12. November 2018

Kremerata Baltica / Iveta Apkalna.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Pēteris Vasks – Voices (Stimmen) / Sinfonie für Streichorchester 
Johann Sebastian Bach – Konzert für Cembalo und Streichorchester d-Moll BWV 1052 / Fassung für Orgel

(Pause)

Lepo Sumera – Symphōnē für Streichorchester und Schlagwerk
Johann Sebastian Bach – Chaconne aus Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 / Bearbeitung für Streichorchester von Gidon Kremer auf Basis von Ferruccio Busoni
Ēriks Ešenvalds – Okeāna balss (Stimme des Ozeans) / Konzert für Orgel, Streicher und Schlagwerk

Zugaben:
Aivars Kalējs – Toccata über den Choral »Allein Gott in der Höh' sei Ehr«
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis – Prelude d-Moll op. 16/3 / Bearbeitung für Streichorchester

(Kremerata Baltica, Iveta Apkalna – Orgel)



Das nenne ich mal eine Einführung – Thomas Cornelius stellt das Arbeitsgerät von Frau Apkalna vor, in Worten und in Tönen. Die Funktionsweise einer Orgel im Allgemeinen und dieses ganz speziellen Instruments im Besonderen (Wer hätte z.B. vermutet, dass sich auch Pfeifen oberhalb des imposanten Schallreflektors unter der Saaldecke befinden), der Einsatz seiner Register und die daraus resultierenden mannigfaltigen Klangkombinationen in Farbe und Dynamik, all das erklärt der sympathische Herr ebenso verständlich wie kurzweilig und greift dazu ein ums andere mal veranschaulichend in die Tasten. Die registerweise Crescendo-Demonstration als Abschluss war der erste Gänsehautmoment dieses noch jungen Abends.

Weit weniger erbaulich, eher mit der unterschwelligen Tendenz zum Fremdschämen, geriet der sicher als besonderen Zuhörerservice gedachte Auftritt Gidon Kremers im Anschluss daran. Irgendwo zwischen unpassend süffisant und latent bockig gelang es Kremer, jegliche Interviewbemühungen Cornelius’ im Keim zu ersticken und stattdessen Konzertorgeln pauschal zu dissen und ungelenk über die Vorzüge der Orgel im Rigaer Dom zu fabulieren. Erhellendes über die Kamerata, geschweige denn die Komponisten des Abends – Fehlanzeige. Stattdessen ein bisschen fishing for compliments bezüglich seiner eigenen Bachbearbeitung à la: „ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist ...“ – ums vorwegzunehmen: Nein, Gidon, leider nein. Zumindest hatte er den Anstand einzugestehen, dass Busoni mit seiner Pianofassung als Inspiration diente und er bei der Niederschrift Hilfe in Anspruch nahm. Aber ich kann mir nicht helfen, einen souveränen Eindruck, der seinem Nimbus als Virtuose von Weltgeltung auf zwischenmenschlicher Ebene zur Ehre gereicht hätte, konnte Kremer als Gesprächspartner des darin nicht zu beneidenden Cornelius nicht vermitteln. Schade.

Vasks: welch positive Überraschung! Erst kürzlich unterhielt ich mich darüber, ob heute noch tonal komponiert wird – und wie! Die Streichersinfonie ist eine wirkliche Entdeckung. Eine Klangsprache, die in ihrer tonalen Expressivität an Schostakowitsch erinnert, ohne ihn zu kopieren. Ein Werden und Vergehen, dynamische Steigerungen, eine Reise bis zu den Randbereichen der Harmonik, durchaus mal dissonant, und doch oder gerade deshalb entsteht in all der Reibung und Dramatik eine Welt der Melodik, die sich für die platte Klassifizierung „wunderschön“ nicht zu schämen braucht. Bisschen Pärt-Feeling hier und da, aber insgesamt gesehen für mich deutlich spannender als die oftmals so schlichten Kontemplationen des bekannteren estnischen Kollegen. Muss ich unbedingt noch mal reinhören. Die Kremerata zudem mit dem perfekten Streicherklang – der sich in dieser Akustik optimal entfalten konnte.

Bach: Orgel statt Cembalo kann man machen, generell finde ich das allzu gut bekannte Stück – zumindest heute – nicht so anregend. Apkalna in letzter Konsequenz nicht mit meiner Vorstellung von Geläufigkeit, wie sie Top-Pianisten besitzen, kann aber auch am Orgel-Zugang generell, an der anderen Technik liegen.

Sumera: Das zweite Highlight des Abends. Rhythmische Rückungen wechseln mit irisierend Verwunschenem. Sowohl von den Klängen als auch harmonisch fesselnd, gleich ab dem ersten Eindruck sehr vielversprechend.

Bach-Bearbeitung (Chaconne): Lieber Gidon, Du hast es selber angesprochen, vielleicht ist Deine Übertragung nichts – und so ist es leider auch. Das Busoni-Intro vom Band und ein kurzer Violinsolo-Einspieler bestätigen, dass das Werk halt nur als Solostück funktioniert. Mit der Aufteilung des Materials geht ein enormer Spannungsverlust einher, die Komposition wirkt in dieser Gestalt seltsam gefällig – harmlos, formlos, zahnlos. Ganz klares Nein.

Ešenvalds: Ganz schwach. Bach-Zitat-Beginn, dann Poulenc für Arme. Zweiter Satz melodisch öde (Solovioline), Streicherbegleitung vorhersehbar und harmonisch belanglos. Generell: schlecht kopierte Filmmusik – und ich liebe Filmmusik. Finale mit Eumelharmonien, möchtegernprogressiv. Kitsch. Schwer unterfordernd und schwer zu ertragen.

Die beiden Zugaben: Mit meiner Sozialisation als braver Kirchgänger ist mir das Thema der Kalējs-Toccata natürlich wohl bekannt. Da möchte man gleich das Gesangbuch herausholen und mit einstimmen. Besser nicht, so lausche ich unbehelligt von Auslassungen aus schiefer Kehle der beeindruckenden Verarbeitung, mit atemberaubender Sicherheit und zwingender Gestaltungskonzeption von Frau Apkalna ein Triumph der Elphi-Orgel und eingelöstes Versprechen der Einführung. Das abschließende Präludium komplettiert den Reigen baltischer Komponisten um den noch fehlenden litauischen Vertreter. Čiurlionis’ Werk bleibt zudem dem heutigen heimlichen roten Faden der Bearbeitungen treu, indem es, ursprünglich für Orgel gesetzt, nun in einer Fassung für Streichorchester erklingt – für mich die gelungenste Transformation des Programms.