20:00 Uhr, Etage 13, Bereich A, Reihe 9, Platz 1/2
Leonard Bernstein – Sinfonie Nr. 2 für Klavier und Orchester
„The Age of Anxiety“
(Jean-Yves Thibaudet – Klavier)
(Pause)
Peter I. Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36
Zugabe:
Edward Elgar – Salut d'Amour (Liebesgruß), Op. 12
Nachdem Herr Nézet-Séguin mit seinen kanadischen Kollegen (Link) bereits einen äußerst starken Eindruck hinterließ, legte er mit seinem Orchester aus Philadelphia noch eine Schippe drauf. Den Tschaikowsky bestimmten starke, ja teilweise extreme Tempokontraste, dazu noch eine enorme Bandbreite im Ausdruck, bei dem immer wieder eine butterweiche Artikulation mit unwiderstehlicher Konsequenz alternierte. Im zweiten Satz trieb Nézet-Séguin es dann so weit, dass man fast Angst haben musste, der Fluß komme zum Erliegen – vielleicht nicht jedermanns Lesart aber für mich in der gesamten Kontrast-Konzeption absolut plausibel und zudem Ausdruck einer großen Liebe zum Detail, welche trotz der Tempoabfälle nie die Spannung verlor, im Gegenteil eine Reihe von Leckerbissen für Klangfetischisten auf dem Silbertablett präsentierte. Und welch eine Entladung im Finale – rasender, soghafter, gewaltiger bis gewalttätiger wurde wohl selten durch den Schlusssatz gepeitscht – eine in jeder Hinsicht berauschende, regelrecht befreiende Erfahrung. Diesem Orchester sind in Sachen Musikalität wie Virtuosität offenbar keine Grenzen gesetzt, eine Demonstration absoluter Perfektion in Ausdruck und Technik. Spätestens nachdem man den als organische Einheit fungierenden Streicherapparat im Pizzikato-Scherzo erlebt hat, mit dem Nézet-Séguin scheinbar nach Belieben phrasieren und den Klang gestalten kann, gibt es keinen Zweifel an der Meisterschaft dieses Klangkörpers. Und ja, so muss das Blech klingen, so und nicht anders.
Hatte ich mich schon sehr über die Aussicht auf eine mustergültige Vierte gefreut, war ich fast noch mehr auf die Bernstein-Sinfonie gespannt, die ich besonders schätze, aber noch nie live und sonst nur mittels einer hoffnungslos verrauschten Einspielung genießen durfte – zwar mit dem Schöpfer selbst am Pult, aber eine traurige Akustik bleibt eine traurige Akustik. Ganz anders heute in diesem Saal, den der wunderbare Jean-Yves Thibaudet mit diesem famosen Orchester im Rücken dazu nutzte, um die brillante Partitur zum Strahlen zu bringen. Präzise, perlend, klar, aber ebenso zart bei Bedarf, auch diesen Programmpunkt hätte ich mir eindringlicher nicht wünschen können. Gerade in den jazzigen Passagen ging es richtig ab, traumhaft die akustische Ausgewogenheit zwischen Solist und dem Ensemble aus Philadelphia – zu meiner Schande, bzw. jener der Aufnahmetechnik besagten Mitschnittes, muss ich gestehen, bis heute nie herausgehört zu haben, dass ja noch ein zweites Piano im Orchester zum Einsatz kommt. Spannend für mich als großer Copland-Freund immer wieder die triumphale Wirkung des Finales, welches eine schöne Brücke zu den Kompositionen des mit Bernstein befreundeten Kollegen schlägt – wenn ich nur ein Werk Bernsteins auswählen dürfte, wäre es nicht „West Side Story“, sondern diese beeindruckende Sinfonie, die heute, im Verbund mit einer anderen großen Sinfonie, das Beste transportiert hat, was Musik seinen Zuhörern geben kann. Herr Nézet-Séguin – bitte beehren Sie uns bald wieder.