30. September 2017

Hollywood in Hamburg: Danny Elfman.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 12 B, Reihe 13, Platz 3



Werke von Danny Elfman:

Serenada Schizophrana, "I forget"
Konzert für Violine und Orchester "Eleven Eleven"
(Sandy Cameron – Violine)

(Pause)

Batman, Suite
Alice in Wonderland, Suite
Edward Scissorhands, Suite

Zugaben:
The Simpsons, Theme
The Nightmare before Christmas, "What's This?"
(Danny Elfman – Gesang)


Czech National Symphony Orchestra
The CNSO Mixed Choir
John Mauceri – Dirigent und Moderation
Sandy Cameron – Violine
Fabian Winkelmaier – Knabensopran
Danny Elfman – Special Appearance



"Das klingt ja wie Filmmusik." – Dieser (dumme) Spruch, den Klassik-Traditionalisten gern verwenden, um Werke abzuqualifizieren, deren Faktur ihnen zu eingängig oder anderweitig suspekt erscheint, hätte heute zur Abwechslung mal richtig Sinn ergeben. Nicht als Verdikt gegen diese Kunstform, sondern im Gegenteil als Ausdruck der Überraschung, was dabei herauskommen kann, wenn ein Filmkomponist sein angestammtes Terrain verlässt, um sich in anderen Formen auszutoben, ohne dabei jedoch seine ureigene Klangsprache aufzugeben.

In einem Violinkonzert zum Beispiel. Wobei es sich bei Elfmans erstem Werk dieser Gattung, wie der als überaus charmanter Moderator durch das Programm führende Dirigent John Mauceri bereits feststellte, mehr um eine Sinfonie handelt. Ganz klassisch mit vier Sätzen – einem ausladenden Kopfsatz, der eher rhapsodischen Charakters zu sein scheint, einem Scherzo, einem Adagio und schließlich einem Allegro-Finale. Nur eben, dass der virtuose Violinpart ein ebenbürtiges Gegengewicht zum spät-spät-romantischen Treiben des Orchesters in Strauss- oder Schostakowitsch-Stärke darstellt.

Schostakowitsch ist schon gleich ein gutes Stichwort, denn der Abend brachte einige spannende Erkenntnisse über Elfman und seine kompositorischen Wurzeln, die mir ungeachtet der Tatsache, dass mir viele seiner Scores vertraut sind, bislang nie in den Sinn gekommen waren. Um das gleich klarzustellen: Elfman ist sicher kein Schostakowitsch-Epigone. Das oft bemühte Vorurteil gegenüber Filmkomponisten, die sich dreist und 1:1 aus der hehren Klassik bedienten, langweilt mich zutiefst und verhöhnt die zum Teil großartigen Werke, die für den Film entstanden sind und weiter entstehen. So wie weder ein Beethoven, Wagner oder eben Schostakowitsch musikalisch gesehen vom Himmel gefallen sind und ihr Schaffen auf zuvor Geschaffenem basiert, sollte man auch Filmkomponisten diese Verlinkung zur Musiktradition zugestehen.

Elfman ist vor allem bekannt für seinen "schrägen" Stil, der immer wieder eine Atmosphäre des Verwunschenen, Dämonischen oder Zauberhaften evoziert. Der Einsatz von "sakral" anmutenden, meist wortlosen Chören ist beispielsweise ein prägnantes, wiederkehrendes Mittel dafür. Die Einbindung des Knabensoprans ist eine weitere Spielart, das Überirdisch-Entrückte zu betonen. Der heute erlebte Elfman im symphonischen Gewand ließ jedoch über die bekannten Kniffe hinaus durch die größere formale Nähe zur Klassik interessante Bezugspunkte zu Tage treten. Schostakowitsch, aber auch Prokofjew, als wichtige Vorbilder für Elfman, sind vor allem in jener Form der "Skurrilität" spürbar, für die der Filmkomponist so geliebt wird. Der Furor des Violinkonzert-Scherzo beispielsweise wartet mit derlei Reminiszenzen auf, das Überbordende, nahezu Gewaltsame. Die andere Form der Präsentation öffnete nun die Ohren auch für ähnliche Passagen in eigentlich wohlbekannten Elfman-Stücken – von der verzerrten Drehorgelmusik aus "Batman" ist es nicht weit zu so mancher Stelle bei den russischen Groß-Sinfonikern.

