28. Januar 2016

Hamburger Symphoniker – Guy Braunstein.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, Parkett rechts, Reihe 11, Platz 7


Wolfgang Amadeus Mozart – Violinkonzert Nr. 5 A-Dur KV 219
Gioacchino Rossini – Aus „Guillaume Tell“: „Ils s'éloignent enfin“ und „Sombre forêt“ (Guanqun Yu – Sopran)
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Aus „Eugen Onegin“: Brief-Szene (Eva Hornyakova – Sopran)

(Pause)

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64



Die letzte Begegnung mit Herrn Braunstein liegt nun ziemlich genau zwei Jahre zurück und ist bei mir vorbehaltlos positiv abgespeichert (Link). Das heutige Konzert hingegen würde wahrscheinlich ohne Umschweife als nur mäßig erinnerungswürdig in der zerebralen Versenkung verschwinden, wäre nicht Frau Yu mit ihrem betörenden Gesang in Erscheinung getreten. Zusammen mit Eva Hornyakova eingesprungen für die erkrankte Krassimira Stoyanova, hat mich ihre Darbietung der Rossini-Passagen mehr als aufhorchen lassen. Welch klare, feine und dabei im Forte so warme und vor allem sinnliche Stimme! Das hat man doch selten. Im Vergleich dazu wußte auch Frau Hornyakova zu begeistern, vor allem im Schlußteil ihrer Tschaikowsky-Szene mit seiner weit schwingenden Melodie, aber in der Höhe und mit zunehmender Lautstärke ist bei ihr eine gewisse Schärfe nicht von der Hand zu weisen, wo Guanqun Yu auch in dieser Lage Balsam verströmt.

Balsamisches blieb ansonsten heute Mangelware, andere, weitaus unliebsamere B-Worte sollten den Abend dominieren: belanglos, brav, beliebig, breiig – womit ich in erster Linie den Beitrag Braunsteins als Dirigent beklagen möchte, der eine weitergehende Qualifikation für dieses Amt durchweg vermissen ließ. Von einem harmlosen, tempoarmen Mozart ohne Kontur und Verve bis zu einer nur der Erinnerung nach dramatisch-rauschhaften Tschaikowsky-Sinfonie, in der sich das Schicksal heute mit verblüffend laschem Händedruck zu Wort meldete, gab es heute nichts zu hören, das man unter anderer Stabführung nicht schon ungleich spannender und ergreifender vernommen hätte.

Schade, da ich mich gerade auf die Fünfte mit den Hamburger Symphonikern gefreut hatte, deren wunderbarer Klang auch heute einen Eindruck davon vermittelte, welch elementares Erlebnis die Darbietung mit einer kontrastreichen, bissigen Marschroute hätte werden können. Allein dieser Streicherklang, zum Schmelzen schön! Es gibt doch nichts Schlimmeres, wenn geliebte Werke einfach so unmotiviert an einem vorüberplätschern – dann doch fast lieber eine richtig miese Interpretation, da kann man sich im Anschluss zumindest richtig aufregen. So bleibt nur der Eindruck, für die Dauer einer Sinfonie in einer zermürbenden Warteschleife festzuhängen, in der traurigen Gewissheit, nicht auflegen zu können. Tschaikowsky mit angezogener Handbremse.

Noch mal zurück zum Mozart. Der könnte mir ja eigentlich egal sein, lieferte in seiner einlullenden Gestalt aber wertvolle Hinweise für das Scheitern des Abends. Guy Braunstein wählt ein durchweg langsames Tempo und kümmert sich in den ersten beiden Sätzen wenig um mögliche Kontrastwirkungen. Und zwar nicht nur als Dirigent, sondern ebenso in seiner Funktion als Solist. Auch für seinen eigenen musikalischen Beitrag drängt sich mir ein Wörtchen auf: lasch. Wenn man es freundlicher formulieren wollte, könnte man vielleicht von einem zurückhaltenden Vortrag sprechen, in meinen Ohren klingt das einfach fad. Selbst die Intonation haut mich nicht aus den Schuhen, was soll mir das dann geben?

