch Beethoven als Beifang nicht zu verachten. Manfred Honeck genießt seit dem Mahler-Geniestreich mit seinen Pittsburghern in der Laeiszhalle (Link) mein höchstes Vertrauen und vermochte jenes heute auf beeindruckende Art aufzufrischen. Mit Igor Levit konnte ich endlich einmal einen Künstler erleben, von dem ich zwar bereits viel Gutes gehört hatte – ihn selbst jedoch nicht. Die Kombination Honeck/Levit sollte sich dabei als ideal erweisen.

Während der Einspringer vom Pult aus für eine enorm konstrastreiche Lesart des Partitur sorgte und eine flotte Interpretation mit oftmals knackig-scharf konturiertem Ausdruck gestaltete, ergänzte sich dies vortrefflich mit dem überaus zarten Anschlag des jungen Russen – am eindringlichsten im zweiten Satz zu beobachten, in dem die mit größtmöglicher Schroffheit, ja Aggressivität vorgetragenen Eingaben der Streicher vom Solisten auf das Zarteste, Behutsamste beantwortet wurden. Dabei ist Honeck beileibe kein Brutalisnki, wovon beispielhaft die daraufhin einsetzende Beruhigung des Orchesters und viele weitere Passagen intimsten Ausdrucks zeugen, die teilweise den akustischen Rahmen bis an die Grenzen des Hörbaren ausloteten. Bleibt noch die Frage nach der Urheberschaft der vom Solisten gewählten Kadenz des ersten Satzes, welche in ihrem modernen, expressiven Duktus überraschte, gleichzeitig jedoch das Wesen des Beethovenschen Mikromotivik-Baukastens perfekt einfing. Bei der Zugabe stellte Levit noch einmal die Vielseitigkeit seiner Anschlagskultur und Wandlungsfähigkeit im Ausdruck unter Beweis, anstatt das Publikum mit einer typischen Virtuosenblendgranate beeindrucken zu wollen – sehr sympathisch.

Mit Mahlers Ersten blieb Honeck seiner von mir erstmals in Hamburg genossenen Handschrift treu. Auch hier arbeitete er mit starken Kontrasten, vor allem im Ausdruck, aber ebenfalls im Tempo, dass mal rubatoartig changierte und immer wieder vehement anzog, um das vermeintlich Disparate, die oft collagenhaft aufeinanderprallenden Gegensätze konsequent herauszuarbeiten. Dabei kam neben dem Treibenden, unbändig Vitalen ebenso das lyrische Moment nicht zu kurz, welches beispielsweise in der scheu-entrückten Lindenbaum-Passage des dritten Satzes an intimer Verletzlichkeit kaum zu steigern war. Andererseits ist sich Honeck nicht zu schade, das bäuerliche Tanzbein im zweiten Satz aufs Derbste schwingen zu lassen, was wiederum einen wunderbaren Kontrast zum für meine Begriffe durchaus parodistisch aufzufassenden „feinen“ Walzer schuf. Abgesehen davon, dass ich ohnehin jedesmal aufs Neue über die Großartigkeit der Konzeption der Sinfonie als Ganzes und ihres Finales im Besonderen staune, war es wieder eine Wonne, dieses musikalisch wie narrativ so plastisch fassliche Wunderwerk in solch kompromissloser Perfektion erleben zu dürfen. Da spielt es auch keine Rolle, dass z.B. unter der Dauerbelastung im Blech der ein oder andere Ton nicht hundertprozentig saß – das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erweckt Mahler zum Leben, wie er zu klingen hat. Meinen Dank an Manfred Honeck und meine Genesungswünsche an Mariss Jansons.