22. März 2016

Klavierabend – Grigory Sokolov.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 2, Reihe 1, Platz 1/2



Robert Schumann – Arabeske C-Dur op. 18

Robert Schumann – Fantasie C-Dur op. 17

(Pause)

Frédéric Chopin – Nocturne H-Dur op. 32/1
Frédéric Chopin – Nocturne As-Dur op. 32/2
Frédéric Chopin – Sonate b-Moll op. 35


6 Zugaben


Das Schöne an einem Abend wie diesem ist, daß ich das Köfferchen mit dem Interpretationsvergleichs-Besteck getrost daheim belassen kann, da ich weder über nennenswerte Kenntnisse der Klavierliteratur verfüge, noch die Namen Schumann oder Chopin eine besondere oder gar gesteigerte Erwartungshaltung bei mir auslösen. Ganz im Gegensatz zum Namen Sokolov. Wie befreiend, daß es im fragilen Kosmos des Live-Erlebnisses doch etwas wie eine Gewißheit des Gelingens gibt, legt man die Geschicke in die begnadeten Hände des russischen Pianisten. Wobei „Gelingen“ als hoffnungslose Untertreibung jegliche Qualifikation zur Umschreibung dieser Konzert-Ereignisse abgeht.

Ich habe schon zur Genüge bei früheren Begegnungen meiner Ehrfurcht und Begeisterung Ausdruck zu verleihen versucht, was mich allerdings auch dieses Mal wieder nicht losläßt, ist die unglaubliche Konzentration, ja vielmehr diese Art atemloser Anspannung, mit der Sokolov am Flügel seine Vision der ausgewählten Werke ausficht. Wobei Anspannung ein bei mir grundweg positiv besetzter Begriff und anstrebenswerter Zustand bei der Rezeption von Musik ist. Zur Entspannung gehe ich in die Sauna, nicht ins Konzert.

Umso euphorisierender zu erfahren, wie sich diese unumstößliche Fokussierung Sokolovs auf die eigene Wahrnehmung überträgt. Nach einer Weile stellt sich jener unwiderstehliche Sog, eine Art Tunnelblick ein, der mich in hypnotischer Verzückung dem stetig brandenden Wellengang der Tasten lauschen lässt. Dem Faszinosum scheinbar vom Verdikt der Anschlagsphysik ausgenommener, gewissermaßen aus dem Nichts zerstäubender Tontröpfchen ebenso wie dem gewaltigen Tidenhub, welcher die Gezeiten der Partituren kontrolliert in ein atemberaubendes, organisches Werden und Vergehen übersetzt. Kontraste. Der Struktur entspringt mitunter regelrecht Gewaltsames, aber nie Chaos, das Konzept bleibt schlüssig, vom feinsten, schüchternsten Nichts bis zum schmetterndsten, bärbeißigsten Alles.

Passt diese Herangehensweise besser zu Chopin als zu Schumann? Ist das eine romantische Lesart? Eine russische? Eine eigensinnige? Am Ende sind das alles akademische Überlegungen, die nirgendwo hin führen. Mit den großen Pianisten ist es wie mit den großen Dirigenten – wer den seltsamerweise oft mit dem Attribut „gesund“ versehenen Mittelweg verläßt, stößt umso wahrscheinlicher auf Ablehnung oder eben Begeisterung. Schön, daß es kompromisslose Künstler wie Grigory Sokolov gibt und wir an ihrem Kosmos zumindest für die Dauer eines Konzertes teilhaben dürfen.

21. März 2016

Les Musiciens du Louvre – Marc Minkowski.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Wolfgang Amadeus Mozart –

Adagio und Rondo C-Dur KV 617 für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola und Violoncello

„Ach, ich fühl’s, es ist verschwunden“ Arie der Pamina aus „Die Zauberflöte“ KV 620 (Chiara Skerath – Sopran)

Konzert für Klarinette und Orchester A-Dur KV 622 (Nikolas Baldeyrou – Klarinette)

(Pause)

Ouvertüre zu „La clemenza di Tito“ KV 621

Requiem d-Moll KV 626 / Ave verum corpus KV 618 (Chiara Skerath – Sopran, Helena Rasker – Alt, Yann Beuron – Tenor, Yorck Felix Speer – Bass, Cor de Cambra del Palau de la Música Catalana)



Das Adagio und Rondo, in dem hier statt der Glasharmonika ein Glockenspiel zum Einsatz kam, ist bis auf den interessanten Klangfarben-Effekt des Soloinstrumentes, welcher sich allerdings recht schnell abnutzt, leider eine kammermusikalische Belanglosigkeit, die das Originalität und Tiefe ersehnende Gemüt mit unerbittlichen Wiederholungen malträtiert. Der Vortrag durch die Mitwirkenden war makellos.

Die Arie der Pamina gehört zu den raren Eingebungen Mozarts, die meine Gleichgültigkeit und Ablehnung gegenüber diesem Komponisten in flüchtige Phantasmagorien glühender Verehrung verkehren. Chiara Skerath gefällt mir richtig gut, wenngleich ihre Stimme für meine Janowitz-imprägnierte Vorstellung einer Pamina fast schon etwas zu herb bzw. voll ausfällt. Wunderbare Phrasierung und Textverständlichkeit.

Klarinettenkonzert: Allein schon für die hauchzarte Wiederholung des Adagio-Eingangsthemas durch Herrn Baldeyrou hat sich der heutige Konzertbesuch gelohnt. Die Leistung des Solisten, aber auch die kongeniale Orchesterarbeit Minkowskis, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie mich das Werk selbst – mit eingeschränkter Ausnahme des Mittelsatzes – unberührt um Konzentration kämpfen läßt. Während man sich die Rahmensätze getrost sparen kann (Melodien von emsiger Unverbindlichkeit werden in harmloser Begleitung durch die Wiederholungswurstemühle gedreht) sorgt im Adagio nicht allein das unbestreitbar beseelte Themenmaterial, sondern vor allem auch die Art, in der das Orchester auf dieses eingeht und es aufnimmt, für kontinuierlich entwickelte Intensität.

Marc Minkowskis Lesart der Titus-Ouvertüre könnte man nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche charakterisieren. Wobei es in diesem Falle richtiger Peitsche und Zuckerkrümel heißen müsste. Hier wird ganz der Erscheinung des stetig in rotierend-pendelnder Bewegung agierenden Dirigenten gemäß ordentlich Schwung geholt für einen mitreißenden Ritt, der in seiner ruppigen Gangart, sprich Artikulation, einen wahrhaft elektrisierenden Energieschub ins Auditorium sendet. So laß ich mir das gefallen.

Und dann das Requiem. Hat der Süßmayr schon gut hinbekommen – ich kann jedenfalls keinen Bruch feststellen (der für jeden musikwissenschaftlich bewanderten Experten ohne Frage auf der Hand liegen mag). Auch wenn es vielleicht ketzerisch klingt: Der freudige Tonfall im Sanctus und Benedictus sagt mir mehr zu als es oft bei positiv gestimmten Werken aus Mozarts Feder der Fall ist. Ok, ich möchte nicht unterstellen, dass der Wolfgang das nicht auch prima hinbekommen hätte, dafür sind die übrigen Sätze einfach zu sehr von Inspiration durchströmt. Ja, ganz recht, das Requiem möchte ich dann trotz aller Mozart-Aversion nicht missen.

Und wenn es dann noch in solch einer packenden, kontrastreichen, sensiblen Gestalt daherkommt, wie sie uns Minkowski mit seinen herrlichen Musikern präsentiert, ist meine Wandlung vom Saulus zum Paulus für eine Stunde perfekt. Klar, in erster Linie springt mein schlichtes Gemüt sicher auf die von Trauer bzw. dramatischem Ernst geprägten Elemente an, aber das Recordare ist ein gutes Beispiel dafür, daß die Kombination Mozart und eine helle, hoffnungsvolle Sicht auf das Leben für mich durchaus berührende Ergebnisse liefern kann. Gleich mit den wiegenden, versetzt einsetzenden Streichern zu Beginn dieses Satzes hat er mich. Und dann der Gesang des Solistenensembles. Gut, als durchweg unbeschwert kann man diesen Satz auch nicht bezeichnen – ganz wie es sich nun mal mit der Hoffnung verhält. Wunderschöne Musik, die eben nicht nur schön sein will. Mit dem „Ave verum corpus“ läßt Minkowski direkt an das Requiem anschließend das Konzert sanft entschwebend verklingen.

Auch wenn meine Versuche einer Beschäftigung mit Mozart in der Regel ein Gefühl auslösen, welches jenem in verblüffender Weise ähnelt, das den einen oder anderen schon einmal in der Schlange einer Supermarktkasse beschlichen haben mag, deren Kopf ein meist älteres Semester auf der Suche nach Kleingeld bildet, so ist dieser Abend unter dem Strich des Kassenbons doch ein großer Gewinn geworden. Dank Herrn Minkowski, Dank des großartigen Orchesters und Chores samt Solisten, und, ja tatsächlich auch Dank Mozart, der vor allem mit dem Requiem heute eine Seite offenbarte, die man zur Abwechslung erfreulicherweise ernst nehmen sowie ohne wenn und aber genießen konnte.