Besonders spannend nun der Wandel im dritten Satz, dessen Rhythmik Herrn Braunstein offenbar zu einer deutlich kontrastreicheren Gangart inspirierte. Plötzlich war sein Spiel präsenter, lebendiger, im alla Turca Teil geradezu ruppig – es geht also, warum aber erst jetzt? Den Eindruck auf die Faktur des Finalsatzes zu reduzieren, ginge zu kurz. Zum einen bietet auch der erste Satz genug Potenzial, sich „auszutoben“ und, viel wichtiger, Engagement muss eben nicht immer mit Aggressivität oder Wildheit gleichgesetzt werden, sondern kann sich beispielsweise in einem besonders differenzierten, sensiblen Umgang mit den Feinheiten eines zweiten Satzes äußern – was Braunstein jedoch vermied.

Fazit: Auch auf die Konzertgänger-Karriere trifft zu: Mal gewinnt man, mal verliert man. Die heutige Niederlage wird spätestens beim nächsten Tate-Treffen vergessen sein.

18. Januar 2016

MusicAeterna – Teodor Currentzis.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


Ludwig van Beethoven – Violinkonzert D-Dur op. 61 
(Patricia Kopatchinskaja)
Zugabe: Jorge Sánchez-Chiong – Crin

(Pause)

Wolfgang Amadeus Mozart – Sinfonie D-Dur KV 504 „Prager“
Zugabe: Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 5, 4. Satz



Man könnte jetzt ein Traktat über Skinny Jeans und ihre Wirkung auf bestimmte Teile der Laeiszhallen-Zielgruppe verfassen. Ich belasse es bei der Erkenntnis, welch ein oberflächlicher, von Vorurteilen geprägter Blick auf die äußere Erscheinung auch beim vermeintlich reflexionsfähigen bildungsbürgerlichen Konzertbesucher vorzuherrschen scheint – Spannend, sollte doch das Thema Wahrnehmung auf verschiedenen Ebenen den Abend bestimmen.

Denn während ein Großteil des Publikums, mich eingeschlossen, das heute Gebotene als außergewöhnliche Leistung, ja wohl ohne Übertreibung als Sternstunde empfand, fühlte sich eine andere, wenn auch ungleich kleinere Fraktion in gleichem Maße enttäuscht, vielmehr offenbar regelrecht provoziert und beleidigt. Selten habe ich in der braven Laeiszhalle ein derartiges Aufeinandertreffen zweier Sturmfronten der Begeisterung und Entrüstung nach einer Darbietung erlebt, noch dazu wenn man bedenkt, dass ein Programm zur Verköstigung stand, welches der Papierform nach kaum konservativer hätte ausfallen können.

Und genau hier wird es interessant. Welche Erwartungshaltung stelle ich an einen Konzertbesuch, gerade wenn die sogenannten Klassiker des Repertoires gegeben werden? Das Häuflein Buh-Schreier schien sich heute um „ihren“ Beethoven gebracht, bzw. sah selbigen durch die Ausführenden gewissermaßen entstellt oder gar entweiht. Ich persönlich empfinde diese Reaktion als ebenso verblüffend wie köstlich, gerade wenn man sich die „Verbrechen“ der Musiker im Detail besieht.

Da wäre zum einen das Dirigat durch Herrn Currentzis, welches die Extreme auszuloten sucht. Dabei basiert sein Ansatz – zumindest im Violinkonzert – nicht etwa auf besonders krass gewählten Tempi (wie dann zweifellos in der atemberaubenden Zugaben-Explosion des Finalsatzes der Fünften) oder Rubato-Individualismen, sondern vor allem auf dem größtmöglichen Kontrast bezogen auf Ausdrucksweise bzw. Akzentuierung. Schroffste, aggressivste Artikulation und dynamische Eruptionen wechseln mit lieblichsten Zartheiten von zum Teil kaum mehr wahrnehmbarer Lautstärke. Eine, wie ich finde, ungemein belebende Frischzellenkur für dieses geliebte, alte Konzertschlachtross. Vor allem wenn man auf ein solches Ausnahmekollektiv wie die Damen und Herren der MusicAeterna bauen kann. Das Liveerlebnis verdient in meinen Augen gerade dann seinen zweiten Wortteil, sobald Erwartungen nicht bloß eingelöst, sondern übertroffen werden, wenn man unmittelbar Zeuge wird, wie selbst Altbekanntes vor unseren Augen und Ohren neu entsteht. Das Konzert als schöpferischer Akt, nicht als Hort der Reproduktion und musealer Verwaltung.

Bliebe zum anderen noch die zweite „Übeltäterin“ – Frau Kopatchinskaja. Abgesehen davon, daß ihr solistischer Beitrag auf das Vortrefflichste mit der energiegeladenen Interpretation Currentzis’ korrespondierte, scheint sie insbesondere mit ihren Kadenzen einigen Museumsaufsehern mächtig vor den Kopf gestoßen zu haben. Und auch hier ist es faszinierend zu sehen, wie jemand, der offensichtlich deutlich mehr Gedanken und Mühe auf die Ausgestaltung dieser im Kern virtuos und im besten Falle improvisatorisch angelegten Passagen verwendet, als die Nutzer vorgekauter und zur Genüge auf Tonträger zementierter Kadenzvorlagen, solch heftige Ablehnung generiert. Ob das reiner Stil oder beethovig genug ist, ist mir dabei gelinde gesagt schnurz, zumal ich bei der vorschnellen Beurteilung musikalischer „Redlichkeit“ als Laie besonders vorsichtig wäre. Frau Kopatchinskaja wird ihre Quellen zumindest besser studiert haben als der gemeine Stuben-Beethoven-Bewahrer, dem alles, was nicht mit seiner Plattensammlung in Abgleich zu bringen ist, schwere Bauchschmerzen bereitet. Darin liegt eben doch mehr Sprengkraft, als in der herrlich schrägen Zugabe, welche die Solistin als provokante „Liebeserklärung“ an ihre Kritiker adressierte.

Ich möchte heute aber die entrüsteten Buhs ebenso wenig wie die frenetischen Bravo-Rufe missen, zeigt doch beides eindrucksvoll, dass diese Musik die Menschen nicht kalt lässt, dass ein Konzert eine wirkliche Verbindung zwischen Ausführenden und Zuhörern schaffen kann, auch und gerade mit vermeintlich kaltem Kaffee wie Beethoven, weil es zeigt, wie heiß das Feuer in diesen genialen Werken für alle Zeiten lodert – es braucht nur Abende wie diesen, den Funken wahrer, ursprünglicher Leidenschaft aufs Neue zu entfachen.

17. Januar 2016

Im Weißen Rössl – Florian Ziemen.
Stadttheater Gießen.

15:00 Uhr, 2. Rang Seite links, Reihe 1, Platz 14



Was wäre das Leben doch ohne Kontraste – nachdem auf dem gestrigen Koblenzer Pessimismusfestival (Link) fleißig Kapitalismusohrfeigen verteilt wurden und das Konzept Mensch als solches alles andere als glimpflich davon kam, heißt es heute in Gießen: „Im Salzkammergut, da ka’ mer gut lustig sein!“ Auf das Scheitern des Konsummolochs Mahagonny folgen Ferien am Wolfgangsee, Vollpension, versteht sich: Das Weiße Rössl öffnet seine Pforten und die Kundschaft strömt. Und das mit Recht! Was für ein herrlich kurzweiliger Abend, genauer gesagt Nachmittag, voll bester Unterhaltung.

Die Inszenierung will – nichts. Außer Freude machen, die urkomischen Irrungen und Wirrungen der Handlung dem Publikum bestmöglich präsentieren. Spritzig, deftig, mit leichter Hand und Sinn für Lokalkolorit sowie Charakterzeichnung. Und das Stück verdient diese liebevolle Behandlung durch das Regieteam, hält es doch unter der alpenseligen Oberfläche durchaus einige findig beobachtete Details des Tourismustrubels bereit, hübsch in Klischeeform verpackt, aber immer mit einem Funken Wahrheit im Kern. Die hektische Eile der urlaubenden Idyllsucher. Und die Abgebrühtheit, mit der ihnen die touristische Taskforce, namentlich Leopold, mit seiner köstlichen Gratwanderung zwischen Heimatkundler und Löwendompteur das Warten auf den Kaffee mit Ausblick schmackhaft macht. Die (scheinbare) Unvereinbarkeit von Landeierei und Großstädtertum.

Wobei das Werk in erster Linie von dem herrlich überzeichneten Gestalten lebt, die es bevölkern, als von einer besonders innovativen oder überraschenden Handlung. Am Ende wird eh alles gut und auch das darf hier nicht als Mangel an Tiefe, sondern wohlig eingelöstes Versprechen gelten. Es ist alles da, was man zur Stimulierung von Herz und Zwerchfell benötigt. Die Kapriolen der Drei- bzw. Vierecksbeziehung zwischen Wirtin, Kellner, Anwalt und Fabrikantentochter, die zum Schluß brav in zwei weitere von insgesamt vier glücklichen Paaren mündet (wobei der Fall zwischen Kathi und Piccolo schon etwas länger klar zu sein scheint). Die mit Abstand skurrilste unter diesen Konstellationen ist sicher die stürmische Eroberung Klärchens durch den schönen Sigismund (oder doch umgekehrt?), die auch einen entwaffnenden Gegenpol zu den „Komplikationen“ der Gattenfindung im Rössl darstellt.

Ohnehin ist Sigi in all seiner überdrehten Selbstverliebtheit der heimliche Star der Produktion – Kompliment an das komödiantische Talent und die vorbildliche „Körperspannung“ des Herrn Thomas! Ach was red ich, die ganze Besetzung ist eine Wucht. Angefangen bei Judith Peres als wahrhaft vulkanische Wirtin („Leopold!“) und Tomi Wendt in der Rolle ihres schelmisch raffinierten Kellners sowie Ehemanns im Wollen und Werden, der hier glücklicherweise nicht allein auf den spitzbübischen Klamauk reduziert wird. Stattdessen vermittelt Wendt sehr glaubhaft ebenso die von Leopold ausgehende ehrliche, ernsthafte Zuneigung, gepaart mit seinem (gekränkten) Stolz, was letztlich für einige der wenigen innigen, schon richtiggehend schwermütigen Momente sorgt („Zuschau’n kann i net“).

Auch das zweite Paar ist mit Naroa Intxausti und Ricardo Frenzel Baudisch glänzend besetzt, die Chemie stimmt einfach – das wird spätestens in der nur durch hartnäckigen Fladenschauer minimal unterminierten Kuhstallromantik klar. Meinen persönlichen Favoriten habe ich allerdings im Müggelsee-sehnsüchtigen Ahlbeck-Apologeten Wilhelm Giesecke, bzw. spröde grantelnden Jan-Christoph Kick gefunden, der den liebenswerten Kern des Tritotagenfürsten schon vor der finalen Versöhnung immer wieder durchblicken läßt. Selbst kleinere Rollen wie der schrullig-sparsame Urlaubsfan Professor Hinzelmann und seine Tochter oder der Kaiser persönlich werden mit viel Liebe zum Detail ausgestaltet, oder, um es mit Letzterem zu sagen: Es war sehr schön! Es hat mich sehr gefreut!

Farbenfrohe Kostüme und Trachten runden zusammen mit einem einfachen aber dienlichen Alpenbühnenbild inklusive Wirtshaus, das sich in wenigen Handgriffen verstecken lässt, um den Blick auf luftige Höhn freizugeben, den gelungenen Gesamteindruck ab. Mehrfach wird von der Drehbühne Gebrauch gemacht, auch um einige besonders schöne Einfälle wie die Fahrradszene zu realisieren. Chor und Tanzcompagnie haben vor allem in den erfrischenden Choreografien – mal wuselig (Die Touristen), mal verspielt (Fahrrad- und Regenschirm„ballett“) ihre großen Auftritte. Und auch Selbstironisches darf nicht fehlen, wenn der Bus der Urlaubsgäste und der Dampfer ihrerseits als putzige Spielzeugausgabe „Sensation machen“.

