17. Oktober 2018

St. Petersburger Philharmoniker – Yuri Temirkanov.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich N, Reihe 1, Platz 21



Nikolai Rimski-Korsakow – Tableaux musicaux zu »Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija« 

Sergej Prokofjew – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 g-Moll op. 16
(Yefim Bronfman)

(Pause)

Piotr I. Tschaikowsky – Suite aus »Schwanensee« op. 20 /
Arrangement: Yuri Temirkanov
Zugabe:
Edward Elgar – Salut d'amour op. 12



Nachdem ich dieses vorzügliche Orchester im letzten Jahr in seiner eigenen besten Stube (Link) kennenlernen durfte, gaben sich die St. Petersburger nun in meiner bevorzugten Klangtankstelle die Ehre, noch dazu unter der Stabführung ihres langjährigen Chefs. Herr Temirkanov (oder wie das Lektorat der Eintrittskarte meint „???“...) ist offenbar kein Vertreter radikaler Lesarten, sondern pflegt gerade bezogen auf den Ausdruck einen äußerst runden, vollmundigen Klang – was in diesem Falle keineswegs abfällig gemeint ist. Gepflegte Langeweile geht anders, zumal die ein oder andere kecke Tempoforcierung, namentlich im Schwanensee, durchaus Esprit versprüht. Ich möchte den Stil so beschreiben, dass hier eben eher Klangfeinschmecker als Interpretationsvergleicher auf ihre Kosten kommen.

Und allein dieser weiche, runde, selbst im Fortissimo nie schroffe Klang ist das eigentliche Ereignis. Ob im opulenten Farbrausch Rimski-Korsakows oder in der Vermittlung der expressiven Kühnheiten Prokofjews, hänge ich schwärmend an den Lippen der St. Petersburger. Das Klavierkonzert – brillant getragen von Yefim Bronfman – ist dabei wahrscheinlich die Entdeckung des Abends. Nach den Sonaten von Schostakowitsch und Ives die nächste „Uraufführung“ mit Nachhall. Es ist den Russen nicht hoch genug anzurechnen, dass sie ihre heimatliche Werkschau eben nicht allein mit beliebten Gassenhauern bestreiten, sondern auf die eigene und programmatische Vielfalt setzen.

Angesichts dieser musikalischen Qualität ist das natürlich ein überschaubares Wagnis, das spätestens in den wohlvertrauten Ballettweisen Tschaikowskys seine breitenwirksame Erfüllung findet. Wobei ich deutlich betonen möchte, dass eine solch perfekte Wiedergabe jener im kollektiven Gedächtnis allgegenwärtigen Musik sicher nichts Alltägliches hat. Das Finale mit seiner triumphal-erlösenden Wendung nach Dur erschüttert mich mit jedem Hören aufs Neue. Die Zugabe, der liebliche Liebesgruß Elgars, ist klug gewählt, um diesen vollendeten Abend vollends abzurunden – Harmonie im Hören, Denken und Fühlen.

1. Oktober 2018

Schwerpunkt Charles Ives.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 6, Platz 7



Edgard Varèse – Density 21.5 für Flöte solo 
Dmitri Schostakowitsch – Sonate für Viola und Klavier op. 147

(Pause)

Elliott Carter – Scrivo in vento für Flöte solo
Charles Ives – Sonate Nr. 2 „Concord, Mass., 1840-1860“
(Adam Walker – Flöte, Tabea Zimmermann – Viola, Pierre-Laurent Aimard – Klavier)



Varèse: Eine intime Hommage an ein Instrument, die so akustisch ausgefeilt wohl nur in dieser Halle zu realisieren ist – diese Feinheiten! Perfekt wäre es mit Kartoffelsäcken anstatt des übrigen Publikums ... welche Kontraste – Dynamik und Ausdruck. Herr Walker ist ein absoluter Könner.

Schostakowitsch: Ebenfalls akustisch beeindruckend (Pianissimo, insbesondere der Bratsche, Flageolett erster Satz), aber darüber hinaus eines der berührendsten Werke, die ich je live kennenlernen durfte. Vergleiche mit Mahlers letzten beiden Sinfonien tun sich auf. Der Finalsatz ist ein Wunderwerk der Empfindsamkeit, des Ton gewordenen Abschieds. Wie sich Viola und Piano ergänzen, buchstäblich zusammen situativ neue, doch so vertraute, tröstliche Klangspektren im Zweifel und im Schmerz aufblühen lassen, ist beinahe beispiellos. Ich brauche eine Aufnahme!

Carter: Nochmal krassere Kontraste – Varèse 2.0. Schönster Flötenton aller Zeiten. Ansatzlos zartes Crescendo aus dem Nichts, welchselt mit brutal hart schneidendem Zischen etc. – Flötenspiel auf atomarer Ebene.

Ives: Eine Offenbarung – ich wurde eine Dreiviertelstunde in den Steinway gesogen. Alles, was (nicht nur) moderne Musik leisten soll: stimulieren, faszinieren, transzendieren. Diese Dichte! Erster Satz: Gleichzeitigkeit halbwegs tonaler Einzelteile, ein Wahnsinn, da reinzuhorchen, zu scannen. Unglaublich der Effekt der Violasekunden! Genial als Schatten, der über die Bühne weht (Fachkundiger Kommentar dazu: „schon witzig, dass sie das mit der Geige auch eingebaut haben ...“). Zweiter Satz: diese Steigerungen, Eruptionen, tonale Splitter, der Klang gewordene Duft! Dritter Satz: Diese Schönheit, zauberisch, innig empfunden, entwaffnend – melodiös. Finale: Ton gewordener Humanismus (vgl. Einführung). Die Flötenmelodie als Fenster ins Verständnis, Beethovens Ringen, wenn auch nicht überwunden, aber mit ihm versöhnt, Blick in eine (tonale) Utopie.

Fazit: welch ein Glück, dass die Musik weiterhin solche persönliche Uraufführungen für mich bereit hält – tiefe Dankbarkeit.