30. Mai 2018

Zyklus D „Große Stimmen“ – Joyce DiDonato.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 1, Platz 1



»In War and Peace – Harmony through Music«

Joyce DiDonato – Mezzosopran und Produktionsleitung
Il Pomo d'Oro
Manuel Palazzo – Choregrafie, Tanz
Maxim Emelyanychev – Cembalo und Leitung
Henning Blum – Lichtdesign
Yousef Iskandar – Videodesign
Ralf Pleger – Regie


Georg Friedrich Händel – „Some dire event ... Scenes of horror,
scenes of wie“, Arie der Storgè aus „Jephtha“ HWV 70

Leonardo Leo – „Prendi quel ferro, o barbaro!“,
Arie der Andromaca aus „L’Andromaca“

Emilio de' Cavalieri – Sinfonia aus „Rappresentatione di anima et di corpo“

Henry Purcell – Chaconne g-Moll Z 730

Henry Purcell – „Thy hand, Belinda ... When I am laid in earth“,
Arie der Dido aus „Dido and Aeneas“ Z 730

Georg Friedrich Händel – „Pensieri, voi mi tormentate“,
Arie der Agrippina aus „Agrippina“ HWV 6

Carlo Gesualdo da Venosa – Tristis est anima mea (instrumental)

Georg Friedrich Händel – „Lascia ch’io pianga“,
Arie der Almirena aus „Rinaldo“ HWV 7

(Pause )

Henry Purcell – „They tell us that you mighty powers above “,
Arie der Orazia aus „The Indian Queen“ Z 630

Georg Friedrich Händel – „Crystal streams in murmurs flowing“,
Arie der Susanna aus „Susanna“ HWV 66

Arvo Pärt – Da pacem Domine (instrumental)

Georg Friedrich Händel – „Augelletti, che cantate“,
Arie der Almirena aus „Rinaldo“ HWV 7

Georg Friedrich Händel – „Dopo notte, atra e funesta“,
Arie des Ariodante aus „Ariodante“ HWV 33



Als zu den Klängen der berühmten Händel-Arie der Almirena aus „Rinaldo“ per Videoprojektion Blütenblätter auf die Bühne rieselten, war mein Entschluss, diesem Kitschkokon, den Frau DiDonato für ihren Auftritt um sich spinnen ließ, in der nahenden Pause zu entfliehen, eigentlich gefasst. Aber es ging mir heute so wie den unsäglichen Gaffern bei einem schlimmen Unfall – ich konnte den verstörten Blick letztendlich doch nicht abwenden. Wenn man böswillig an die Sache herangeht, könnte man der Dame einen das Narzistische weit mehr als streifenden Hang zur Selbstdarstellung unterstellen, aber auch wenn hinter all der „Konzept!“ schreienden Performance wirklich ein ehrliches Anliegen der Künstlerin, ein inständiger Apell zur Reflexion über das Leid in der Welt stehen sollte, komme ich nicht umhin, dessen Ausführung in überbordendem Manierismus und naiver Plattheit, die schwülstig-pathetische, ja leider gar parodistische Note zu attestieren, welche mir jeglichen Zugang zu Botschafterin und den durch sie dargebotenen Werken verstellt.

Dass es Frau DiDonato tatsächlich ernst meint mit ihrer Mission, wird dann spätestens mit der Entgegennahme des Schlussapplauses deutlich, bei der sie die Bühne der Elbphilharmonie tatsächlich für eine kleine Predigt nutzt. Ganze dreimal insistiert sie in ihrer peinlich überschwänglichen und redundanten Rede darauf, man möge doch das heutige Konzert dazu nutzen, um über den Frieden nachzudenken, ihn mit nach Hause und in den Alltag nehmen, während sie die Besucher als „Erbauer“ dieses „Tempels“ preist – auch dies mehrfach. Vielleicht relativiert sich das als typisch amerikanischer Hang zu Übertreibung und Show, aber selbst wenn ich dem Kern ihres Ansinnens weniger skeptisch gegenüber stünde, erstickt dieser Showcharakter jegliche Auseinandersetzung im Keim. Und das ist es wohl auch, was mich am meisten an diesem „Konzeptkonzert“ störte – ein vorgeblich tiefes Anliegen als Vehikel für einen seichten Unterhaltungsabend, der der Musik einen Bärendienst erweist.