Bleibt noch der Blick auf die Musik. Selbst wenn ich als eingefleischter Wagner-, Strauss-, oder Brittenfreund eher selten den Weg zur Operette suche, hat mich doch wie heutige Begegnung restlos überzeugt. Und das eben nicht zum ersten Mal. Ob „Frau Luna“ (http://lautsplitter.blogspot.de/2013/03/31.html) oder „Csardasfürstin“ (http://lautsplitter.blogspot.de/2012/06/22.html) – enttäuscht hat mich bislang noch keine meiner raren Operetten-Unternehmungen. Ist halt ein anderes Konzept, als ein durchkomponierter Schinken oder eine Nummernoper wie gestern „Mahagonny“. Interessant hierbei jedoch die Nähe, die beide Werke in Bezug auf die Orchesterbesetzung aufweisen. Banjo, Saxophon, „verjazztes“ Blech – gestern wie heute. Schon spannend, was da im gleichen Jahr das Uraufführungslicht der Welt erblickte.

Die hier in Gießen gespielte Urfassung der Operette bzw. des Singspiels hat in jedem Fall wenig mit der brav-biederen Rössl-Assoziation gemein, die den Musikfreund und Schlagerskeptiker vielleicht abschrecken könnte. Hier staubt nichts und es geht heiß her im Orchestergraben, die Nummern werden mitreißend gegeben, Herr Ziemen sorgt für den nötigen Biss und unbeschwerte Spritzigkeit. Leicht kommt es rüber, leicht soll es sein, aber nicht leichtfertig. Mein Kompliment an das ganze Team des Stadttheater Gießen für diese furiose Produktion.

Daher kann das Fazit nur lauten: Es war SEHR schön! Es hat mich SEHR gefreut!


Im weißen Rössl – Ralph Benatzky
Musikalische Leitung – Florian Ziemen
Inszenierung – Thomas Goritzki
Bühne und Kostüme – Heiko Mönnich
Choreographie – Anthony Taylor / Tarek Assam
Chorleitung – Jan Hoffmann
Licht – Kati Moritz
Dramaturgie – Matthias Kauffmann
Regieassistenz und Abendspielleitung – Martine Miville
Bühnenbildassistenz – Ann-Sophie Paar
Kostümassistenz – Anette Hildenbrand
Inspizienz – Isabelle Brock / Heike Meister

Josepha Vogelhuber, Wirtin zum „Weißen Rössl“ – Judith Peres
Leopold Brandmeyer, Zahlkellner – Tomi Wendt
Wilhelm Giesecke, Fabrikant – Jan-Christoph Kick
Ottilie, seine Tochter – Naroa Intxausti
Dr. Erich Siedler, Rechtsanwalt – Ricardo Frenzel Baudisch
Sigismund Sülzheimer – Pascal Thomas
Professor Dr. Hinzelmann – Markus Rührer
Klärchen, seine Tochter – Anne-Elise Minetti
Der Piccolo – Maximilian Schmidt
Kathi, Jodlerin – Elisabeth Halikiopoulos
Der Kaiser – Harald Pfeiffer

Chor des Stadttheater Gießen
Mitglieder des Kinder- und Jugendchores
Tanzcompagnie Gießen
Philharmonisches Orchester Gießen

16. Januar 2016

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny –
Leslie Suganandarajah. Theater Koblenz.

