17. Januar 2016

Im Weißen Rössl – Florian Ziemen.
Stadttheater Gießen.

15:00 Uhr, 2. Rang Seite links, Reihe 1, Platz 14



Was wäre das Leben doch ohne Kontraste – nachdem auf dem gestrigen Koblenzer Pessimismusfestival (Link) fleißig Kapitalismusohrfeigen verteilt wurden und das Konzept Mensch als solches alles andere als glimpflich davon kam, heißt es heute in Gießen: „Im Salzkammergut, da ka’ mer gut lustig sein!“ Auf das Scheitern des Konsummolochs Mahagonny folgen Ferien am Wolfgangsee, Vollpension, versteht sich: Das Weiße Rössl öffnet seine Pforten und die Kundschaft strömt. Und das mit Recht! Was für ein herrlich kurzweiliger Abend, genauer gesagt Nachmittag, voll bester Unterhaltung.

Die Inszenierung will – nichts. Außer Freude machen, die urkomischen Irrungen und Wirrungen der Handlung dem Publikum bestmöglich präsentieren. Spritzig, deftig, mit leichter Hand und Sinn für Lokalkolorit sowie Charakterzeichnung. Und das Stück verdient diese liebevolle Behandlung durch das Regieteam, hält es doch unter der alpenseligen Oberfläche durchaus einige findig beobachtete Details des Tourismustrubels bereit, hübsch in Klischeeform verpackt, aber immer mit einem Funken Wahrheit im Kern. Die hektische Eile der urlaubenden Idyllsucher. Und die Abgebrühtheit, mit der ihnen die touristische Taskforce, namentlich Leopold, mit seiner köstlichen Gratwanderung zwischen Heimatkundler und Löwendompteur das Warten auf den Kaffee mit Ausblick schmackhaft macht. Die (scheinbare) Unvereinbarkeit von Landeierei und Großstädtertum.

Wobei das Werk in erster Linie von dem herrlich überzeichneten Gestalten lebt, die es bevölkern, als von einer besonders innovativen oder überraschenden Handlung. Am Ende wird eh alles gut und auch das darf hier nicht als Mangel an Tiefe, sondern wohlig eingelöstes Versprechen gelten. Es ist alles da, was man zur Stimulierung von Herz und Zwerchfell benötigt. Die Kapriolen der Drei- bzw. Vierecksbeziehung zwischen Wirtin, Kellner, Anwalt und Fabrikantentochter, die zum Schluß brav in zwei weitere von insgesamt vier glücklichen Paaren mündet (wobei der Fall zwischen Kathi und Piccolo schon etwas länger klar zu sein scheint). Die mit Abstand skurrilste unter diesen Konstellationen ist sicher die stürmische Eroberung Klärchens durch den schönen Sigismund (oder doch umgekehrt?), die auch einen entwaffnenden Gegenpol zu den „Komplikationen“ der Gattenfindung im Rössl darstellt.

Ohnehin ist Sigi in all seiner überdrehten Selbstverliebtheit der heimliche Star der Produktion – Kompliment an das komödiantische Talent und die vorbildliche „Körperspannung“ des Herrn Thomas! Ach was red ich, die ganze Besetzung ist eine Wucht. Angefangen bei Judith Peres als wahrhaft vulkanische Wirtin („Leopold!“) und Tomi Wendt in der Rolle ihres schelmisch raffinierten Kellners sowie Ehemanns im Wollen und Werden, der hier glücklicherweise nicht allein auf den spitzbübischen Klamauk reduziert wird. Stattdessen vermittelt Wendt sehr glaubhaft ebenso die von Leopold ausgehende ehrliche, ernsthafte Zuneigung, gepaart mit seinem (gekränkten) Stolz, was letztlich für einige der wenigen innigen, schon richtiggehend schwermütigen Momente sorgt („Zuschau’n kann i net“).

Auch das zweite Paar ist mit Naroa Intxausti und Ricardo Frenzel Baudisch glänzend besetzt, die Chemie stimmt einfach – das wird spätestens in der nur durch hartnäckigen Fladenschauer minimal unterminierten Kuhstallromantik klar. Meinen persönlichen Favoriten habe ich allerdings im Müggelsee-sehnsüchtigen Ahlbeck-Apologeten Wilhelm Giesecke, bzw. spröde grantelnden Jan-Christoph Kick gefunden, der den liebenswerten Kern des Tritotagenfürsten schon vor der finalen Versöhnung immer wieder durchblicken läßt. Selbst kleinere Rollen wie der schrullig-sparsame Urlaubsfan Professor Hinzelmann und seine Tochter oder der Kaiser persönlich werden mit viel Liebe zum Detail ausgestaltet, oder, um es mit Letzterem zu sagen: Es war sehr schön! Es hat mich sehr gefreut!

Farbenfrohe Kostüme und Trachten runden zusammen mit einem einfachen aber dienlichen Alpenbühnenbild inklusive Wirtshaus, das sich in wenigen Handgriffen verstecken lässt, um den Blick auf luftige Höhn freizugeben, den gelungenen Gesamteindruck ab. Mehrfach wird von der Drehbühne Gebrauch gemacht, auch um einige besonders schöne Einfälle wie die Fahrradszene zu realisieren. Chor und Tanzcompagnie haben vor allem in den erfrischenden Choreografien – mal wuselig (Die Touristen), mal verspielt (Fahrrad- und Regenschirm„ballett“) ihre großen Auftritte. Und auch Selbstironisches darf nicht fehlen, wenn der Bus der Urlaubsgäste und der Dampfer ihrerseits als putzige Spielzeugausgabe „Sensation machen“.

Bleibt noch der Blick auf die Musik. Selbst wenn ich als eingefleischter Wagner-, Strauss-, oder Brittenfreund eher selten den Weg zur Operette suche, hat mich doch wie heutige Begegnung restlos überzeugt. Und das eben nicht zum ersten Mal. Ob „Frau Luna“ (http://lautsplitter.blogspot.de/2013/03/31.html) oder „Csardasfürstin“ (http://lautsplitter.blogspot.de/2012/06/22.html) – enttäuscht hat mich bislang noch keine meiner raren Operetten-Unternehmungen. Ist halt ein anderes Konzept, als ein durchkomponierter Schinken oder eine Nummernoper wie gestern „Mahagonny“. Interessant hierbei jedoch die Nähe, die beide Werke in Bezug auf die Orchesterbesetzung aufweisen. Banjo, Saxophon, „verjazztes“ Blech – gestern wie heute. Schon spannend, was da im gleichen Jahr das Uraufführungslicht der Welt erblickte.

Die hier in Gießen gespielte Urfassung der Operette bzw. des Singspiels hat in jedem Fall wenig mit der brav-biederen Rössl-Assoziation gemein, die den Musikfreund und Schlagerskeptiker vielleicht abschrecken könnte. Hier staubt nichts und es geht heiß her im Orchestergraben, die Nummern werden mitreißend gegeben, Herr Ziemen sorgt für den nötigen Biss und unbeschwerte Spritzigkeit. Leicht kommt es rüber, leicht soll es sein, aber nicht leichtfertig. Mein Kompliment an das ganze Team des Stadttheater Gießen für diese furiose Produktion.

Daher kann das Fazit nur lauten: Es war SEHR schön! Es hat mich SEHR gefreut!


Im weißen Rössl – Ralph Benatzky
Musikalische Leitung – Florian Ziemen
Inszenierung – Thomas Goritzki
Bühne und Kostüme – Heiko Mönnich
Choreographie – Anthony Taylor / Tarek Assam
Chorleitung – Jan Hoffmann
Licht – Kati Moritz
Dramaturgie – Matthias Kauffmann
Regieassistenz und Abendspielleitung – Martine Miville
Bühnenbildassistenz – Ann-Sophie Paar
Kostümassistenz – Anette Hildenbrand
Inspizienz – Isabelle Brock / Heike Meister

Josepha Vogelhuber, Wirtin zum „Weißen Rössl“ – Judith Peres
Leopold Brandmeyer, Zahlkellner – Tomi Wendt
Wilhelm Giesecke, Fabrikant – Jan-Christoph Kick
Ottilie, seine Tochter – Naroa Intxausti
Dr. Erich Siedler, Rechtsanwalt – Ricardo Frenzel Baudisch
Sigismund Sülzheimer – Pascal Thomas
Professor Dr. Hinzelmann – Markus Rührer
Klärchen, seine Tochter – Anne-Elise Minetti
Der Piccolo – Maximilian Schmidt
Kathi, Jodlerin – Elisabeth Halikiopoulos
Der Kaiser – Harald Pfeiffer

Chor des Stadttheater Gießen
Mitglieder des Kinder- und Jugendchores
Tanzcompagnie Gießen
Philharmonisches Orchester Gießen