10. Februar 2013

Lohengrin – Donald Runnicles.
Deutsche Oper Berlin.

17:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 21



Lohengrin ist ein Arschloch. Zumindest, wenn man den Interpretationsansatz dieser Inszenierung an sich heranlässt. Mehr noch, die ganze Oper zeigt sich in solcher Lesart als menschenverachtende Vorlage zur Verherrlichung eines zweifelhaften Helden- und Führerkultes sowie des Krieges an sich, unter Aussparung der daraus resultierenden Leiden für Soldaten wie Zivilisten. Gleich das ausinszenierte Vorspiel fungiert hier als eine Art Requiem für die Gefallenen der letzten Jahrhunderte und anrührendes Klagelied ihrer Angehörigen. Um es vorweg zu nehmen: Die Regiearbeit ist schlüssig, man sollte sich aber bei einem Besuch im Klaren sein, daß die gelieferten Denkanstöße der ersehnten Dosis Wagnerrausch massiv im Wege stehen.

Dieser Lohengrin kommt nicht aus Glanz und Wonne, sondern direkt aus einem Propaganda-Seminar für angehende Volksverführer. Ein geflügelter Demagoge, der sein beeindruckendes Gefieder nur für den wirkungsvollen Auftritt umschnallt, um seine großen Gesten und Worte aufzuplustern. Sein überirdisches Erscheinen in gleißendem Gegenlicht verkommt so zum Überwältigungseffekt seiner Selbstinszenierung, der Schwan zum Emblem, dem es fortan zu folgen gilt.

Dabei wirkt Lohengrins Flügeltornister für den Zuschauer häufig mehr unfreiwillig komisch denn imponierend. Auch sonst wird alles getan, den hehren Helden mit rein menschlichem Angesicht zu zeigen. Kaum allein mit Elsa in ihrem Brautgemach, entledigt Lohengrin sich nicht nur seines Federwamses, sondern auch aller ritterlichen Zurückhaltung, um seiner Eroberung möglichst schnell an die Wäsche gehen zu können – der jedoch zu seinem Unmut erst einmal nach verbalem Austausch zumute ist.

Und auch die wirkungsvollste Rede an sein Volk entspringt nicht etwa der spontanen Inspiration, sondern sorgsam zurechtgelegten Stichwortkarten. Dieser Lohengrin scheint nichts dem Zufall zu überlassen. In der Gralserzählung schließlich macht er aus Untertanen Jünger des Propheten Lohengrin, bindet sie vollends an sich. Ein Manipulator, ein Machtpolitiker, der unmissverständlich klarmacht, daß es zu ihm keine Alternative gibt – Gottfried ist eine Leiche.

Wie bereits gesagt, man kann das so machen, Freude an der Musik, ein Eintauchen in die wagnerischen Wonnen, wird unter dieser Bürde zumindest für mich unmöglich. Und selbst wenn einmal nicht Reihen von Kriegsgräbern oder der Anblick der brabantischen Untoten auf das Gemüt drücken, gibt sich die Regie auch sonst viel Mühe, den musikalischen Genuß zu verhindern.

Beispielsweise in der Szene vor dem Münster im zweiten Akt. Die artifizielle Inszenierung des hier ebenfalls als bloße Inszenierung, eines Bühnenspiels auf der Bühne gemünzten Brautzuges zum Gotteshaus läßt ebenso wenig Festlichkeit, gar im Sinne einer feierlichen Ernsthaftigkeit aufkommen – da können Chor und Orchester schwellen und sich steigern wie sie wollen. Dabei geben die Beteiligten unter Runnicles alles, schon rein von der Dynamik her ist man auf Überwältigung eingestellt, inklusive Zusatzblech aus der Höhe.

Aber die Musik bleibt heute immer zweiter Sieger – Regie fürs Hirn, nicht fürs Herz. Noch einmal: Eine beeindruckende Arbeit. Was sich insbesondere auch in einer sehr detaillierten Personenführung, die minutiös auf das gerade Gesagte eingeht, oder auch im sehr stimmungsvollen Umgang mit dem Licht widerspiegelt.