19:30 Uhr, Parkettrang links, Reihe 1, Platz 199



Das ist schon bizarr. Jedes Mal aufs Neue, wenn ich dieses faszinierend radikale Werk erleben darf, frage ich mich, welcher Prozentsatz im Publikum überhaupt ansatzweise mitgeschnitten hat, was ihm da gerade vor den Latz geknallt wurde. Die allgemeinen Reaktionen gehen hier ja oft von teilnahmslos über irritiert bis hin zu erheitert. Einfach krass, angesichts der Tatsache, dass man einer einzigen großen Abrechnung jenes Lebens-Konzeptes beiwohnt, das wir mehr oder weniger alle im Saal mittragen. So würde es zumindest der Pessimist in mir formulieren. 

Wobei sich dann genauso die Frage stellt, was denn nun verwerflicher ist – die Brisanz, will meinen die Relevanz des Stückes für sich selbst zu übersehen und beispielsweise für den sich zu Tode fressenden Jack nur ein beherztes Lachen übrig zu haben, das keinerlei Anstalten macht, im dafür sprichwörtlich und vom Autor vorgesehenen Halse stecken zu bleiben, sondern selbigem unbedarft frei entfleucht, oder aber die Botschaft zu erkennen, ohne jedoch nach dem Verlassen des Tempels der Erkenntnis etwas an seinem Leben zu ändern.

Aber mal halblang, fällt da der Optimist in den verworrenen Gedankengang ein, man kann auch alles künstlich kompliziert machen. Botschaften hat das Stück eine Menge, mitunter einige, die es sicher gründlich zu hinterfragen gilt, aber wenn so ein Abend auch nur ein bißchen zum Grübeln über sich und die Welt angeregt hat, dann ist doch schon viel gewonnen.

Ein Gewinn war dieser Abend fürwahr. Zum einen weil es vom musikalischen Standpunkt aus eine gelungene Premiere war. Deniz Yilmaz gibt einen überzeugenden Jim Mahoney mit Durchsetzungskraft und schönem Schmelz. Sowohl seine Kumpane als auch das Ganoventrio sind ordentlich besetzt, (Wieder-)Entdeckung des Abends ist jedoch Marysol Schalit, die ich als Jenny schon seinerzeit in Bremen bewundern durfte (Link), deren Qualität sich nicht allein in einer schönen Stimme erschöpft, sondern die mit ihrer Präsenz für die intensivsten Momente des Abends sorgte. Kälter und unterschwellig triumphierender kann man das bitterböse „Denn wie man sich bettet ...“ wohl kaum dem verzweifelten Jim entgegnen.

Chor und Orchester rundeten den positiven Gesamteindruck ab, einzig das Dirigat hätte für meine Begriffe ruhig noch etwas akzentuierter, ja aggressiver ausfallen können, gerade um die mitunter rhythmische Schärfe und blockhafte Aneinanderreihung der Nummern zu betonen. So legte Herr Suganandarajah eher gemäßigte Tempi und eine etwas statische Lesart an den Tag. Unverständlich bleibt mir jedoch das plötzlich einsetzende, hektisch hinfort eilende Accelerando in der Steigerung der Arie Jims („Nur die Nacht“), welche selbige leider nach zauberhaft ruhig atmendem Beginn zunichtemachte. Schade um die wundervolle Stelle.

Darüber hinaus zeigt sich in Koblenz wieder einmal, daß Mahagonny die Regisseure offenbar zu besonders kreativen Arbeiten inspiriert. Auch diese Inszenierung wartet mit einer Fülle an Ideen auf, die das skurrile Treiben wunderbar frisch und knallig vor unseren Augen ausrollen. Der heterogenen Bilderfolge mit ihren vielgestaltigen musikalischen Ausdrucksformen begegnet die Regie mit einer breiten Palette an visuellen und szenischen Mitteln. Die Ausstattung reicht dabei von lapidar „Selbstgebasteltem“, wie dem kleinen havarierten Pappauto, das sich Dreieinigkeitsmoses in der Introduktion umgeschnallt hat oder dem Fernseher und Kamera aus Pappe, mit denen er und Fatty den Appell an die Städter als Mahagonny-Werbespot verpackt richten, bis hin zu aufwändigen Projektionen nebst ausgefeilter Lichtregie.