Schließlich dienen alle verwendeten Elemente rein dekorativen Zwecken, verharren an der Oberfläche. Nehmen wir die Videoprojektionen: Hübsche Stimulanzien, nicht mehr, nicht weniger. Flitter, der die Saaldecke hübsch illuminiert, während unten irgendwas gesungen wird – hach, wie schön. Und wenn es gegenständlich wird, kommt der Kitsch-Holzhammer: die besagten Blütenblätter, oder ein stilisiertes Feuerwerk zum Schluß. Dann der Tänzer. Das hätte durchaus eine spannende Arbeit werden können, einen Liederabend mit dieser Ausdrucksform zu bereichern – wenn der tanzende Adonis eine mehr als schmückende Funktion eingenommen hätte. Ein zwingendes Konzept war auch hier nicht ersichtlich. Der seltsam wahllos wirkende Einsatz, mal als visuelle „Aufwertung“ der Instrumentalstücke, Reaktionsfläche für das hochpeinlich theatralische Agieren der Sängerin oder – ich hatte es befürchtet – Blütenblätterstreuer, fügte sich nahtlos in den Bauchladen der netten Reize, der vom Publikum schließlich mit stehenden Ovationen bedacht wurde.

Frau DiDonato scheint in jedem Fall über treue Fans zu verfügen, einmal entfleuchte gar zwischen zwei Stücken ein gepresstes „Diva!“ einer elektrisiert-übereifrigen Kehle. Ich für meinen Teil muss leider feststellen, dass ich mit La Diva rein musikalisch ebenfalls nicht so recht warm geworden bin. Eine schöne Stimme, keine Frage, aber den Zauber, den beispielsweise eine Frau Garanča mit ihrem Gesang entfacht, um mal im Mezzo-Fach zu bleiben, konnte ich heute leider nicht wahrnehmen. Auffällig in jedem Fall der Hang, die scherenschnittartige gestisch-mimische Darbietung mit einem „zu viel des Guten“ im musikalischen Ausdruck einhergehen zu lassen. Die Stimme klagt, schluchzt, leidet – alles mehr als eine Spur „drüber“, so dass es mich wahrscheinlich selbst auf einer Opernbühne als Teil einer Inszenierung gestört hätte. Und rein technisch, nun ja, der Vergleich mag hinken, aber Herr Jaroussky steckt die Dame in Sachen Flexibilität und Phrasierung dreimal in die Tasche. Bizarrerweise lag mir ihr Strauss, eine wirklich sehr intim angelegte Interpretation von „Morgen“, deutlich näher als ihr „Paradefach“ Barock.

Was gab es sonst noch festzuhalten. Die Herren und Damen von Il pomo d’oro verstehen ihr Handwerk, knackiger Sound und packende Tempi durch Herrn Emelyanychev, der vom Cembalo aus dirigierte und allenfalls seine Gestik ruhig ein wenig hätte herunterschrauben können, wo er doch nur dies mächtige Häuflein und kein Fernorchester zu dirigieren hatte. Fun fact: Gestern saß das Bübchen noch eine Reihe vor mir im Parkett und studierte aufmerksam und mit seinem Nebensitzer feixend die Arbeit Nézet-Séguins – klein ist die Welt. Leider schweigt sich das Programmheft darüber aus, welches Blasinstrument Herr Emylyanychev zwischendurch an die Lippen brachte, vom Klang her eine Mischung aus kränklicher Oboe und altersschwacher Trompete – und wieder einmal gilt mein großer Dank den Errungenschaften der Instrumentenentwicklung, durch die ich heute in der Regel von solch historischen Praktiken verschont werde.

Zu den Stücken selbst, einige bekannte Hochkaräter-Arien waren ja dabei, mag ich angesichts der ganzen Umstände nicht viel kundtun. Außer vielleicht meine Verwunderung darüber, dass zwischen all der alten Musik auch ein ziemlich frisches Werk vertreten war – mit Arvo Pärt gab sich der Schutzheilige der gefälligen Tiefe die Ehre, auch dies passte zum Gesamteindruck. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass mein musikalisches Highlight des Abends jenes rein instrumental als Zwischenspiel genutzte Madrigal von Carlo Gesualdo war, bei dem ganz unvermittelt harmonische Kühnheit das 16. Jahrhundert für einige berührende Momente in ein ungeahnt modernes Licht stellte – allein dafür hat sich der Besuch gelohnt.