Wie gesagt, es geht dabei weniger um das persönliche Idiom, sondern um bestimmte stilistische Mittel, die bei Elfman jedoch in ganz anderem Zusammenhang wirken. Oder schauen wir uns die Instrumentation an. Die große Palette an Schlagwerk, bei der Xylophon, Vibraphon oder Glockenspiel gern solistisch verwendet werden, ist eine weitere Parallele. Oder der innige, klagende Ton der breiten Streicherflächen des Adagio, auch hier mag Schostakowitsch Pate gestanden haben. Das wichtigste bei all dieser, mir zugegebenermaßen viel Freude bereitenden, Erbsenzählerei ist jedoch, dass Elfman in der Summe der Teile der originäre Künstler bleibt, dessen Nische in Hollywood wirklich seines Gleichen sucht. Diesen Herrn heute einmal live erleben zu dürfen, stellt ebenfalls etwas ganz Besonderes für mich da.

Ich hatte das Glück, in direkter Sichtachse auf den Komponisten Platz genommen zu haben. Das Schauspiel, wie intensiv Elfman gerade mit seinen Nicht-Filmmusik-Arbeiten mitging, ließ mich ebenso schmunzeln wie die Leidenschaft des Musikers bewundern. Da wurde mit gefalteten Händen der Takt mitgeknetet, mit winzigen Gesten dirigiert, mit dem Kopf gewipppt, als könne er es kaum aushalten, hier andächtig seinen eigenen Schöpfungen zu lauschen, ja ließ sich gar dazu hinreißen, eine kurze Passage mit dem Handy mitzufilmen – tse, tse, tse. Während Edward Scissorhands eilte Elfman zweimal an das Mischpult hinter ihm, um die Techniker auf etwas aufmerksam zu machen, dass aus seiner Sicht offenbar umgehend der Anpassung bedurfte. Ich glaube, es ging um die verstärkten Synthieklänge, die im Zusammenspiel mit der in diese Suite nachträglich eingefügten Soloviolin-Passage wohl etwas dominant rüberkamen.

Wo wir bei der Solovioline sind, bzw. der wahrlich zauberhaften Erscheinung, die jene auf so beeindruckende Art führte – ich kann schon verstehen, warum Elfman sein Violinkonzert für Sandy Cameron geschrieben und es ihr gewidmet hat. Der Name sagte mir rein gar nichts, im üblichen Klassikbetrieb ist mir die Dame noch nicht begegnet. Ungeachtet ihres auch optisch durchaus virtuos angelegten Auftritts zwischen Elfe in Samt und tasmanischem Teufel in Lack und Leder, sind ihre technischen Fähigkeiten über jeden Zweifel erhaben. Ein gutes Maß Hollywood-Show sicher, aber gleichsam atemberaubende Brillanz, wie sie mitreißender nicht sein könnte, gepaart mit Einfühlungsvermögen und der Gabe zu beseelter Lyrik. Wie auch die Musik, die Cameron darbot, eine regelrechte Explosion der Kontraste.

Nach den drei Filmmusiksuiten nach der Pause, von denen insbesondere "Batman" das gesamte Instrumentationsgeschick des Komponisten ausrollte, gab es noch zwei kleine Zugaben: Erst einmal das wohl bekannteste Thema aus der Feder Elfmans, die Titelmelodie zu den "Simpsons" in einer erweiterten Fassung mit pointiert-witzigem Intro. Zu guter Letzt trat "Danny", wie ihn John Mauceri liebevoll nennt, selbst auf die Bühne der Elbphilharmonie – zeigte sich begeistert ob des Baus, dankbar für die Einladung und verabschiedete ein tosendes Publikum mit dem Song "What's This?" aus "The Nightmare before Christmas", bei dem er der Figur des Jack Skellington seine Stimme leiht.

Fazit: Elfman in Hamburg – weit mehr als das erwartete Score-Potpourri, ein faszinierender Abend.

27. September 2017

Ensemble Resonanz – Tabea Zimmermann.
Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal.

19:30 Uhr, Reihe 18, Platz 17



Henry Purcell – Fantasia à 4 Nr. 10
Henry Purcell / Benjamin Britten – aus The Fairy Queen:
Sweeter than Roses / Hark the ech’ing air
Henry Purcell – Fantasia à 4 Nr. 11
Henry Purcell – O let me weep
Benjamin Britten – Lachrymae. Reflections on a song of Downland

(Pause)

Thomas Larcher – Still (für Viola und Kammerorchester)
Benjamin Britten – Les Illuminations op. 18

(Tabea Zimmermann – Viola und Leitung, Robin Johannsen – Sopran, Ensemble Resonanz)



Zur Einstimmung in die neue Saison wurde eine kleine Begrüßungsrede gehalten. Interessante Info dabei: man hat die Saalakustik überarbeitet – die abgeschrägten Paneele an der Seitenwand ziehen sich jetzt bis ganz nach hinten durch. Auf diese Weise sei der Klang noch einmal verbessert worden. Um meinen persönlichen Eindruck vorwegzunehmen: ich glaube nicht, dass mir ein Unterschied aufgefallen wäre, wenn man mich nicht darauf hingewiesen hätte. Dafür hätte ich im kleinen Saal mehr Konzerten mit vergleichbarer Besetzung beiwohnen müssen.