Hauptaufgabe der Videoinstallation ist es hierbei, der Entwicklung der Netzestadt eine weitere, gewissermaßen als Folie über die Handlung gelegte Entwicklung zur Seite zu stellen – die Entstehung und Ausbreitung der digitalen Revolution, der Computerisierung, Digitalisierung, des Internets, letztlich der (digitalen) Globalisierung. Klingt auf den ersten Blick vielleicht konstruiert, erweist sich im Abgleich mit den Geschehnissen aber überraschend deckungsgleich, da wir als Zuschauer hier wie dort dem Weg des Geldes folgen, besser gesagt, dem Streben nach demselben, dem Ausloten des Möglichen, Machbaren, Kapitalisierbaren – Krise(n) und (möglicher?) Kollaps inbegriffen.

Dabei geht es dem Regieteam meinem Empfinden nach weniger um eine 1:1 Übertragung der Handlung ins sogenannte Digitale Zeitalter, als vielmehr um eine Verquickung der kapitalismuskritischen Botschaft des Stückes mit uns nur allzu gut bekannten Bildern, Zitaten und Marken unserer Zeit. Wobei das mit dem „uns“ vielleicht so eine Sache ist – womit sich mir noch einmal die eingangs gestellte Frage stellt nach dem, was das Publikum so „mitschneidet“. Nicht, daß ich diese wunderbare Inszenierung selbst in Frage stellen wollte, es entbehrte nur nicht einer gewissen Ironie, als die Rednerin der Einführung über den täglichen Gebrauch von Smartphones und Emojis philosophierte und ich von meinem Randplatz eher fragende Gesichter bei der doch meist silberbeschopften Zielgruppe wahrnahm. Aber gut, man hat ja im Zweifel Enkel ...

Ne, Spaß beiseite, diese Form der „Aktualisierung“ ist mir weitaus lieber als so manche bemühte Verpflanzung einer Opernhandlung, die man sonst gern mal erdulden muß. Und am Ende ist es wahrscheinlich auch egal, ab man die einzelnen Anspielungen auf Marken der New Economy bzw. deren Logos im Detail decodieren kann, das Bild einer bunten, oberflächlichen Konsumwelt entsteht auch so. Natürlich ist es ungleich komischer, wenn man die Figur der Borg-Queen aus Star Trek kennt, als deren Inkarnation die Begbick in der Gerichtsszene ihre Mahagonny-Schäflein an unsichtbaren Schnüren im Sinne der pervertierten Rechtsprechung dirigiert – ein treffenderes Bild (digitaler) „Schwarmintelligenz“ ist kaum denkbar – aber auch ohne dieses Nerdwissen versteht man: Wir sind Mahagonny – Widerstand ist zwecklos!

So wohnen wir also gespannt der Gründung dieser vermeintlichen Paradiesstadt bei, flankiert von der grünlichen Illumination der ersten Pixel-Zellteilung. Beide Systeme entwickeln sich rasant, jedoch nicht ohne Hindernisse – der ausbleibende Geldsegen Mahagonnys wird von einem Systemabsturz begleitet. Aber der tote Punkt ist hier wie dort Beginn ganz neuer Möglichkeiten. Schöne neue Grafik- und Konsumwelt. Wobei den eigentlichen Umbruch erst jene Nacht bringt, in der, wie es so schön auf dem Zwischentitel heißt, „ein einfacher Holzfäller die Gesetze der Glückseligkeit erfand“. Alles ist erlaubt – solange man nur dafür bezahlen kann.

Die Illustration dieses radikalen Konzeptes des totalen Konsums erfolgt mit den bereits angesprochenen Insignien der digitalen Revolution. Ob Internet-Auktions- oder Warenhaus, ob Suchmaschine oder Soziales Netzwerk, Soft- und Hardwareriese mit Lifestylemission oder Weltmarktführer-Browser, sie alle tauchen in Form von Schlagworten in Unternehmenstypografie und wandelnden Logos/Icons auf, zu denen die Mitwirkenden per Ganzkörperkostüm gemacht werden und geben den vier Parolen (Fr)Essen, (Boxen) Kämpfen, Lieben, Saufen eine zeitgemäße Konnotation.