PS: den Brief, den jeder Konzertbesucher „persönlich“ von „Joyce“ am Saaleingang nebst dem Programmheft bekam, mit der Aufforderung, auf eine Antwortpostkarte zu schreiben, worin man persönlich Frieden fände, habe ich dann doch unbeantwortet gelassen – Gift und Galle sind selten gute Souffleure.

29. Mai 2018

The Philadelphia Orchestra – Yannick Nézet-Séguin.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich A, Reihe 9, Platz 1/2



Leonard Bernstein – Sinfonie Nr. 2 für Klavier und Orchester 
„The Age of Anxiety“
(Jean-Yves Thibaudet – Klavier)

(Pause)

Peter I. Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

Zugabe:
Edward Elgar – Salut d'Amour (Liebesgruß), Op. 12



Nachdem Herr Nézet-Séguin mit seinen kanadischen Kollegen (Link) bereits einen äußerst starken Eindruck hinterließ, legte er mit seinem Orchester aus Philadelphia noch eine Schippe drauf. Den Tschaikowsky bestimmten starke, ja teilweise extreme Tempokontraste, dazu noch eine enorme Bandbreite im Ausdruck, bei dem immer wieder eine butterweiche Artikulation mit unwiderstehlicher Konsequenz alternierte. Im zweiten Satz trieb Nézet-Séguin es dann so weit, dass man fast Angst haben musste, der Fluß komme zum Erliegen – vielleicht nicht jedermanns Lesart aber für mich in der gesamten Kontrast-Konzeption absolut plausibel und zudem Ausdruck einer großen Liebe zum Detail, welche trotz der Tempoabfälle nie die Spannung verlor, im Gegenteil eine Reihe von Leckerbissen für Klangfetischisten auf dem Silbertablett präsentierte. Und welch eine Entladung im Finale – rasender, soghafter, gewaltiger bis gewalttätiger wurde wohl selten durch den Schlusssatz gepeitscht – eine in jeder Hinsicht berauschende, regelrecht befreiende Erfahrung. Diesem Orchester sind in Sachen Musikalität wie Virtuosität offenbar keine Grenzen gesetzt, eine Demonstration absoluter Perfektion in Ausdruck und Technik. Spätestens nachdem man den als organische Einheit fungierenden Streicherapparat im Pizzikato-Scherzo erlebt hat, mit dem Nézet-Séguin scheinbar nach Belieben phrasieren und den Klang gestalten kann, gibt es keinen Zweifel an der Meisterschaft dieses Klangkörpers. Und ja, so muss das Blech klingen, so und nicht anders.

Hatte ich mich schon sehr über die Aussicht auf eine mustergültige Vierte gefreut, war ich fast noch mehr auf die Bernstein-Sinfonie gespannt, die ich besonders schätze, aber noch nie live und sonst nur mittels einer hoffnungslos verrauschten Einspielung genießen durfte – zwar mit dem Schöpfer selbst am Pult, aber eine traurige Akustik bleibt eine traurige Akustik. Ganz anders heute in diesem Saal, den der wunderbare Jean-Yves Thibaudet mit diesem famosen Orchester im Rücken dazu nutzte, um die brillante Partitur zum Strahlen zu bringen. Präzise, perlend, klar, aber ebenso zart bei Bedarf, auch diesen Programmpunkt hätte ich mir eindringlicher nicht wünschen können. Gerade in den jazzigen Passagen ging es richtig ab, traumhaft die akustische Ausgewogenheit zwischen Solist und dem Ensemble aus Philadelphia – zu meiner Schande, bzw. jener der Aufnahmetechnik besagten Mitschnittes, muss ich gestehen, bis heute nie herausgehört zu haben, dass ja noch ein zweites Piano im Orchester zum Einsatz kommt. Spannend für mich als großer Copland-Freund immer wieder die triumphale Wirkung des Finales, welches eine schöne Brücke zu den Kompositionen des mit Bernstein befreundeten Kollegen schlägt – wenn ich nur ein Werk Bernsteins auswählen dürfte, wäre es nicht „West Side Story“, sondern diese beeindruckende Sinfonie, die heute, im Verbund mit einer anderen großen Sinfonie, das Beste transportiert hat, was Musik seinen Zuhörern geben kann. Herr Nézet-Séguin – bitte beehren Sie uns bald wieder.