Aber Modifikation hin oder her, es klingt weiterhin vorzüglich hier, soviel ist sicher. Ich hatte mich diesmal absichtlich einige Reihen weiter hinten positioniert (zuvor saß ich zweimal in Reihe 9), und auch von der Saalmitte aus sorgt die Akustik für ein sehr präsentes Erlebnis. Selbst bei der Mini-Besetzung der Purcell-Fantasien, technisch gesehen ein Streichquartett, füllen die vier Musiker den Raum mit Wohlklang. Die Laute kommt ebenfalls gut rüber, wenngleich ihr Einsatz eher zurückhaltend, unterstützend angelegt ist. Klavier und Stimme scheinen sich etwas dezenter zu übertragen als die Streicher, der Flügel klang vielleicht eine Spur trocken, aber das ist wirklich die Suche nach dem Haar in der Suppe. Die verschiedenen Preiskategorien bestehen schließlich nicht ohne Grund. Ich denke, irgendwo um die zehnte Reihe herum befindet sich mein potenzieller Lieblingsplatz.

Purcell kann ich mir gut anhören, ob instrumental oder mit Gesang. Frau Johannsen mit wunderbar lyrischem, aber etwas kühlem, nicht unbedingt sinnlichem Sopran. Als sich dann mitten im „O let me weep“ scheinbar Schnarchgeräusche laut vernehmbar in den Vortrag mischten, führte dies zuerst zu Irritation, dann aber schnell zu einem spontanen Rettungseinsatz durch einige Konzertbesucher, als klar wurde, dass hier jemand gerade einen Kreislaufkollaps oder ähnliches erleidet. Während die Musiker auf der Bühne den Trauergesang weiterführten, wurde der Herr aus dem Saal getragen – eine bizarre Aktualisierung des programmgebenden Vanitas-Gedankens.

Brittens Lachrymae ist der Wahnsinn – heute dargeboten in einer Wahnsinnsinterpretation. Tabea Zimmermann: ein Ereignis. Samtigst bis knorrig, zartest bis ruppig – Kontraste pur. Das überschaubare Streicherensemble insgesamt entwickelt teilweise ein Mordsvolumen, die zwei Bässe wummsen richtig. Und was für ein Stück. Britten liegen einfach Variationsgeschichten, ob einzelner Satz wie die Grimes-Passacaglia oder ganzes Konzert wie jenes für die linke Hand oder eben das heute dargebotene Werk. Welches ich gar nicht als Bratschenkonzert abgespeichert hatte, wahrscheinlich, weil ich es in einer Transkription für Viola und Harfe kennengelernt habe. Doch unabhängig der Gewandung – dieser Ideenreichtum, dieses Kaleidoskop der Möglichkeiten, das schließlich in den reinen, warmen Lichtstrahl des Urthemas mündet. Leider sind die Hörer hier nicht ganz so konzentriert wie beim Purcell. Unter Umständen Nachwirkungen des Zwischenfalls. Zu allem Übel dazu noch ein Handy-Dummbatz, der in das Verklingen des Stückes hineindeppt. Erst mal Pause zum Verdauen.

Thomas Larcher ist super! Nach dem Konzertstück mit dem SOdBR (Link) nun der nächste Knaller. Den Mann sollte man definitiv auf dem Zettel haben. Wer Britten und Schostakowitsch liebt, muss das einfach mögen. Der Herzschlag, das Ticken einer Uhr, ein Puls, die Zeit, Fließen, sich Aufstauen, Stillstand. Zimmermann und das Ensemble göttlich in ihrer Vehemenz und Sensibilität. Larcher: (Auch) tonal aber nicht banal – Mehr davon!

Les Illuminations hatte ich bislang immer nur mit Tenören gehört, ob live oder aus der Konserve. Meine heutige Premiere mit einem Sopran als stimmlicher Lotse durch Rimbauds Welt vertiefte einmal mehr meine Liebe zu diesem Komponisten. Und unabhängig davon, dass der Liedzyklus trotz aller Pears-Prägung auch in dieser Gestalt nichts von seiner magischen Wirkung einbüßt, musste ich parallel mein gespaltenes Urteil über Frau Johannsen revidieren, die sich mit illustrativ-überbordendem Verve als wahre Sängerdarstellerin erwies. Kontraste zogen sich als eine Art roter Faden durch den Abend, Kontraste auch hier. Von den nervösen, grell-grotesken Zügen gezackter Figuren und harmonischen Hakenschlagens zu den breit strömenden, somnambulen Wellen, wie sie das Werk beschließen, hat Britten jene besondere Parade, die der Dichter evoziert, kongenial mit Tönen begleitet. Wie schön, dass der kostbare Schlüssel dazu, den Rimbaud erwähnt, von solch ausgezeichneten Vermittlern wie dem Ensemble Resonanz und seinen Gästen in unsere schaulustigen Hände übertragen wurde.