Das Orchester der Deutschen Oper zeigt sich in bestechender Form, Runnicles entfacht die ganze Ausdrucksbandbreite von innig und butterweich bis an die dynamische Schmerzgrenze, dabei stets die dramatischen Bögen auskostend. Das Fernblech leistet sich einige Wackler, bekrönt aber dennoch beeindruckend die entsprechenden Momente. Der Chor ist zumeist sehr präsent und tritt dabei homogen in Erscheinung, wenn man auch hier und da nicht immer ganz zusammen findet.

Michael Weinius erfüllt leider nur bedingt meine Hörerwartung an einen Lohengrin. Zwar verfügt er über eine nicht uninteressante, weil schlanke und lyrische Stimme, der jedoch Schmelz und Strahlkraft abgehen. Dabei schafft er durchaus zarte Momente (auch unter Einsatz der Kopfstimme), in denen aber dennoch eine eher kühle Sachlichkeit überwiegt. Vielleicht ist dieser Stimmtypus im Spiegel der Inszenierung sogar besonders passend gewählt – mein Lohengrin ist es sicher nicht.

Für die gesanglichen und darstellerischen Höhepunkte sorgen stattdessen Manuela Uhl als Elsa und vor allem die Ortrud der unvergleichlichen Waltraud Meier. Während Uhl zwischen Entrückung und Hysterie changierend ihr dramatisches Potenzial am eindrucksvollsten anzubringen weiß, tritt Meier als Fleisch gewordene Rache auf, mal zartschmeichelnd süßestes Gift tröpfelnd, dann wieder die pure Raserei auskostend. Albert Dohmen gibt einen verläßlichen, jedoch ziemlich vernuschelten König, Gordon Hawkins als Friedrich singt zwar mit unüberhörbarem Akzent, dafür aber auch mit wohlklingendem Organ, das allenfalls in Extremsituationen noch etwas mehr Durchschlagskraft benötigt hätte. Der Heerrufer Bastiaan Everinks kann sich ebenfalls hören lassen.

Was bleibt von diesem Abend hängen? Respekt für eine Inszenierung, die nicht gefallen, sondern zum Nachdenken anregen will? Oder doch der Beigeschmack eines uneingelösten musikalischen Versprechens? Um bei der Regie zu verbleiben: Anknüpfungspunkte, einen säbelrasselnden Rattenfänger statt einer märchengleichen Retterfigur auf der Bühne zu präsentieren, mögen sich durch eine sehr selektive Sicht auf das Libretto, sicher mehr noch aus der Rezeptionsgeschichte des Werkes und der deutschen an sich ableiten lassen; daß Wagner mit dieser Erlösergestalt – nicht der ersten und nicht der letzten in seinem Werk – anderes im Sinn hatte, liegt auf der Hand und ist vielfach nachzulesen.

In dieser Produktion ist es am Ende Elsa, die als einzige die Volksverführung Lohengrins durchschaut, jedoch nicht gehört wird. Aus ihrem für sich ersehnten Retter erwächst das Unheil für alle. Eine zutiefst pessimistische Sicht, in der es keinen Raum für traumselige Utopien gibt. Vielleicht ist es meiner ausgeprägten Schwäche für Romantik oder meinem naiven Wesen geschuldet, daß ich trotz allen Übels in der Welt dennoch nicht anhaltend auf mein persönliches Quantum Glanz und Wonne verzichten möchte. Meine ganz private Gralssuche – Vorstellung für Vorstellung.


Richard Wagner – Lohengrin
Musikalische Leitung – Donald Runnicles
Inszenierung – Kasper Holten
Bühne, Kostüme – Steffen Aarfing
Licht – Jesper Kongshaug
Chöre – William Spaulding

Heinrich der Vogler – Albert Dohmen
Lohengrin – Michael Weinius
Elsa von Brabant – Manuela Uhl
Friedrich von Telramund – Gordon Hawkins
Ortrud – Waltraud Meier
Der Heerrufer des Königs – Bastiaan Everink
1. Brabantischer Edler – Paul Kaufmann
2. Brabantischer Edler – Alvaro Zambrano
3. Brabantischer Edler – Marco Mimica
4. Brabantischer Edler – Seth Carico