28. Mai 2018

The Rape of Lucretia – Ulrich Windfuhr.
Elbphilharmonie Hamburg, kleiner Saal.

19:30 Uhr, Reihe 11, Platz 13



Es ist mir schleierhaft, weshalb diese Oper auf deutschen Bühnen derart im Schatten ihrer Kammerschwester „The Turn of the Screw“ steht. So sehr mich die Geschehnisse auf Bly jedesmal aus Neue in ihren Bann ziehen – wovon allein schon die Tatsache zeugt, dass ich wohl kaum ein Musiktheaterstück häufiger live gesehen habe als dieses – muss ich mich nach dem heutigen Abend doch wieder wundern, warum „The Rape of Lucretia“ eher ein Raritäten-Dasein fristet. Wahrscheinlich liegt es doch eher an der moralisch aufgeladenen Geschichte mit ihrer christlichen Opfer-Thematik, die heutzutage den Zugang auf diese wunderschöne Musik erschwert. Denn reich an Schönheiten ist die Partitur, dabei mitunter sehr illustrativ (der Ritt zu Lucretia) und kontrastreich im Ausdruck, etwa im Wechselspiel der schroffen, groben Klangwelt im Feldlager im Gegensatz zur fast jenseitigen, lieblich-unschuldigen Sphäre Lucretias. Die Sterbeszene schließlich gehört in ihrer musikalischen Kraft und Anmut zum gleichzeitig Verstörendsten wie Anrührendsten, das Britten je schrieb und braucht sich vor ähnlichen Schlüsselstellen seiner großen Opern in ihrer Wirkung keinesfalls verstecken.

Die konzertante Darbietung durch dass Ensemble der Hochschule für Musik und Theater hatte allerdings auch wirklich nichts mit dem gemein, was man sich vielleicht unter einer Studentenaufführung vorstellt – bessere Anwälte für dieses intime Werk sind kaum denkbar. Gerade Hussain Atfah als von Eifer zerfressener, unerbittlicher Tarquinius und Luzia Tietze in der Titelpartie verkörpern ihre Rollen, jenseits stimmlicher Exzellenz, auch ganz ohne szenische Hilfsmittel mit vorbildlicher Intensität, innerhalb einer Sängerriege, die ihnen an Qualität in nichts nachstand. Einzig die Einblendung von Übertiteln wäre eine Überlegung wert gewesen, um gerade den sicher nicht wenigen Ersthörern den Werkzugang zu erleichtern. Es bleibt zu hoffen, dass weitere dieser Kammeroper-Abende im kleinen Saal folgen mögen.


The Rape of Lucretia / Oper in zwei Akten op. 37 – Benjamin Britten
Konzertante Aufführung in englischer Sprache

Lucretia – Luzia Tietze
Collatinus – Maxim Sankirov
Tarquinius – Hussain Atfah
Junius – Junggeun Choi
Lucia – Lea Bublitz
Bianca – Milena Juhl
Female Chorus – Dorothee Bienert
Male Chorus – Daniel Schliewa

Ensemble der Hochschule für Musik und Theater Hamburg
Dirigent – Ulrich Windfuhr

27. Mai 2018

KunstFestSpiele Herrenhausen.
NDR Radiophilharmonie – Ingo Metzmacher.
Kuppelsaal Hannover.