26. September 2017

Tongyeong Festival Orchestra – Heinz Holliger.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Ebene 15 N, Reihe 4, Platz 7



Maurice Ravel – Le tombeau de Couperin
Isang Yun – Violinkonzert Nr. 3 (Clara-Jumi Kang)
Zugabe: Bach?

(Pause)

Isang Yun – Harmonia / für Bläser, Harfe und Schlagwerk
Maurice Ravel – Ma mère l’oye / Ballettmusik



Zu viele grobe Menschen besuchen ein Konzert mit sehr feiner Musik, das Störgeräuschgewitter hat sich heute wieder mal besonders heftig entladen. Ich hoffe weiterhin, dass die Zeit und ein Ende des Hypes Besserung mit sich bringen werden. Interessant auch, wie viele leere Plätze den großen Saal zieren. Ich persönlich habe da weniger eine Grippewelle im Verdacht, als diverse Ticket-Spekulanten, die ihre Beute nicht losgeworden sind.

Nun aber zum Wesentlichen, einem rundum gelungenen Musikabend. Schon in der Einführung lernen wir Heinz Holliger als sympathischen Herrn kennen, der, insbesondere zu Isang Yun befragt, die bewegte Biografie sowie das Schaffen des Komponisten und politisch Verfolgten als Zeitzeuge intensiv beleuchtet. Neben den erschütternden Schilderungen der Repressalien, mit denen Yun von seinen eigenen Landsleuten aufgrund seines Einsatzes für ein geeintes Korea bedacht wurde, bis hin zur zwischenzeitlich drohenden Todesstrafe, zeichnet besonders der Hinweis auf das Streben nach musikalisch-kultureller Verschmelzung europäischer und asiatischer Traditionen ein lebendiges Bild des Künstlers.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich in Yuns Musik nach dem ersten Eindruck wenig Fremdartiges, Fernöstliches entdeckt habe. Für meine weder in Donaueschingen, noch in Seoul geschulten Ohren klingt das einfach wie avantgardistische Nachkriegsklassik halt klingen kann. Holliger sprach von tonal wirkenden Strukturen, die mit „unserem“ Dur-Moll-System allerdings nichts zu tun hätten – das wird so sein, aber im Ergebnis löst diese Musik sicher keinen Kulturschock aus. Was nicht heißt, dass ich diesen herbeigesehnt hätte, aber nach den Ausführungen im Interview war ich auf härteren Tobak eingestimmt. Viel ist davon nach der ersten Begegnung jedoch ohnehin nicht hängengeblieben, wenn ich ehrlich bin.

Holliger als Dirigent gefällt mir ziemlich gut. Eine durchweg straffe Lesart des Ravel, federnd, aber ohne Krassheiten. Die überschaubare Besetzung des Tongyeong Festival Orchestra – man hätte dem Namen auch ein „Chamber“ hinzufügen können – trug dazu bei, dass Transparenz und zumeist leise Töne ein exquisites akustisches Erlebnis für besonders spitze Ohren bereiteten (allein diese gestopften, gedämpften Hörner!), ja, wenn sich nur Gehuste und Geschwätz nicht ähnlich eindringlich in die Stille eingebracht hätten wie Solo-Oboe oder Englischhorn. Beeindruckend in jedem Fall, zu welcher Klangeruption selbst diese relativ kleine Schar Musiker den Schluß von Ma mère l’oye führen können.

Der Platz ist akustisch wie sichttechnisch mehr als brauchbar, wenngleich eben wirklich neben der Bühne verortet– kann man zur Not machen, ich für meinen Geschmack möchte nach Möglichkeit immer im Rücken des Dirigenten sitzen. Spaßeshalber werde ich sicher auch mal die Plätze hinter dem Orchester ausprobieren, klanglich erhoffe ich mir davon jedoch wenig. Interessant bzw. bemerkenswert ist der Umstand, dass es schon ausreicht, sich gen Geländer vorzubeugen, um deutlich an Klarheit zu gewinnen. Diesen Effekt konnte ich bis jetzt auf jedem Platz ab Ebene 15 himmelwärts ausmachen.

Fazit: Das nächste Mal die Störquellen durch Sandsäcke ersetzen und gut ist.

25. September 2017

Philharmonia Orchestra – Esa-Pekka Salonen.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Einführung, 20:00 Uhr, Ebene 12 D, Reihe 3, Platz 4



Kaija Saariaho – Lumière et pesanteur
Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 6 d-Moll op. 104

(Pause)

Sergej Prokofjew – Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19 (Pekka Kuusisto – Violine)
Zugabe: Glastanz?
Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 105
Zugabe: Jean Sibelius – Valse triste op. 44



Dass sich der Besuch des hochgeschätzten Philharmonia Orchestra aus London als weiteres Weltklasse-Konzert in meinen noch jungen Abo-Annalen an diesem Ort verewigen würde, hatte ich insgeheim gehofft. Dass ich heute allerdings in gewisser Weise eine akustische Neubewertung meines Platzes erfahren würde, hätte ich sicher nicht erwartet. Ohne Zweifel bleibt 13 E das Maß der Dinge, aber von all dem, was ich teilweise bei den vorangegangenen Visiten auf 12 D an scheinbar zu akzeptierenden Nachteilen des geringeren Abstands zur Bühne ausgemacht hatte, war heute rein gar nichts zu spüren. Keine Spur von Unausgewogenheit oder gar Schärfe, geriet die Veranstaltung zur Demonstration von Präsenz bei gleichzeitiger Homogenität im Klang. Und ich glaube kaum, dass es auf anderen Plätzen schlechter geklungen haben wird. Keine Patzer, ja nicht einmal unschöne Ansätze, welche die ach so „unerbittliche“ Saalakustik unters Brennglas gezerrt hätte. Stattdessen eine Form technischer und vor allem klanglicher Perfektion, deren Aura der Selbstverständlichkeit sprachlos macht.

Was für ein Streicherklang – mir war nicht bewusst, dass sich Samt so fein weben lässt. Und auf der anderen Seite diese Strahlkraft, welche die Violinen zur Entfaltung bringen. Keine Orchestergruppe, die sich nicht dem Grundsatz der Makellosigkeit verschrieben hätte. Gepaart mit dem Willen und der Fähigkeit Salonens, Klang wirklich zu formen, zu gestalten, wird Sibelius zur Offenbarung. Die Kunst des Übergangs. Nicht die des unmerklichen, suggestiven wie bei Wagner, sondern die offen bestaunbare Transformation klanglicher Aggregatszustände im Fluß motivischer Arbeit. Und hier und heute wurde mit einer Perfektion, Eleganz, Konsequenz und Intensität transformiert, wie es das gleichzeitig herbe und herzenswarme Gewebe Sibelius´ nur verdient hat. Salonen kombiniert eine extrem organische, stetig fließende Geschlossenheit mit einem Höchstmaß an Fokus und Konzentration. Straffe Tempi in den schnelleren Passagen, schneidig vorgetragen, betonen die Kontraste zum breiten Atem sich erhaben ausschwingender Steigerungen. Allein das Finale der Siebten dürfte in seiner hymnischen Sogwirkung kaum zu überbieten sein. Ich liebe diese Musik und bin sehr dankbar, sie heute wieder einmal fern der Komfortzone heimatlicher Referenzaufnahmenhuldigung live in Vollendung genossen zu haben.

Gehören Sibelius Sinfonien zu meinem Leib- und Magen-Repertoire wie Mahler oder Britten, stellt das Violinkonzert von Prokofjew für mich eine Erstbegegnung dar, zumindest bewusst, so dass es mir hier nicht möglich war, Vergleiche mit anderen Interpreten und Interpretationen anzustellen. Ungeachtet dessen ist Prokofjew bei mir untrüglich positiv abgespeichert. Romeo und Julia, Alexander Newski oder beispielsweise die 5. Sinfonie – alles ausgesprochene Lieblingswerke. Das Violinkonzert mag aus einer früheren Schaffensphase stammen, Prokofjews melodiöser und harmonischer Reichtum blitzt jedoch bereits in diesem auf den ersten Blick ziemlich nervös-expressiven, schroffen Werk immer wieder auf. Zuerst wusste ich nicht so recht, was ich vom Solisten des Abends halten sollte, schien mir Kuusistos Spiel zwar wunderbar energiegeladen, im positiven Sinne übermütig, aber in der Intonation hier und da seltsam unsauber, ja fast schlampig. Zweifel an den Fähigkeiten des Finnen räumte dieser allerdings spätestens mit der unbeschreiblich zart, kristallklar und innig vorgetragenen, volksliedartigen Zugabe ("Glastanz"?) aus, bei der er, den Rhythmus stampfend, von zuvor zum Summen animierten Orchestermitgliedern begleitet wurde.