Chor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin

9. Februar 2013

Peter Grimes – Donald Runnicles.
Deutsche Oper Berlin.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 22



Habe mir gerade eine BBC Produktion der Oper aus dem Jahre 1969 angesehen, unter Brittens Dirigat, mit Peter Pears als Grimes. Was soll ich sagen. Auch wenn manches Detail der Ausstattung und der Personenführung vielleicht aus heutiger Sicht etwas hölzern anmuten mag, ist der Mitschnitt doch ein unsagbar anrührendes Dokument dafür, was sich in Ton und Wort an menschlichem Abgrund, aber auch tief empfundenem Mitgefühl ausdrücken läßt. Allzu Menschliches anklagend, gleichsam an die Menschlichkeit appellierend. Grimes Ende und der Schluß der Oper lassen mich jedesmal aufs Neue zerschmettert zurück. Am Ende einer Reihe irrlichternder Fetzen seines dem Wahn entgegen taumelnden Geistes, Splitter seiner Erinnerung, die Grimes auf der Flucht vor der Meute umtreiben, gehört sein letzter Gedanke wiederum Ellen, wenn auch die Zuversicht in ihm erloschen scheint:

What harbour shelters peace
Away from tidal waves
Away from storms!
What harbour can embrace
Terrors and tragedies?
Her breast is harbour too –
Where night is turned to day.

Es fehlen die Zeilen aus dem ersten Akt, als er voller Hoffnung sang:„With her there’ll be no quarrels, With her the mood will stay, A harbour evermore, Where night is turned to day.“

Vollends niederdrückend dann der Moment, in dem sich die einzigen Freunde von Grimes abwenden, Balstrode ihm kühl den Selbstmord als einzigen „Ausweg“ weist. Er hätte noch hinzufügen können, daß es so für alle das Beste sei. Für alle? Den Seelenfrieden der Gemeinde? Den ungestörten Fortgang des Alltags? Grimes scheitert an dem Versuch, ein Teil dieses bürgerlichen Alltags zu werden. Obwohl ihm Ellens Herz von Beginn an gehört, will er kein rein privates Glück, er will sichtbar über den Mob und sein Getratsche triumphieren, es vor den Augen der ihm verhaßten Gesellschaft zu etwas bringen – nach ihren Maßstäben, wohlgemerkt. Erst danach sieht er sich legitimiert, Ellen heiraten zu dürfen. Doch dazu wird es nicht kommen. Sein Eifer, seine Unbarmherzigkeit und seine inneren Dämonen bringen ihn zu Fall.

Warum diese lange Vorrede, wo ich doch über meinen Besuch der aktuellen Produktion an der Bismarckstraße berichten wollte? Nun ja, gerade jene Eindrücke dort haben in mir den Drang ausgelöst, mich auch über den Abend hinaus wieder mit dem Stoff zu beschäftigen, der seither in meinem Kopf herumgeistert. Wobei Peter Grimes zum ersten gehörte, das den Grundstein für meine bedingungslose Liebe für den Komponisten aus Lowestoft legte, um genau zu sein begann sie mit den Sea Interludes und der Passacaglia, die mir bis heute zum Teuersten gehören.

Die Inszenierung an der Deutschen Oper stellte den dritten Versuch dar, diese großartige Oper live auf der Bühne zu erleben. Versuch, weil die beiden ersten Begegnungen aus verschiedenen Gründen nicht unbedingt von Erfolg gekrönt waren. In Dresden ließ ich vor Jahren einmal eine unsägliche Inszenierung über mich ergehen, die „ungesehene“ Einfälle wie das Verschütten unzähliger Plastikwasserflaschen als Sturmmetapher und ähnliche Genialitäten bereithielt, welche den Gehalt des großen Werkes auf läppisches Musicalmaß stutzten. Bei der Produktion in Bielefeld vor etwa einem Jahr (Link) gab es zwar starke Momente der Regie, insgesamt aber musikalische Schonkost.