11:00 Uhr, 1. Rang, Block 3, Reihe 3, Platz 19



Hector Berlioz – Grande Messe des Morts „Requiem“ 
Bernd Alois Zimmermann – Stille und Umkehr

Hannoversche Chöre:
Bachchor Hannover / Norddeutscher Figuralchor – Leitung: Jörg Straube
Capella St. Crucis Hannover / Collegium Vocale Hannover – Leitung: Florian Lohmann
Johannes-Brahms-Chor Hannover / Mädchenchor Hannover – Leitung: Gudrun Schröfel
Junges Vokalensemble Hannover – Leitung: Klaus-Jürgen Etzold
Kammerchor Hannover – Leitung: Stephan Doormann
Knabenchor Hannover – Leitung: Jörg Breiding
Tenor – Werner Güra

NDR Radiophilharmonie
Orchester der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover
(Einstudierung durch Musiker der NDR Radiophilharmonie und Lehrende der HMTMH)

Dirigent – Ingo Metzmacher
Musikalische Assistenz – Julian Wolf
Produktionsleitung – Lisa Magdalena Mayer



Zweiter Teil der inoffiziellen norddeutschen Requiem-Woche – heute: Berlioz in Hannover. Fast könnte man meinen, Ingo Metzmacher habe wirklich alle geschulten Kehlen der Leinestadt zusammengetrommelt, um dieses Riesenprojekt auf die Beine zu stellen, listet das Programmheft doch allein neun verschiedene Chöre auf. Darf ’s auch etwas mehr sein – so lautet heute das Motto im imposanten Kuppelsaal. Da ist es umso bezeichnender, dass, obgleich die Chorempore prall gefüllt und auch auf der Bühne kaum Platz für weiteres Instrumentarium zur Verfügung steht, die eigentlich von Berlioz vorgeschriebene Besetzung selbst damit nicht erreicht wird. So zählt man beispielsweise „lediglich“ beeindruckende 10 Bässe statt der aberwitzigen 18, die der französische Feuerkopf vorsah.

Aber egal, mit blanken Zahlen wird man diesem gigantischen Werk ohnehin nicht gerecht, dass über weite Strecken ungleich subtiler, inniger, feinfühliger daherkommt, als es die Monsterbesetzung nahe legen würde. Ohne Zweifel ist es eine beinahe apokalyptische Erfahrung, die vier Blechbläsergruppen – hier akustisch optimal im Rund des Saales verteilt – zu erleben, gewissermaßen das Jüngste Gericht in Dolby Surround, ergänzt vom infernalischen Erdbeben der zehn Paar Pauken auf der Bühne. Eine derart physische musikalische Einwirkung habe ich wohl bislang kaum verspüren dürfen, womit hier die Fülle des Raumes trotz aller Intensität nichts Lärmiges, sondern Druck und Präsenz entstehen lässt. Genau der richtige Kontrast zu den teilweise direkt anschließenden Oasen der Ruhe und Kontemplation, mit denen Berlioz’ Werk fast noch mehr den Atem zum Stocken bringt – was für eine beseelte, originelle, durch und durch suggestive Musik, die mit fortlaufender Dauer einen regelrecht meditativen Sog entfaltet.

Mein Respekt gilt allen Ausführenden, den tadellosen Sängern, dem wunderbar homogenen Klangkörper-Zusammenschluss aus Radiophilharmonie und Hochschule – selbst die Mammut-Blechaufgaben des Fernorchesters wurden mit Bravour gelöst (was für ein sattes Posaunencrescendo im Zusammenspiel mit dem einsamen, fahlen Flötenklang!) – und nicht zuletzt dem Dirigenten und Initiator der Aufführung, Ingo Metzmacher: Hut ab vor der Leistung, diesen Koloss auch über die Distanzen zusammenzuhalten (auch wenn dazu beim Tuba mirum wahrlich dirigentische Handkantenschläge von Nöten waren) und ebenso vor der Idee, diesem an Ressourcen und Ausdehnung übervollen Werk noch ein weiteres, weniger Trost spendendes denn irrlichterndes als komponiertes Fragezeichen an die Seite zu stellen. Bernd Alois Zimmermanns „Stille und Umkehr“ folgte dem Requiem nahtlos als rastloser, verlöschender Schatten, der dem Vergänglichkeitsthema eine weitere, subjektivere, persönliche, bedrückende Facette abrang. Bewegend, erschütternd, zu sich führend – ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Konzert.

26. Mai 2018

Klavierabend – Elisabeth Leonskaja.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Ludwig van Beethoven – Sonate As-Dur op. 110
Ludwig van Beethoven – Sonate c-Moll op. 111

(Pause)

Franz Schubert – Sonate B-Dur D 960

Zugaben:
Franz Liszt – Sonetto del Petrarca Nr. 104 S 161/5 »Pace non trovo« / Années de pèlerinage, deuxième année, Italie
Franz Liszt – Sonetto del Petrarca Nr. 123 S 161/6 »I' vidi in terra« / Années de pèlerinage, deuxième année, Italie



Elisabeth Leonskaja mag als Ersatz für den erkrankten Maurizio Pollini eingesprungen sein, von zweiter Wahl kann künstlerisch jedoch nicht die Rede sein – im Gegenteil. Ich hatte die Pianistin zwar schon einmal vor über zehn Jahren in Hamburg erlebt, aber so unwiderstehlich, wie es sich mir heute offenbarte, hatte ich ihr Spiel aus unerfindlichen Gründen nicht abgespeichert. Da zeigt sich wohl doch auch wieder die enorme Ausdehnung meiner Bildungslücke im Bereich der Klavierliteratur und seiner Vertreter. Drei dramatisch-intensiv ausgelotete Sonaten später reiht sich dieser Abend in die stärksten pianistischen Eindrücke ein, die ich bislang erleben durfte. Und spätestens seitdem der doppelte Liszt als Zugabe mit jener Bandbreite von erotisch-irisierend bis maskulin-auftrumpfend Ohr und Sinne berauschte, muss der Weg zur Erkundung der Diskographie dieser Künstlerin ein obligatorischer sein – h-Moll-Sonate, ich komme!

25. Mai 2018

Coro e Orchestra del Teatro alla Scala – Riccardo Chailly.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 5



Giuseppe Verdi – Messa da Requiem

Tamara Wilson – Sopran
Ekaterina Gubanova – Mezzosopran
René Barbera – Tenor
Ferruccio Furlanetto – Bass

Coro e Orchestra del Teatro alla Scala
Chorleitung – Bruno Casoni
Dirigent – Riccardo Chailly



Erster Teil der inoffiziellen norddeutschen Requiem-Woche – heute: Verdi in Hamburg. Orchester und Chor der Mailänder Scala wie erhofft vom Allerfeinsten, Akustik im Fortissimo angesichts der vielen Kehlen doch mitunter deutlich klirrend. Ansonsten aber butterweicher Klanggenuss unter Chaillys differenzierter Regie – Piano- und Pianissimo-Wonnen. Die Entdeckungen des Abends sind ohne Frage Frau Wilson und Herr Barbera – die ideale Kombination aus makellos strahlendem wie innigem Sopran und einem Tenor mit genau der Portion Schmelz und heldisch-tragender, gleichsam juvenil-schlanker Höhe ohne Engpässe oder Schreihalsallüren, wie sie Verdi zur Vollendung braucht. Frau Gubanovas Qualität stand angesichts zweier Traum-Brangänen in Berlin und München bereits von vornherein außer Frage, Herr Furlanetto rundete das Quartett mit solidem Bassfundament ab.

Fazit: besser geht es kaum, auch wenn die Elbphilharmonie zumindest für Hörer im Parkettdunstkreis die Klangmassen mit leicht lärmiger Schroffheit quittierte.

6. Mai 2018

Neues vom Tage – Gabriel Venzago.
Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin.

18:00 Uhr, Großherzogliche Loge, Reihe 1, Platz 3



Hätte ich mir bei Hindemith ja denken können, dass sich hinter einer „lustigen Oper“ eine bissige Satire verbirgt, in Teilen eine Parodie auf die Gattung Oper selbst, eine Groteske über die Kleingeistigkeit bürgerlich-privater wie gesellschaftlicher Konventionen. Ob dabei im Detail Geschlechterkampf, „Bindungsunfähigkeit“– oder hier besser die Probleme derer, denen es sprichwörtlich zu gut geht, Bürokratiewahn oder Sensationsgeilheit seziert werden, ist dabei gar nicht mal so wichtig, viel spannender ist die Gattung, die Schiffer und Hindemith damit hervorbringen. Am ehesten noch finde ich Gemeinsamkeiten zu „Mahagonny“, allerdings mit weitaus weniger energisch emporgerecktem moralisch-pädagogischen Zeigefinger, oder vielleicht auch bei Hindemith selbst – seine Einakter habe ich allerdings nur einmal vor vielen Jahren gesehen und kann mich zwar deutlich an den Eindruck erinnern, den sie auf mich machten, aber nur vage an Einzelheiten. Was für ein Unterschied zu „Cardillac“ – vom „Mathis“ ganz zu schweigen, wobei das Stilmittel der Ironie auch zu diesen die Brücke schlägt, auf der Hindemith offensichtlich gerne wandelt.