Salonens Zugabe wiederum, der Valse triste von Sibelius, lotete noch einmal die akustischen Möglichkeiten des Saales bis an die Grenzen des Vernehmbaren aus. "Es klingt so schön, hier leise zu spielen", schwärmte der Dirigent bei der Anmoderation – erst recht, wenn man solche Streicher im Gepäck hat. Halt, fast hätte ich den Beginn des Konzerts unterschlagen: Das Stück Lumière et pesanteur der ebenfalls finnischen Komponistin Kaija Saariaho, eine kurze, intrumentale Kostprobe aus ihrem Oratorium "La Passion de Simone" über die Philosophin und Aktivistin Simone Weil. Für mich der perfekte Einstieg in einen Abend faszinierender Klang-Gestaltung, darüber hinaus eine Musik, die in ihrer Schaffung von Atmosphäre und Stimmungen unmittelbar vertraut wirkt.

Fazit: Die Kombination Philharmonia/Salonen erweist sich erneut als Traumkonstellation, die keine Wünsche offen lässt. Mehr geht nicht.

23. September 2017

Lady Macbeth von Mzensk – Yoel Gamzou.
Theater Bremen.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 14



"Die Musik hätte ich mir schlimmer vorgestellt ...", resümiert der Herr hinter mir beim Verlassen des Theaters – hach, es geht doch nichts über Aufgeschlossenheit, gepaart mit einem gesunden Maß Masochismus. Wie oft gehe ich nicht selbst mit der wohligen Vorverurteilung in eine Vorstellung, für die ich natürlich ordentlich gelatzt hab, was für eine miese Scheiße mich wohl erwarten wird. Wer grundsätzlich negativ denkt, kann nur positiv überrascht werden – genial! Da ist der arme Abo-Lemming ja noch mal glimpflich davongekommen, mit diesem semi-schlimmen Schostakowitsch. Warum setzt man der treuen Herde auch nur immer wieder solch modernes Teufelszeug vor? Gut, mit seinen 83 Jahren auf dem Buckel eigentlich absolut zielgruppenkonform, der Schinken. Aber was soll´s, solange noch genug Leute im Saal sitzen, für die Musiktheater mehr als Berieselung darstellt. Die Hütte war zumindest richtig voll. Und die Fluchtmöglichkeit zur Pause wurde augenscheinlich kaum in Anspruch genommen – das hätte ich mir schlimmer vorgestellt.

So, jetzt ist es auch mal gut, schließlich stand heute eine der kontrastreichsten, packendsten, aufwühlendsten Opern des 20. Jahrhunderts auf dem Programm. Zudem galt es dem neuen musikalischen Leiter des Theaters Bremen nach dem Abschied des sehr geschätzten Markus Poschner einen ersten Besuch abzustatten. Von Yoel Gamzou hörte ich das erste Mal vor einigen Jahren im Zuge der Berichterstattung über seine Fassung von Mahlers unvollendeter Zehnten – die ich bislang aber noch nicht studiert habe. Nun also Chef in der hanseatischen Nachbarschaft. Sein Dirigat heute würde ich als differenziert bezeichnen, und hatte seine stärksten Momente in besonders einfühlsamen und gerade leisen Passagen. Allein für den hauchzarten und doch spannungsgeladenen Streicherklang nach Katerinas letztem Monolog hätte sich die Anreise schon gelohnt. Die vielen gewaltigen, gewaltsamen Ausbrüche und Steigerungen der Partitur nimmt Gamzou mit ordentlich Schmackes, dennoch wollte sich trotz teils bestialischer Lautstärke im Saal für mein Empfinden nicht immer der erforderliche Druck dahinter entwickeln. Manche Stelle schien mir tatsächlich im Bestreben um Agilität regelrecht überhastet – Geschmackssache. Das teilweise ob der Riesenbesetzung in Proszeniumsnischen ausgelagerte Bremer Orchester präsentierte sich jedenfalls auf gewohnt hohem Niveau.

Ähnliches gilt für das Gesangsensemble, wobei es manchem Sänger angesichts der Klangmassen doch etwas an Durchschlagskraft mangelte. Mit Chris Lysack kann ich auch in dieser Rolle nicht viel anfangen. Nach seinem für mich enttäuschenden Grimes (Link), nehme ich ihm den Macho Sergej, dessen Virilität (der Mann mit dem großen Presslufthammer, schon klar, Herr Petras) ja durchaus eine faszinierende, wenn auch unheilvolle Anziehungskraft auf Katerina ausübt, weder stimmlich noch darstellerisch ab. Seinem Tenor fehlt es an Schmelz einerseits, Autorität andererseits, sein Auftreten ist eher linkisch denn vor Selbstbewusstsein strotzend. Luis Olivares Sandoval als Schäbiger bringt da deutlich mehr street credibility mit – warum singt er eigentlich nicht den Sergej, sein Werther an diesem Hause war mehr als beeindruckend. Von den Herren macht heute Patrick Zielke eindeutig die beste Figur – und dass, obwohl er den abstoßendsten Charakter der Handlung verkörpert. Sein Boris bringt genau die richtige Mischung aus Oligarchen-Terror und unterschwelliger, triebhafter Bedrohung mit sich, ein Unmensch mit mächtigem Organ. Jedoch erst Nadine Lehner in der Titelpartie erhebt diesen Abend – wieder mal – auf schwindelerregendes Intensitätsniveau. Nach der Gouvernante in Brittens Turn of the Screw (Link) und der Charlotte in Gounods Werther (Link) eine weitere Darbietung voll sängerdarstellerischer Hingabe. Die letzten Gedanken der Katerina über das tiefe Wasser des Sees – todtraurig, in ihrer brüchigen Intensität den Atem raubend.

Armin Petras´ Inszenierung siedelt die Geschehnisse in einer Industriestadt in der russischen Einöde an, weitere Aktualisierungsbezüge bestehen in der Verwendung einiger projizierter Zitate der politischen Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa, die als Mitglied der Band Pussy Riot zur Haft im Straflager verurteilt wurde. Alles in allem eine sehr auf Realismus fokussierte Regiearbeit, die den öden Alltag in schmutzig-rauen Bildern (Video des peitschenden Regens, gekachelte Arbeiter- und Waschräume) sowie biederer Enge (Wohnzimmer) beschwört. Vieles funktioniert, manches weniger. Live-Kamera und im Vorwege ausgenommene Szenen, die auf einer die obere Hälfte des Bühnenbildes dominierenden Leinwand eingespielt werden, erweitern den begrenzten Raum der Drehbühnenkompartimente (Hochzeitsvorbereitungen) oder schaffen Momente beklemmender Subjektivität, etwa bei der Bestrafung Sergejs – inmitten der dicht gedrängten, johlenden Meute sehen und hören wir nur den Schäbigen mit einem Wasserschlauch auf ihn einschlagen, das Opfer bleibt außerhalb des Bildkaders, den Blicken verborgen.

Das erste Kräftemessen zwischen Sergej und Katerina verkommt dagegen zur harmlosen Rangelei, das geht eindeutig besser. Die Entsorgung von Boris Leiche in einer Mülltonne ist zwar für einen derben Scherz gut, lässt jedoch den eigentlichen Witz bei der Wiederentdeckung durch den Schäbigen verpuffen, der im abgeschlossenen Keller das Versteck für einen ganz besonders edlen Tropfen vermutet. Die wenigen inhaltlichen Eingriffe eröffnen mir nicht unbedingt einen fundamental neuen Zugang zum Werk, muss ja auch nicht. Die Rolle der Aksinja wurde zu einer Art Leidensgenossin, ja Seelenverwandten (man schließt Blutsschwesternschaft) Katerinas erweitert, die seherische Fähigkeiten zu besitzen scheint, wenn sie beispielsweise im Lager versucht, die Demütigung durch Sergej abzuwenden. Die Figur der Lagerinsassin Sonjetka wiederum ist schon von Anbeginn präsent. Ich weiß allerdings nicht, inwiefern es dem Ganzen hilft, sie bereits hier als Frau zu etablieren, die den Männern für Geld/Gefälligkeiten sexuell zu Diensten ist. Einmal Nutte, immer Nutte – oder was soll mir das sagen? So wirkt der aus existenzieller Not (Tod durch Erfrieren) abgeleitete Pakt mit Sergej im Lager plötzlich seltsam lapidar.

Manches hat sich mir auch einfach gar nicht erschlossen, warum zum Beispiel der Geist des Boris einen Eisblock (?) mit sich herumträgt und ihn an seinen Sohn weiterreicht oder warum dieser einen ganzen Altar für seinen verblichenen Vater installiert. Wofür steht das tanzende Kinderpaar – für das Verhältnis von Mann und Frau an sich? Unschuld? Ganz zum Schluß reißt Katerina ihre Rivalin nicht mit in den Tod – beide fassen sich an den Händen und springen gemeinsam. Ein letztes Plädoyer für die Solidarisierung der unterdrückten Frauenfiguren in diesem Stück?

Fazit: Auch wenn ich nicht mit allem mitgehe, eine zweifellos ausgeklügelte, ambitionierte Produktion, die das Werk nachhallen lässt.


Dmitri Schostakowitsch – Lady Macbeth von Mzensk
Musikalische Leitung – Yoel Gamzou
Regie – Armin Petras
Bühne – Susanne Schuboth
Kostüme – Karoline Bierner
Film – Rebecca Riedel
Chor – Alice Meregaglia
Licht – Norman Plathe-Narr
Dramaturgie – Isabelle Becker
Dramaturgische Beratung – Malte Ubenauf

Katerina Ismailowa – Nadine Lehner
Sergej – Chris Lysack
Boris Timofejewitsch Ismailow / Geist – Patrick Zielke
Sinowi Borissowitsch Ismailow / Lehrer – Alexey Sayapin
Aksinja – Hanna Plaß
Der Schäbige – Luis Olivares Sandoval
Sonjetka – Ulrike Mayer
Pope – Christoph Heinrich
Polizeichef – Loren Lang
Mühlenarbeiter / Polizist – Daniel Ratchev
Tanzende Kinder – Adelina Mazakow, Michael Nuss

Chor des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker

22. September 2017

International Mendelssohn Festival – Fine Arts Quartet. Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal.

19:30 Uhr, Reihe 9, Platz 12



Fritz Kreisler – Streichquartett a-Moll (Fine Arts Quartet)
Adolf Busch – Quintett für Saxophon und Streichquartett Es-Dur op. 34 (Fine Arts Quartet, Asya Fateyeva – Saxophon)

(Pause)

Joseph Haydn – Streichquartett D-Dur op. 64 Hoboken III:63 „Lerchenquartett“ (Fine Arts Quartet)
Alexander Glasunow – Streichquintett A-Dur op. 39 (Fine Arts Quartet, Niklas Schmidt – Violoncello)



Konzert war in Ordnung. Allerdings konnte ich mich mit der Intonation der Geiger, vor allem jener der 1. Violine, nicht uneingeschränkt anfreunden. Zudem hätte ich mir insgesamt einen etwas energischeren Zugang gewünscht, unabhängig vom jeweiligen Werk. Im Glasunow, teilweise auch schon beim Kreisler, war noch am ehesten zu spüren, dass die Sogwirkung, welche von einem solch kleinen Team ausgehen kann, wenn die Beteiligten eine symbiotische Einheit bilden, großen Orchestersteigerungen an Intensität in Nichts nachzustehen braucht. Über weite Strecken war mir das heute zu brav, zu domestiziert – den Herren täte eine Kollegin vom Schlage Kopatchinskaja gut.

Dennoch brachte der Abend neben der Bekanntmachung mit spannenden Werken durchaus intensive Momente. Das Bratschensolo von Herrn Hernandez zu Beginn des Glasunow-Quintetts zum Beispiel. So stelle ich mir einen berührenden Einstieg vor. Dieses Werk steht mir zudem musikalisch am nächsten, sicher auch aufgrund der unüberhörbaren Verwandtschaft zum „kammermusikalischen“ Wagner. Eine kleine, stichprobenartige Beschäftigung mit Glasunows Quartett/Quintett-Œuvre als Vorbereitung auf das Konzert ließ bereits vermuten, dass z.B. das Siegfried-Idyll durchaus Eindruck auf ihn gemacht zu haben scheint.

Während der Haydn erwartungsgemäß am wenigsten meine Begeisterung zu entfachen vermochte – jedoch weniger durch das Werk selbst, als die bereits monierte, altväterliche Präsentation – machte der Kreisler durchaus Lust auf mehr. Viele Kontraste und Verschrobenheiten haben mein Interesse geweckt. Das akustische Highlight des Abends ergab sich durch die Kombination des Saxophons mit dem Streicherklang im Busch-Quintett. Integriert und doch absolut transparent. Besonders erhellend dabei die „klassische“ Rolle dieses Instruments, dessen Behandlung durch Frau Fateyeva ganz fernab der gängigen Jazz- und Schnulzenpopklischees eher an eine Klarinette mit anderem Timbre erinnerte.

Einen unmittelbar direkten Draht entfaltet die Akustik des kleinen Saales übrigens bei Solostellen, die, unabhängig von der Lautstärke, in ungeahnter Präsenz das Ohr erreichen. In diesem Detail ist der Raum seinem großen Pendant nicht unähnlich, vorteilhaft hier und heute der Umstand, dass die Intimität der Veranstaltung den Elphi-Touristen-Anteil der Zuhörerschaft offenbar doch zu etwas mehr Contenance animierte. Gut, zwischen den Sätzen wird natürlich trotzdem munter applaudiert – wir üben noch.