Nun also Berlin. Runnicles schlägt insbesondere im ersten Akt eine extrem laute Grunddynamik an, vor allem die Chöre sind zum Teil brutal. Hier und da mögen mit dieser Herangehensweise zwar Feinheiten untergehen, insgesamt betont der Zugang jedoch das schroffe, unberechenbare Moment des harten Küstenlebens – gerade auch im Angesicht des aufziehenden Sturmes – und bietet packende Steigerungen von elementarer Wucht. Man kann jedoch durchaus darüber streiten, ob Runnicles manchmal den Bogen etwas überspannt und seiner Überfalltaktik mit gezielt gesetzten Abstufungen etwas weniger „Hammer“, dafür etwas mehr „Sog“ hätte beibringen können. Das Orchester folgt all dem ohne Fehl und Tadel, auch das stark beanspruchte Blech zeigt sich gut aufgelegt.

Christopher Ventris gibt stimmlich wie szenisch einen intensiven Peter Grimes. Fraglos bleibt sein Vortrag für mich im Schatten der Leistung von Peter Pears – aber wessen Darbietung bliebe das nicht? Um ganz ehrlich zu sein, bin ich bezüglich der Tenorpartien bei Britten einfach befangen – gewissermaßen für das Liveerlebnis versaut durch die Einspielungen mit Pears und Britten selbst. Dabei läßt sich als Objektivum sicher festhalten, daß es generell kaum Tenöre gab und gibt, die an Pears’ geradezu hypnotischen Ausdruck in Passagen zerbrechlichster Lyrik heranreichen, sein wehmütiges Flehen, ein Vortrag äußerster Verletzlichkeit, gepaart mit etwas absolut Reinem, Unschuldigem, gleichsam Flüchtigem, stetig um Auslöschung Befürchtbarem.

Stark subjektiv geprägt ist auf der anderen Seite ohne Zweifel die Bewertung seiner Stimme an sich. Ich kann durchaus nachvollziehen, daß es Gesangsliebhaber gibt, die sich am mitunter etwas weinerlichen, „sauertöpfischen“ Charakter des Tenors stören und strahlend reine, heldischere Vertreter bevorzugen. Ich für meinen Teil konnte jedoch am eigenen Ohr feststellen, daß mir beispielsweise ein bloß schön und lyrisch gesungener Aschenbach rein gar nichts gibt. Am Ende geht es eben doch nicht ums Singen, wenn es ans Eingemachte geht. Ventris besitzt eine schöne, kräftige, strahlende, farbenreiche Stimme. Die neuralgischen Punkte der Partie, die mit größter Zartheit vorzutragenden Passagen, wie das „Now the Great Bear and Pleiades“ des ersten oder der bereits angesprochene letzte Monolog Grimes im dritten Akt, lassen ihn zweifellos an seine stimmlichen Grenzen stoßen. Dennoch „funktioniert“ seine Interpretation dieser sensiblen Seelenschau-Momente Grimes’ überraschend gut – auch weil er der Rolle durch seine Bühnenpräsenz Glaubhaftigkeit einzuflößen vermag.

Besonders gut gefallen hat mir Markus Brück als Balstrode. Der Mann hat wirklich eine tolle Entwicklung an diesem Haus genommen. Sein Bariton ist sowohl vom Volumen her, aber vor allem auch bezüglich des Wohlklangs, eine absolute Bank. Mit Michaela Kaune tue ich mich weiterhin schwer. Am Ausdruck liegt es wohl nicht, aber ich höre da immer wieder ein Timbre, das mir einfach nicht so zusagt. Trotzdem sind ihr Sensibilität und Präsenz nicht abzusprechen. Generell ist das Ensemble stark besetzt, Albert Pesendorfer als Hobson beispielsweise sorgt in dieser vergleichsweise kleinen Rolle für stimmlich wirklich beeindruckende Momente.

Die Produktion kommt bezüglich Bühnenbild und Ausstattung erst einmal in recht naturalistischem, dabei relativ reduziertem Gewand daher, dieser klassische Eindruck wird jedoch durch einen betont artifiziellen Gestenkatalog immer wieder aufgebrochen, der anfangs etwas befremdet. Vor allem Auntie und ihre Nichten sorgen in ihren Auftritten für bizarre Momente. Sind die beiden Nichten als unwirkliche, puppenhafte Zwillinge in Schuluniform angelegt, die seltsam mechanische, häufig repetitive Bewegungen ausführen, tritt Auntie als skurrile Drahtzieherin im Hosenanzug, geradezu dandyhaft mit Gehstock auf, die ihre Püppchen an unsichtbaren Fäden zu führen und auch sonst nicht ohne Einfluss auf das Wohl und Wehe der Gemeinschaft zu sein scheint.

Überhaupt ist die Charakterzeichnung der einzelnen Protagonisten durch Kostümierung und Habitus jeweils sehr scharf umrissen. Der Lebemann und Witwentröster Ned Keene mit keck in die Stirn gelegtem Hut, der paranoide Prediger Bowles in seinem versifften Mantel, der trotz eines fehlenden Armes enorme Würde ausstrahlende pensionierte Kapitän Balstrode – die Liste ließe sich Darsteller für Darsteller fortsetzen. Das schlichte Bühnenbild mit seinen wettergegerbten Wellblechelementen sorgt für maritimes Lokalkolorit und schafft damit gleichsam eine spröde Atmosphäre der menschlichen Härte und emotionalen Armut.

Nach dem die Fischerwelt exponierenden und inhaltlich wie choristisch sturmumtosten ersten Akt begegnen wir im zweiten dann vermehrt Passagen (scheinbarer) Ruhe. Ein mild-romantischer Wolkenprospekt als Ausblick verheißt Kontemplation und Sehnsucht gleichermaßen. Leider gerät das Vorspiel musikalisch befremdlich unrund – das die Kirchglocken andeutende Blech schwingt ganz und gar nicht mit den emsig zuströmenden Holzbläsern zusammen, hier wird eher zum Kirchgang gestolpert denn gehastet. Dennoch: Die Zeit vergeht in diesem Akt wie im Fluge.

Michaela Kaune sorgt hier in der Szene zwischen Ellen und dem Jungen für Momente großer Sensibilität, wenn aus ihren Befürchtungen langsam Gewißheit wird. Die Kontrastierung bzw. Kommentierung durch die Messgesänge aus dem Off ist ein weiteres Beispiel für die dramaturgische Meisterschaft Brittens – ebenso wie der immense Kontrast, der sich nach der Kulmination der aufgehetzten Meute zu dem Quartett der Frauen bietet. Diese Musik ist so zerbrechlich, so behutsam, scheu, wehmütig und dabei so unfassbar wunderschön – daß man über der Gewißheit, dieses kurze Schlaglicht der Güte und Wärme in diesem Ozean des Hasses und der Kälte nicht festhalten zu können, schier verzweifeln möchte.

Grimes Hütte, als aus den schrägen Tischen vorangegangener Szenen geformte Bühne, steht sinnbildlich für sein kommendes Scheitern. Die Passacaglia gestaltet das Orchester sehr eindringlich, ebenso intensiv gelingt der zuerst noch hoffnungsvolle, dann verdüsterte Monolog Grimes’ durch Ventris. Der Unfall ist zwingend inszeniert, indem Grimes das Sicherungsseil des Jungen in dem Augenblick losläßt, als der Mob an seine Tür klopft – das Ende des Taus verschwindet im Nichts. Als letztes Bild sehen wir Grimes mit dem blutüberströmten Jungen, seine schattenhafte Vision hat ihn eingeholt.

Der letzte Akt ist der intensivste des Abends. Hier zeigt sich Runnicles auch alles andere als ein Fortissimo-Fetischist und sein Orchester von seiner einfühlsamsten Seite. Die Inszenierung läßt das Nachtleben der Gemeinde als bizarr-traumhaftes Treiben einer bigotten Gesellschaft erscheinen, wo brave Bürger ihren Gelüsten nachgehen und alles nach der Pfeife von Auntie tanzt, die das Wappentier ihrer Wirtschaft wie eine Art Schamane auf dem Kopf trägt und nur über alles lachen kann. Die Nichten haben die Schul- gegen Militäruniformen getauscht, um die Männer zu becircen. Pantomimen, Tänze, lüsterne Spießer in Unterhosen – ein Spuk, der dem braven Alltag verborgen bleibt, denn der Eber wütet nachts.

Das Duett zwischen Ellen und Balstrode wird sehr zart umgesetzt. Es folgt der unzweifelhafte Höhepunkt des Werkes mit dem Schlußmonolog der Titelfigur. Christopher Ventris allein auf leerer Bühne, nur die Wolken im Hintergrund, verfolgt von den schaurig-fahlen „Grimes“ Rufen. Wie bereits angemerkt, erreicht der Sänger zwar keine jenseitige Lyrik wie Pears, liefert jedoch ein Beispiel an Intensität, wie man es selten auf der Bühne antrifft.

Her breast is harbour too –
Where night is turned to day.

Peter Grimes wird diesen Hafen nie erreichen. Was nach dem Erkalten einer Freundschaft und dem Scheitern einer Liebe bleibt, ist das Ende mit seinem gewaltigen Aufrauschen des Orchesters und des Chores, das den Bogen zurück zum Anfang schlägt. Das Leben geht weiter, der Alltag nimmt seinen Lauf wie die stetig strömenden Fluten unter den mächtigen Schlägen der Gezeiten – was kümmert da schon das leise Kräuseln einer einzigen kleinen Welle?


Benjamin Britten – Peter Grimes
Musikalische Leitung – Donald Runnicles
Inszenierung – David Alden
Bühne – Paul Steinberg
Kostüme – Brigitte Reiffenstuel
Licht – Adam Silverman
Chöre – William Spaulding
Choreographie – Maxine Braham
Dramaturgie – Angelika Maidowski

Peter Grimes – Christopher Ventris
Ellen Orford – Michaela Kaune
Balstrode – Markus Brück
Auntie – Rebecca de Pont Davies
Ihre Nichten – Hila Fahima, Kim-Lillian Strebel
Bob Boles – Thomas Blondelle
Swallow – Stephen Bronk
Pastor Horace Adams – Clemens Bieber
Mrs. Sedley – Dana Beth Miller
Ned Keene – Simon Pauly
Hobson – Albert Pesendorfer

Chor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin

DVD-Präsentation „Divine“ – Hamburger Symphoniker.
Astor Film Lounge Berlin.

11:30 Uhr



Heute hatte ich das Glück, der Vorab-Präsentation der neuen DVD „Divine“, ein Mitschnitt eines Konzertprogramms der Hamburger Symphoniker (Link), auf der Leinwand der Astor Film Lounge in Berlin beizuwohnen. Das Projekt war im letzten Jahr mittels Crowdfunding finanziell angeschoben worden, nun konnte man einen ersten Blick auf das Ergebnis werfen. Wobei man sich auf den Hauptteil des Konzertes, Auszüge aus Wagners Götterdämmerung, konzentrierte und den Strawinsky, den es als ersten Programmpunkt gegeben hatte, im Köcher ließ.

Mag zwar Deborah Voigts europäische Erstbrünnhilde auf den ersten Blick als das Hauptargument für die Produktion gelten, war es doch schon allein eine Wonne zu sehen und vor allem auch zu hören, wie die außergewöhnliche Arbeit des Jeffrey Tate, manifestiert in den wunderbaren Klängen der Hamburger Symphoniker, vom Live-Erlebnis in beeindruckend differenzierter Weise auf „Konserve“ zu bannen geglückt war. In Bezug auf die fast beispiellose Sensibilität und zwingende Gestaltung habe ich ja bereits nach dem Konzert das ein oder andere Wort getätigt, das Ereignis der Vorführung war die Lebendigkeit der Aufnahme, durch die jene Vorzüge den Weg heraus aus dem Gedächtnis wieder direkt ins Mark fanden.

Dazu in Einklang präsentiert sich die ästhetische Qualität der Bilder, die viel dazu beitragen, eine intensive Atmosphäre zu schaffen, unter anderem indem strukturgebende Schlaglichter auf die Orchestermusiker gesetzt werden. Ich freue mich sehr, daß diese Produktion realisiert wurde, die gleichzeitig Beispiel und Ausdruck der mit Recht großen Ambitionen der Verantwortlichen dieses herrlichen Klangkörpers ist. Man darf gespannt sein, welche Projekte die Zukunft bringen wird.