Unterstützend kommen auch hier Videoprojektionen zum Einsatz. Besonders gelungen wie sinnfällig die Umsetzung des Boxkampfes zwischen Joe und Dreieinigkeitsmoses, den Ausschnitte verschiedener Computerspiele begleiten, vom simplen Telespiel über immer ausgefeiltere virtuelle Welten bis hin zu den in allem Realismus ausgelebten Gewaltorgien moderner Shooter oder Beat ’em ups: Die Sehnsucht nach Zerstreuung, das Lust- und Suchtpotenzial des (spielerischen) Wettkampfs, die Befriedigung von Allmachtsphantasien im stillen Kämmerlein – all das schwingt in dieser kurzen Sequenz mit.

Die mechanisch abgespulte Routine der „Liebesakt“-Szene („Jungens macht rascher!“) korrespondiert mit dem zur abstrakten Virtual Reality-Schönheit duplizierten Antlitz Jennys, an dem sich die „Kunden“ ergötzen und vergeblich in physischen Kontakt zu treten suchen. Anonymität und Bilderkult. Gewissermaßen die Weiterentwicklung des Computerportraits Jennys, welches im ersten Akt während des Kennenlernens von Jim und Jenny über den beiden thront, nachdem er sie erworben hat und von ihr nach seinen Vorlieben befragt wird, was schon hier die Brücke zu Internetpornografie oder Cyber Sex schlägt.

Die Inszenierung ist reich an intelligenten Verknüpfungen dieser Art, sie allesamt aufzuzählen, wäre eine ebenso abendfüllende Tätigkeit wie der Besuch der Oper – einfach mal nach Koblenz gondeln und erleben. Das Stück als solches ist schon jede Anfahrt wert. Ich bin immer wieder verblüfft, wie stark das Konzept Brechts/Weills mich berührt, ohne dabei in erster Linie wie so oft mit emotionaler Überwältigung, sondern vielmehr scharf pointierter Entwaffnung zu operieren. Eine Form von Offenheit, ja Unverhohlenheit, derer sich mein Geist und Herz nur schwer erwehren können. Wobei insbesondere im dritten Akt schon die permanente Gefahr besteht, in einer „Alles Scheiße, Deine Elli“-Stimmung zu versumpfen: Die Welt ist schlecht – ich hab's kapiert!

Doch ganz so beschissen ist die Lage vielleicht doch nicht, besieht man sich, in welch mitreißende, überbordend schlaue und gleichzeitig beseelte Musik der Herr Komponist all die ätzende Kritik gegossen hat. Galle und Genuß, in diesem Werk ist beides auf das Befremdlichste, Berührendste miteinander verschmolzen. „Ganz genau wie in dieser großartig schrecklichen und schrecklich großartigen Welt“, raunen Pessimist und Optimist einander zu. Und freuen sich bereits auf die nächste Inszenierung dieser makellosen Katastrophe.


Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – Kurt Weill
Musikalische Leitung – Leslie Suganandarajah
Inszenierung – Marcus Lobbes
Bühnenbild – Pia Maria Mackert
Kostüme – Miriam Grimm
Video – Michael Deeg
Dramaturgie – Rüdiger Schillig
Choreinstudierung – Ulrich Zippelius

Leokadja Begbick – Monica Mascus
Fatty, der „Prokurist“ – Mark Bowman-Hester
Dreieinigkeitsmoses – Nico Wouterse
Jenny Hill – Marysol Schalit (für die erkrankte Hana Lee)
Jim Mahoney – Deniz Yilmaz
Jack O’Brien – Junho Lee
Bill, genannt Sparbüchsenbill – Christoph Plessers
Joe, genannt Alaskawolfjoe – Jongmin Lim
Tobby Higgins – Junho Lee

Opernchor (Damen und Herren)
Extrachor (Herren)
Staatsorchester Rheinische Philharmonie