Was mich wirklich nach dem Besuch dieser Aufführung bewegt ist die Frage, wie die Theatergänger seiner Zeit Hindemiths Werk aufgenommen, besser verarbeitet haben im Vergleich zu heute. Nun gut, Berlin ist nicht Schwerin und war es in den Zwanzigern wahrscheinlich noch weniger, aber es hat mich schon ein wenig ernüchtert, wie kühl und distanziert ein Publikum des 21. Jahrhunderts diese Oper mehrheitlich bedacht hat, auf welche die abgegriffene Wendung, sie habe nichts an Aktualität eingebüßt, besser nicht passen könnte. Die Grunde sind wahrscheinlich ebenso banal wie traurig – Zitat 1: „... Mozart ist das nicht ...“. Seufz. Den zweiten aufgeschnappten, womöglich ebenso wenig repräsentativen „Einwand“ kann ich aber noch viel weniger nachvollziehen: „... dieser Klamauk! ...“ – und zwar auf die Inszenierung bezogen, und da hört der Spaß aber auf. Was das Mecklenburgische Staatstheater hier (auch) szenisch auf die Bretter gestellt hat, ist vieles, aber sicher keine billige Klamottenkiste, auch wenn und gerade weil es zuweilen derb und scharf zugeht.

Während Orchester und Ensemble das musikalische Niveau mehr als ansprechend gestalten, geht doch von der Produktion als Ganzes die größte Faszination aus. Angefangen beim gleichsam witzigen wie durchdachten Dreh-Bühnenbild, das immer wieder mit monströs vergrößerten Details arbeitet: Die brav in Reihe aufgestellten, gigantischen Leitz-Ordner bilden die Kabinen für die peniblen Sachbearbeiter auf dem Standesamt und offenbaren nach „Ladenschluss“ in großen Lettern worum es hier eigentlich geht: „Bürokratie“. Der in ihren Chef verliebte Chor der Sekretärinnen verrichtet seinen schwärmerischen Dienst auf einer bühnenfüllenden Schreibmaschine, deren Tasten als Sitzgelegenheiten fungieren. Oder schließlich der riesige Fernseher, in dem die Laura und Eduard ihre Seifenoper für das geifernde Publikum – uns im Saal eingeschlossen? – zelebrieren.

Aber auch an vermeintlich kleineren Einzelheiten der Bühnengestaltung lässt sich ablesen, wie clever und gleichzeitig dienlich, auch im Sinne der räumlichen Limitation, hier gedacht wurde. So wird das Schlafzimmerfenster kurzerhand zum Gefängnis für Eduard, der dadurch, hinter schwedischen Gardinen statt Jalousinen sitzend, die Szene mit der daheimgebliebenen Gattin parallel gestalten kann. Auch den Kleiderschrank als „Portal“ für Auftritte und Abgänge zu nutzen ist ebenso urig (z.B. das Skiurlaubspaar inklusive Restschnee) wie förderlich für die flotte Taktung des Stückes. Überhaupt wartet die Inszenierung mit einer nicht enden wollenden Fülle geistreicher, phantasievoller Einfälle auf. Die für den Massenwaren-Kunstkonsum zigfach duplizierte Figur der „einmaligen“ Venus im Museum, komplett mit billig-schreiendem Reklame-Banner ist an sich schon eine herrlich bissige Umsetzung der bereits im Libretto angelegten Touri-Kritik, vollendet wird das Ganze allerdings, wenn aus der vielleicht nicht schaumgeborenen, jedoch schaumbadenden Laura im Hotel die neue Attraktion wird – komplett mit Beschreibungstafel. Ein visueller Kalauer hier und da wie die pseudo-Lichtensteinsche „Weh-Nuss“ ergänzt den herrlichen Gaga-Faktor des Treibens.

Sowohl Kostüme (Die Butler als Pinguine, der „schmucke“ Herr Hermann) als auch die Personenregie an sich sorgen immer wieder für Schmunzler, selbst bei kleinen Rollen wie dem wunderbar desinteressierten Fremdenführer, der schlurfend und monoton seinen Touristenbegeisterungstext abspult. Schön auch, wie das Paar bei der Inszenierung in der Inszenierung, dem zur Schau getragenen Ehekrach, die absurde Überhöhung darstellerisch durchzieht. Dabei lässt die publikumswirksame Ausschlachtung der privaten Angelegenheiten wirklich kein Mittel aus: Die Protagonisten tragen Perücken, aus den Pinguinbutlern werden Baywatch-Versionen mit nacktem Oberkörper, die zum Duell mit mannshohen Gabeln schreiten, der eigentliche Zwist des Ehepaares wird mit Gotcha-Gewehren dramatisch wie farblich aufgerüscht und durch die Show führt ein kreischend-bunt gedresster Moderator, der zwar für uns stummgeschaltet pausenlos quatschend, aber mit großen Gesten den Animateur gibt. Unterstützung bei der Begaffung bekommen wir durch weitere Zuschauer im edlen Zwirn, die in den Proszeniumslogen Platz nehmen und als Zuspätkommer mehrfach die erste Reihe des Parketts aufmischen.

Hindemiths Partitur selbst trägt nicht minder zur humoristischen Note des Stückes bei. Man hört viel „Altes“, Polyphonie, die in bizarrem Kontrast zu den „Plattheiten“ der Handlung steht, Koloraturen bzw. die Parodie jener Operismen, ganz deutlich in der ebenso schönen wie dämlichen Arie des Herrn Hermann bzw. dem wohlgemerkt inszenierten Liebesduett – Strauss und Puccini lassen grüßen. Weitere Höhepunkte für Ohrenspitzer: Der Triumphmarsch des Geldes im „römischen“ Stil, wenn Eduard, feldherrengleich, in eine rosige finanzielle Zukunft blickt, kontrastierend dazu der Trauermarsch, welcher den Liebeskummer des Ehebruch-Dienstleisters Hermann begleitet. Die Arie der Laura über die Errungenschaft der Warmwasserversorgung, oder noch aberwitziger: Das gewaltige Chorfinale über alle Spielarten der Peinlichkeit.

Bei aller vordergründig lockeren Heiterkeit ist gerade am Schluss die Fallhöhe enorm, die das Lachen sprichwörtlich im Halse verbleiben lässt – sofern man denn sein Gemüt nicht auf Durchzug gestellt hat: Letztendlich sind die Eheleute in einem goldenen Käfig gefangen, die persönliche Entwicklung wird abgelehnt bzw. spielt in der Erfüllung der Sensationsbefriedigung der Massen keine Rolle, ja muss unterdrückt werden, um selbige nicht zu gefährden. Das Publikum will „seine“ Realität, die „ewige“ – ewige Unterhaltungsverdammnis für das unglücklich-glückliche Paar, für das der Vorhang niemals fällt, fallen darf.


Neues vom Tage – Lustige Oper in drei Teilen
Musik – Paul Hindemith
Text – Marcellus Schiffer
Originalfassung von 1928/29

Musikalische Leitung – Gabriel Venzago
Inszenierung – Toni Burkhardt
Bühnenbild – Wolfgang Kurima Rauschning
Kostüme – Anja Schulz-Hentrich
Choreinstudierung – Joseph Feigl
Dramaturgie – Peter Larsen

Laura – Karen Leiber
Eduard – Yoontaek Rhim
Der schöne Herr Hermann – Matthias Koziorowski
Herr M. – Christian Hees
Frau M. – Itziar Lesaka
Ein Hoteldirektor – Sebastian Kroggel
Ein Standesbeamter – Cornelius Lewenberg
Ein Fremdenführer – Igor Storozhenko
Ein Zimmermädchen – Kathrin Voß
Ein Oberkellner – André Schmidtke
Sechs Manager – Christian Hees, Jaewon Kim, Sebastian Kroggel, Cornelius Lewenberg, André Schmidtke, Igor Storozhenko
Pinguine – David Reichert, André Rickert

Opernchor des Mecklenburgischen Staatstheaters
Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin