29. Mai 2016

Werther – Daniel Mayr.
Theater Bremen.

18:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 5, Platz. 16


Werther von Massenet – so eine Goethe-Verkitschung tut man sich doch als kunstsinniger Bildungsbürgerprototyp mit Wagnerallüren nicht an! Oder doch? Aber hallo! Das Theater Bremen präsentiert sich nach dem für mich persönlich, aufgrund seiner durch die Regie vorgenommenen Auslegung, ambivalenten „Peter Grimes“ (Link) zurück auf dem Olymp dessen, was Musiktheater zu leisten imstande ist, wofür ich Oper liebe. Dieser Bremer Werther schafft die seltene Symbiose zwischen klanglicher Pracht und kammermusikalischer Intensität, szenischer Fokussierung und emotionaler Darbietung auf dem Siedepunkt.

Ganz nebenbei beweist diese Produktion, daß man in Bremen akustische Herausforderungen offenbar besser zu begegnen weiß, als andernorts. Nach dem anarchischen „Mahagonny“, das sich ohne Bestuhlung im Saal und im gesamten Theatergebäude ereignete (Link), findet das Geschehen hier im Wesentlichen auf einer kleinen, über dem Orchestergraben installierten Bühne statt, während die Bremer Philharmoniker aus dem Hintergrund des eigentlichen Bühnenraums erklingen. Daß solche Maßnahmen auch mal scheitern können, durfte ich vor einiger Zeit in Münster erdulden. Doch während dort Weills Mahagonny-Partitur durch den Eingriff regelrecht auseinanderfiel, hat man in Bremen seine akustischen Hausaufgaben gemacht. Im Gegenteil wird die räumliche Intimität des vorgelagerten Podests ganz in den Dienst eines transparenten Klangbildes gestellt, für das auch behutsam mit der Dynamik umgegangen wird, um den Sängern gerade in den zarten solistischen Momenten größtmöglichen Spielraum für den differenzierten Einsatz ihrer Stimmen zu ermöglichen.

Und was für Stimmen! Ich bin immer wieder begeistert, über welche Qualität das Bremer Ensemble auch in der Breite verfügt. Selbst die Hauptpartien werden mit hauseigenen Gewächsen besetzt, die mir schon aus anderen Produktionen in bester Erinnerung geblieben sind. Für die größte Überraschung sorgte dabei wohl Luis Olivares Sandoval in der Titelpartie, da ich ihn bislang nur in Nebenrollen erlebt hatte und mir dabei entgangen war, welch ausdrucksstarken, schmelzbeseelten Tenor das Theater Bremen in seinen Reihen weiß. Gerade die lyrischen Passagen gerieten dank seiner feinfühligen Nuancierung zu innigen Glanzlichtern des Abends, ohne daß es dem Sänger bei dem emotionalen Ausbrüchen an Strahlkraft gefehlt hätte. Hatte sich Nadine Lehner seinerzeit als Gouvernante in Brittens „The Turn of the Screw“ in mein Sängerdarsteller-Gedächtnis eingebrannt, ließ sie heute mit ihrer Charlotte eine weitere Ausnahmeleistung folgen, die sängerisch wie schauspielerisch die Grenzen leistbarer Bühnenintensität auslotete. Marysol Schalit ihrerseits besitzt ebenfalls jene seltene Gabe, neben ihrem zauberhaften Organ in gleichem Maße stets auf eine scheinbar selbstverständlich involvierende Bühnenpräsenz bauen zu können, die dem Zuschauer eine ganz natürliche Identifikation mit dem jeweils ausgefüllten Charakter ermöglicht. Peter Schöne mit kräftiger Bariton-Autorität komplettierte zusammen mit den kleineren Partien eine Besetzung ohne Schwachstelle.

Wobei, wie schon angedeutet, heute nicht allein vollendete Sangeskunst, sondern gleichberechtigt die darstellerische Qualität den Erfolg der Darbietung ausmachte. In einer Produktion, die weitgehend auf Requisiten, geschweige denn ein opulentes Bühnenbild verzichtete, in und hinter dem man sich als Darsteller „verstecken“ könnte, sind die Sänger hier mehr denn je auf die eigenen szenischen Fähigkeiten zurückgeworfen. Daß dies Konzept jedoch keine pseudo-konzertante Aufführung in Kostüm, sondern Theater-Erlebnis pur ergab, ist sowohl Verdienst einer lebendigen, authentischen Personenregie als auch eben jener großartigen Mitwirkenden. Körperlichkeit, Leidenschaft, Zerrissenheit, diese Inszenierung geht aufs Ganze. Der eigentliche Clou dabei ist, daß die inneren Emotionen der handelnden Personen offen zutage treten, wo sie im Libretto oft unter einem Panzer der Etikette verborgen bleiben. Albert mag gewählte Worte bemühen, das ändert jedoch nichts an der unverhohlenen Rivalität, mit der er Werther begegnet – Provokation bleibt eben Provokation. Warum diesen Konkurrenzkampf nicht also auch sichtbar machen, zumindest auf visueller Ebene mit offenen Karten spielen? Das Ergebnis ist von radikal erfrischender Wirkung.

Grandios, wenn beispielsweise Sophie gleichsam mit süßen Worten und umso handfesteren Schlägen das hübsch besungene Blumengebinde einsetzt, um die beiden Streithähne auseinander zu treiben. Man beachte dabei auch die Hiebhöhe – dieses unschuldige Ding weiß genau, was Sache ist. Wie entlarvend ist dieses Prinzip ebenfalls bei Albert, wenn er, sein Glück mit Charlotte besingend, jene wie eine Trophäe überaus grob an sich reißt. Oder nehmen wir die gefasste, fast schon nonnengleiche Charlotte selbst, geleitet von Pflichtbewußtsein und -Erfüllung: hier wird schon bei der ersten Begegnung mit Werther mehr als deutlich, welch Vulkan des Begehrens auch unter ihrer Oberfläche brodelt. Von nichts kommt schließlich nichts, so wird der finale Rettungsversuch an Werther – und ihrer Liebe – in seiner Bedingungslosigkeit plausibel. Wir haben es hier mit Menschen und ihren Sehnsüchten und Leidenschaften zu tun, nicht mit Abziehbildchen fürs Sturm und Drang-Sammelalbum. Letzte Kräfte werden mobilisiert, da ist es folgerichtig, die Sängerin der Charlotte vor dem Finale mit dem buchstäblichen Lauf zu Werther auch physisch einem Erschöpfungszustand auszusetzen, um eine besondere Intensität freizulegen. Meinen tiefen Respekt und Dankbarkeit an Frau Lehner und Herrn Olivares Sandoval für diese erschütternden Szenen des Abschieds. Oder doch der Erfüllung?

Unterstützt wird diese großartig lebendige Personenregie auch von den Kostümen — so schlicht oder funktional sie auf den ersten Blick anmuten mögen. Hier sind es die Details der verschiedenen Gebrauchs-Baumwoll-Variationen. Der lange Rock der verschlossenen Charlotte. Die neckischen Ärmel der lebenslustigen Schwester. Die ausgestopften breiten Schultern Alberts. Der rote Kapuzenpulli Werthers, der ihn, am Ende des ersten Aktes abgelegt als Ausdruck seiner Liebe, nun ganz in Schwarz gekleidet bereits als Todgeweihten ausweist – obwohl Werther noch auf der Bühne steht, nehmen ihn die übrigen nicht mehr wahr, die festliche Maskerade gerät als Ansammlung verschiedener Boten der Vergänglichkeit zur Groteske. Überhaupt das einfache Element der Kapuzen, die, einmal übergeworfen, emotionale Abschottung der Träger ebenso simpel wie deutlich kennzeichnen. Die Inszenierung ist überreich an diesen kleinen Details mit großer Wirkung. Wie sich Werther endgültig des Pullovers und seiner Schuhe entledigt, als symbolische Geste für die Vorbereitung des Suizid. Wie er da einfach am äußersten Rand der kleinen Bühne steht, in einen imaginären Abgrund blickend, läßt das Nichts zum Schlund in ihm werden.

Wir als Zuschauer nehmen an diesen intimen Momenten Teil, verdeutlicht durch die Erleuchtung des Saales und begleiten das Paar auf seinem letzten gemeinsamen Weg. Hier ist kein Platz für Voyeurismus, dem Mitgefühl allein gehören die letzten Minuten eines denkwürdigen Abends.


Jules Massenet – Werther
Musikalische Leitung – Daniel Mayr
Inszenierung – Felix Rothenhäusler
Bühne – Natascha von Steiger
Kostüme – Elke von Sivers
Licht – Frédéric Dautier
Dramaturgie – Sylvia Roth
Kinderchor – Alice Meregaglia

Werther – Luis Olivares Sandoval
Charlotte – Nadine Lehner
Albert – Peter Schöne
Sophie – Marysol Schalit
Bailli, Vater von Charlotte – Loren Lang
Freunde von Bailli:
Schmidt – Christian-Andreas Engelhardt
Johann – Johannes Scheffler

Kinderchor des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker