29. Mai 2016

Werther – Daniel Mayr.
Theater Bremen.

18:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 5, Platz. 16


Werther von Massenet – so eine Goethe-Verkitschung tut man sich doch als kunstsinniger Bildungsbürgerprototyp mit Wagnerallüren nicht an! Oder doch? Aber hallo! Das Theater Bremen präsentiert sich nach dem für mich persönlich, aufgrund seiner durch die Regie vorgenommenen Auslegung, ambivalenten „Peter Grimes“ (Link) zurück auf dem Olymp dessen, was Musiktheater zu leisten imstande ist, wofür ich Oper liebe. Dieser Bremer Werther schafft die seltene Symbiose zwischen klanglicher Pracht und kammermusikalischer Intensität, szenischer Fokussierung und emotionaler Darbietung auf dem Siedepunkt.

Ganz nebenbei beweist diese Produktion, daß man in Bremen akustische Herausforderungen offenbar besser zu begegnen weiß, als andernorts. Nach dem anarchischen „Mahagonny“, das sich ohne Bestuhlung im Saal und im gesamten Theatergebäude ereignete (Link), findet das Geschehen hier im Wesentlichen auf einer kleinen, über dem Orchestergraben installierten Bühne statt, während die Bremer Philharmoniker aus dem Hintergrund des eigentlichen Bühnenraums erklingen. Daß solche Maßnahmen auch mal scheitern können, durfte ich vor einiger Zeit in Münster erdulden. Doch während dort Weills Mahagonny-Partitur durch den Eingriff regelrecht auseinanderfiel, hat man in Bremen seine akustischen Hausaufgaben gemacht. Im Gegenteil wird die räumliche Intimität des vorgelagerten Podests ganz in den Dienst eines transparenten Klangbildes gestellt, für das auch behutsam mit der Dynamik umgegangen wird, um den Sängern gerade in den zarten solistischen Momenten größtmöglichen Spielraum für den differenzierten Einsatz ihrer Stimmen zu ermöglichen.

Und was für Stimmen! Ich bin immer wieder begeistert, über welche Qualität das Bremer Ensemble auch in der Breite verfügt. Selbst die Hauptpartien werden mit hauseigenen Gewächsen besetzt, die mir schon aus anderen Produktionen in bester Erinnerung geblieben sind. Für die größte Überraschung sorgte dabei wohl Luis Olivares Sandoval in der Titelpartie, da ich ihn bislang nur in Nebenrollen erlebt hatte und mir dabei entgangen war, welch ausdrucksstarken, schmelzbeseelten Tenor das Theater Bremen in seinen Reihen weiß. Gerade die lyrischen Passagen gerieten dank seiner feinfühligen Nuancierung zu innigen Glanzlichtern des Abends, ohne daß es dem Sänger bei dem emotionalen Ausbrüchen an Strahlkraft gefehlt hätte. Hatte sich Nadine Lehner seinerzeit als Gouvernante in Brittens „The Turn of the Screw“ in mein Sängerdarsteller-Gedächtnis eingebrannt, ließ sie heute mit ihrer Charlotte eine weitere Ausnahmeleistung folgen, die sängerisch wie schauspielerisch die Grenzen leistbarer Bühnenintensität auslotete. Marysol Schalit ihrerseits besitzt ebenfalls jene seltene Gabe, neben ihrem zauberhaften Organ in gleichem Maße stets auf eine scheinbar selbstverständlich involvierende Bühnenpräsenz bauen zu können, die dem Zuschauer eine ganz natürliche Identifikation mit dem jeweils ausgefüllten Charakter ermöglicht. Peter Schöne mit kräftiger Bariton-Autorität komplettierte zusammen mit den kleineren Partien eine Besetzung ohne Schwachstelle.

Wobei, wie schon angedeutet, heute nicht allein vollendete Sangeskunst, sondern gleichberechtigt die darstellerische Qualität den Erfolg der Darbietung ausmachte. In einer Produktion, die weitgehend auf Requisiten, geschweige denn ein opulentes Bühnenbild verzichtete, in und hinter dem man sich als Darsteller „verstecken“ könnte, sind die Sänger hier mehr denn je auf die eigenen szenischen Fähigkeiten zurückgeworfen. Daß dies Konzept jedoch keine pseudo-konzertante Aufführung in Kostüm, sondern Theater-Erlebnis pur ergab, ist sowohl Verdienst einer lebendigen, authentischen Personenregie als auch eben jener großartigen Mitwirkenden. Körperlichkeit, Leidenschaft, Zerrissenheit, diese Inszenierung geht aufs Ganze. Der eigentliche Clou dabei ist, daß die inneren Emotionen der handelnden Personen offen zutage treten, wo sie im Libretto oft unter einem Panzer der Etikette verborgen bleiben. Albert mag gewählte Worte bemühen, das ändert jedoch nichts an der unverhohlenen Rivalität, mit der er Werther begegnet – Provokation bleibt eben Provokation. Warum diesen Konkurrenzkampf nicht also auch sichtbar machen, zumindest auf visueller Ebene mit offenen Karten spielen? Das Ergebnis ist von radikal erfrischender Wirkung.

Grandios, wenn beispielsweise Sophie gleichsam mit süßen Worten und umso handfesteren Schlägen das hübsch besungene Blumengebinde einsetzt, um die beiden Streithähne auseinander zu treiben. Man beachte dabei auch die Hiebhöhe – dieses unschuldige Ding weiß genau, was Sache ist. Wie entlarvend ist dieses Prinzip ebenfalls bei Albert, wenn er, sein Glück mit Charlotte besingend, jene wie eine Trophäe überaus grob an sich reißt. Oder nehmen wir die gefasste, fast schon nonnengleiche Charlotte selbst, geleitet von Pflichtbewußtsein und -Erfüllung: hier wird schon bei der ersten Begegnung mit Werther mehr als deutlich, welch Vulkan des Begehrens auch unter ihrer Oberfläche brodelt. Von nichts kommt schließlich nichts, so wird der finale Rettungsversuch an Werther – und ihrer Liebe – in seiner Bedingungslosigkeit plausibel. Wir haben es hier mit Menschen und ihren Sehnsüchten und Leidenschaften zu tun, nicht mit Abziehbildchen fürs Sturm und Drang-Sammelalbum. Letzte Kräfte werden mobilisiert, da ist es folgerichtig, die Sängerin der Charlotte vor dem Finale mit dem buchstäblichen Lauf zu Werther auch physisch einem Erschöpfungszustand auszusetzen, um eine besondere Intensität freizulegen. Meinen tiefen Respekt und Dankbarkeit an Frau Lehner und Herrn Olivares Sandoval für diese erschütternden Szenen des Abschieds. Oder doch der Erfüllung?

Unterstützt wird diese großartig lebendige Personenregie auch von den Kostümen — so schlicht oder funktional sie auf den ersten Blick anmuten mögen. Hier sind es die Details der verschiedenen Gebrauchs-Baumwoll-Variationen. Der lange Rock der verschlossenen Charlotte. Die neckischen Ärmel der lebenslustigen Schwester. Die ausgestopften breiten Schultern Alberts. Der rote Kapuzenpulli Werthers, der ihn, am Ende des ersten Aktes abgelegt als Ausdruck seiner Liebe, nun ganz in Schwarz gekleidet bereits als Todgeweihten ausweist – obwohl Werther noch auf der Bühne steht, nehmen ihn die übrigen nicht mehr wahr, die festliche Maskerade gerät als Ansammlung verschiedener Boten der Vergänglichkeit zur Groteske. Überhaupt das einfache Element der Kapuzen, die, einmal übergeworfen, emotionale Abschottung der Träger ebenso simpel wie deutlich kennzeichnen. Die Inszenierung ist überreich an diesen kleinen Details mit großer Wirkung. Wie sich Werther endgültig des Pullovers und seiner Schuhe entledigt, als symbolische Geste für die Vorbereitung des Suizid. Wie er da einfach am äußersten Rand der kleinen Bühne steht, in einen imaginären Abgrund blickend, läßt das Nichts zum Schlund in ihm werden.

Wir als Zuschauer nehmen an diesen intimen Momenten Teil, verdeutlicht durch die Erleuchtung des Saales und begleiten das Paar auf seinem letzten gemeinsamen Weg. Hier ist kein Platz für Voyeurismus, dem Mitgefühl allein gehören die letzten Minuten eines denkwürdigen Abends.


Jules Massenet – Werther
Musikalische Leitung – Daniel Mayr
Inszenierung – Felix Rothenhäusler
Bühne – Natascha von Steiger
Kostüme – Elke von Sivers
Licht – Frédéric Dautier
Dramaturgie – Sylvia Roth
Kinderchor – Alice Meregaglia

Werther – Luis Olivares Sandoval
Charlotte – Nadine Lehner
Albert – Peter Schöne
Sophie – Marysol Schalit
Bailli, Vater von Charlotte – Loren Lang
Freunde von Bailli:
Schmidt – Christian-Andreas Engelhardt
Johann – Johannes Scheffler

Kinderchor des Theater Bremen
Bremer Philharmoniker

22. Mai 2016

Von Babelsberg nach Hollywood – Ana-Maria Dafova.
Theater Hagen.

15:00 Uhr, Rangloge links, Loge 4, Platz 1


Naked Gun Theme (Die nackte Kanone, USA 1988) – Ira Newborn
Sei hier Gast (Die Schöne und das Biest, USA 1991) – Alan Menken, Howard Ashman
Theme from Mission: Impossible (Mission; Impossible, USA, 1996) – Lalo Schifrin
Diamonds are a girl’s best friend (Blondinen bevorzugt, USA 1953) – Jule Styne, Leo Robin, Carol Channing
Return to sender (Girls! Girls! Girls!, USA 1962) – Winfield Scott, Otis Blackwell
Gonna fly now (Rocky, USA 1976) – Bill Conti
Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt / Ich bin die fesche Lola (Der Blaue Engel, D 1930) – Friedrich Holländer, Robert Liebmann
I wan’na be like you (Das Dschungelbuch, USA 1967) – Richard M. & Robert B. Sherman
Comptine d’un autre été (Die fabelhafte Welt der Amelie, F 2001) – Yann Tiersen
Who wants to live forever (Highlander – Es kann nur einen geben, USA 1986) – Brian May
La-Le-Lu / Wenn der Vater mit dem Sohne (Wenn der Vater mit dem Sohne, D 1955) – Heino Gaze
Miss Marple Theme (16 Uhr 50 ab Paddington, GB 1961) – Ron Goodwin
James Bond Theme (James Bond, GB 1962) – Monty Norman, John Barry
Goldfinger (James Bond: Goldfinger, GB 1964) – John Barry, Leslie Bricusse, Anthony Newley
Feather Theme (Forrest Gump, USA 1994) – Alan Silvestri
Chim-Chim-Cheree / Step in time (Mary Poppins, USA 1964) – Richard M. & Robert B. Sherman

(Pause)

20th Century Fox-Fanfare (USA 1933) – Alfred Newman
Star Wars – Main Title (Krieg der Sterne, USA 1977) – John Williams
Cheek to cheek (Ich tanze mich in dein Herz hinein, USA 1935) – Irving Berlin, Mark Sandrich
Ich brech die Herzen der stolzesten Frau’n (Fünf Millionen suchen einen Erben, D 1938) – Lothar Brühne, Bruno Balz
Das Boot (Das Boot, D 1981) – Klaus Doldinger
(Everything I do) I do it for you (Robin Hood – König der Diebe, USA 1991) – Bryan Adams, Robert John Lange, Michael Kamen
Men in tights (Robin Hood – Helden in Strumpfhosen, USA 1993) – Mel Brooks
The Good, the Bad and the Ugly (Zwei glorreiche Halunken, I 1966) – Ennio Morricone
Moonriver (Frühstück bei Tiffany, USA 1961) – Henry Mancini, John Mercer
Le Jazz hot (Victor/Victoria, USA 1982) – Henry Mancini, Leslie Bricusse
Pink Panther Theme (Der rosarote Panther, USA 1963) – Henry Mancini
Stayin’ Alive (Saturday Night Fever, USA 1977) – Barry, Robin & Maurice Gibb
Out here on my own (Fame, USA 1980) – Michael Gore, Leslie Gore
Live and let die (James Bond: Leben und sterben lassen, GB 1973) – Linda & Paul McCartney
Happy (Ich – einfach unverbesserlich 2, USA 2013) – Pharrell Williams
Zugabe: Always look on the Bright Side of Life (Das Leben des Brian, GB 1979) – Eric Idle



Mehr als 30 Programmpunkte in Hagen – neuer Rekord! Da sollte doch für jeden was dabei sein. Was sich vielleicht wie der süffisante Einstieg in eine naserümpfende U-Musik-Schelte ausnimmt, gerät im Gegenteil zur Wiederauffrischung des Faszinosums, was Filmmusik alles sein kann – und wen alles sie doch auf diesen verschiedenen Wegen anspricht. Dabei bildete jene bunte Revue wiederum nur einen kleinen Teil der Ausprägungen ab, welche in der Welt der Filmmusik anzutreffen sind, ging es doch heute in erster Linie um das Genre des Film-Songs oder eben Film-Schlagers – angereichert durch einige der beliebtesten Themen der Kinogeschichte. Ich persönlich hätte wohl lieber mehr vom instrumentalen Kaliber eines John Williams oder Ennio Morricone genossen, ja gern auch Werke von Max Steiner, Miklós Rózsa, Bernard Herrmann, Maurice Jarre, Jerry Goldsmith und wie sie alle heißen, aber das Konzept von Thilo Borowczak und Imme Winckelmann war ein anderes, nicht minder interessantes.

Lieder, Songs, Schlager – nicht allein für das Genre des Film-Musicals gab und gibt es Gesangsnummern, die, ob dramaturgisch in die Handlung eingebunden oder als Untermalung des Vor- oder Abspanns, zu beliebten Evergreens wurden, ja teilweise ein höchst vitales Eigenleben im kollektiven Gedächtnis führen. Aus diesen beliebten Nummern wiederum einen bunten Abend bzw. Nachmittag zu gestalten, wurde vom Theater Hagen mit sehr viel Aufwand, Energie und Liebe zum Detail realisiert. Dabei wurde jedes Stück mit einer eigenen Choreografie und/oder eigens gestalteten Videoclips bedacht. Zwischenzeitlich wähnte man sich im Musikteil vergangener großer Samstagabendshows, komplett mit Showtreppe, Ballett und flammenden Bühneneffekten. Meine Hochachtung, mit welcher Akribie und vor allem nicht ohne Humor die Ideen entwickelt wurden – gleich der Einstieg, der zu den Klängen der „Nackten Kanone“ analog zum Filmintro aus der vermeintlichen Dachperspektive eines Streifenwagens dessen „Fahrt“ durch Bühnentrakt und Foyers des Theaters Hagen präsentierte, machte deutlich, dass hier Filmenthusiasten am Werk waren.

Ob Rocky-Boxer-Pathos oder skurril-humoristisches Miss Marple-Ballett, ob affiger Dschungelbuchüberschwang oder innige Hepburn-Reminiszenz, Leises neben Lautem, Albernes neben Rührendem – die Zeit verflog angesichts eines abwechslungsreichen, kurzweiligen Bilderbogens, der in herzerfrischender Leichtigkeit beste Unterhaltung bot. Es war schon allein eine Freude, die „Ah“s und „Oh“s aus dem Publikums angesichts eines persönlichen Film-Favoriten zu erleben, hier wurde die Floskel „Für Jung und Alt“ spür- und sichtbar mit mehr als zwei Stunden Inhalt gefüllt. Ich habe zugegebenermaßen ein wenig gebraucht, um bei den Sängern gedanklich von Opernmodus auf, ich nenne es mal, Musicalzugang umzustellen, verstärkte Gesangsstimmen im Theater sind für mich doch etwas gewöhnungsbedürftig. Aber auch diese Hürde gab sich nach kurzer Zeit – Verve, Einfühlungsvermögen und Wandelbarkeit des Ensembles taten ihr Übriges. 

Musikalisch besonders interessant war der vielseitige Einsatz des Orchesters, welches vom Bigbandsound über Rockhymne bis hin zu „klassischer“ Sinfonik jeweils den ureigenen Charakter der Werke unter der umsichtigen Stabführung Frau Dafovas stilsicher traf. Das Theater Hagen zeigt mit dieser Produktion, dass es im Zusammenspiel all seiner Abteilungen, Chor und Ballett inbegriffen, Großes und Großartiges auf die Beine zu stellen vermag. Ich hoffe inständig, dass die Diskussion über Sparmaßnahmen, die ich am Rande mitbekommen habe, den hier empfundenen Elan nicht ausbremsen wird.


Idee und Konzept: Thilo Borowczak, Imme Winckelmann
Arrangements: Andres Reukauf sowie Thomas Guthoff, Julius Czwakiel, Rolf Discher

Musikalische Leitung – Ana-Maria Dafova
Inszenierung – Thilo Borowczak, Ricardo Fernando
Choreografie – Ricardo Fernando
Bühne – Jan Bammes
Kostüme – Christiane Luz
Video – Volker Köster
Licht – Martin Gehrke
Chor – Wolfgang Müller-Salow
Studienleitung – Steffen Müller-Gabriel
Musikalische Einstudierung – Ana-Maria Dafova, Andrey Doynikov, Silvia Vassallo Paleologo

Solisten:
Marilyn Bennett
Carina Sandhaus
Richard van Gemert
Kenneth Mattice
Tillmann Schnieders
Hannes Staffler

Philharmonisches Orchester Hagen
Chor des Theater Hagen
Ballett des Theater Hagen
Statisterie des Theater Hagen

21. Mai 2016

Die tote Stadt – Patrik Ringborg.
Staatstheater Kassel.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Orchestersessel rechts, Reihe 1, Platz 9



Selten erfüllte sich die abgegriffene Binsenweisheit, man möge ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen, eindrucksvoller, als heute im Staatstheater Kassel. Der Einband besteht in Kassel aus dem Zusammenspiel verschiedener Gebäudekompartimente, die in einer besonders traurigen Symbiose aus 5oer-Bahnhofsvorhallenoptik und drangehusteter Gewerkekaserne in abwaschbarer Nullästhetik an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist. Weder imposant noch elegant, weder triumphal noch radikal biedert es am Rande einer Sandeinöde in Documenta-Spuckweite vor sich hin, bekrönt von lustig bunten Lettern, die wie eine ironische Replik auf den staatstragenden Titel wirken. Und doch sollte sich just unter dem provinziellen Dach dieser Abtörner-Architektur Musiktheater auf höchstem Niveau ereignen.


Die Entscheidung der Regie, Marie durch eine Schauspielerin als stumme Rolle nahezu permanent am Geschehen teilhaben zu lassen, gibt diesem Phantom, oder vielleicht treffender der Projektionsfläche für Pauls Erinnerung und Hoffnung, selbstkasteiende Verklärung und ungebrochenes Verlangen, mehr als nur ein gerahmtes Gesicht. Eva Maria Sommersberg ist nicht allein auf Fotografien und bühnenfüllenden Videoinstallationen allgegenwärtig, sondern interagiert direkt und indirekt als geisterhafte Bewohnerin der Kirche des Gewesenen, die nur Paul tatsächlich wahrzunehmen vermag, mit den Sängerdarstellern. So flüstert sie Paul die zweite Strophe des traurigen Liedes ein, in welcher der Auferstehungsgedanke ausgesprochen wird oder lastet ganz konkret wie Füsslis Nachtmahr schwer auf Brust und Gewissen des Witwers und appelliert nicht minder verführerisch als ihre lebendige Konkurrentin an die gemeinsam gelebte Lust. Den Höhepunkt dieser Verkörperlichung der Zerrissenheit Pauls markiert die Erscheinung Mariens als blutbefleckte Gekreuzigte in seiner fieberhaften Prozessions-Vision. „Mysterium corporis“ raunt der Chor am Ende dieser Szene, die die Regie somit ganz wörtlich ebenso drastisch wie plastisch als Kulmination der Privatreligion Pauls umsetzt. Die Leistung Sommersbergs sowie ihr Stellenwert für diese Inszenierung kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Charisma, Hingabe, Verausgabung – ihre intensive Darstellung allein macht den Besuch zum Gewinn.

Und gewonnen wird hier in Kassel auf jeder weiteren Ebene. Die Sänger, allen voran Charles Workman in der Rolle des Paul, tragen ihren Teil zum Gelingen einer intensiven, körperlichen Personenregie bei, in der äußerst realistisch mit einander und sich selbst gerungen wird. Brigitta zwischen Treue und heimlicher Zuneigung, Frank zwischen Freundschaft und Verrat, Marietta zwischen Spiel und Ernst, Paul schließlich zwischen Wahn und Wirklichkeit – immer vor dem Hintergrund, daß wir hier wohl mehr die inneren Dämonen Pauls, als seine Mitmenschen erleben. Traum bleibt Traum, trotzdem auch eine spannende Ambivalenz, wenn beispielsweise der „Rivale“ Frank nach Ende der Illusion beim Abgehen Mariettas ganz real mit ihr flirtet. Die heilsame Wirkung des Traumes für Paul scheint mir in dieser Inszenierung weniger zweideutig angelegt, als ich es sonst oft erlebt habe, wenn der Versuch, die tote Stadt zu verlassen, als Suizid-Absicht angedeutet wird. Hier verabschiedet sich Paul mit einem Kuss von seiner Marie, erstickt die Erscheinung damit, befreit sich in einem schmerzhaften, gewaltsamen Akt von ihr und verlässt die Bühne durch mehrere leuchtende Rahmen. Melancholie bleibt, aber auch Hoffnung.

Stimmlich hat mir Herr Workman besonders gut gefallen. Sein Organ zeichnet sich nicht unbedingt durch Schmelz und heldisches Gepräge aus, vermittelt allerdings unglaublich viel Charakter. Mag es ihm bei manchem Spitzenton vielleicht an Strahlkraft mangeln, hält sein Vortrag doch genau jene Nuancen und Intensität bereit, die aus einer gesungenen Partie eine Persönlichkeit machen. Darüber hinaus ist Workmans Artikulation vorbildlich, die Textverständlichkeit zu hundert Prozent gegeben. Aus einem durchgehend starken Ensemble wußte sich Hansung Yoo mit seinem kurzen Auftritt als Fritz in Herz und Erinnerung zu verankern, indem er die Arie des Pierrots so voller Wohlklang und Sehnsucht darbot, wie ich sie zumindest live noch nicht erleben durfte. Das Staatsorchester Kassel unter der Leitung Patrik Ringborgs unterstrich eindrucksvoll die Qualität dieses Hauses und brachte die Partitur stellenweise regelrecht zum Glühen. So sehr ich über die äußere Erscheinung des Theaters gelästert haben mag, so nachhaltig hat mich doch seine umwerfende Akustik in seinen Bann gezogen. Einzig ein bestimmter, wiederholt verwendeter Klangeffekt – vielleicht das Harmonium oder eine (simulierte?) Orgel – wollte sich nicht so recht in den Gesamtklang integrieren, zumindest fiel mir dies von der ersten Reihe aus auf. Bei einer solch differenzierten, wuchtig-mitreißenden Leistung allerdings nur eine unbedeutende Randnotiz.

Fazit: Wer die tote Stadt liebt, kommt um Kassel nicht herum.


Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Patrik Ringborg
Inszenierung – Markus Dietz
Bühne – Mayke Hegger
Kostüme – Henrike Bromber
Dramaturgie – Jürgen Otten
Choreografische Mitarbeit – Lillian Stillwell
Video – Michael Lindner
Licht – Albert Geisel
Chor – Marco Zeiser Celesti
CANTAMUS-Chor – Maria Radzikhovsky

Paul – Charles Workman
Marietta, Tänzerin / Erscheinung Mariens – Celine Byrne
Marie, stumme Rolle – Eva Maria Sommersberg
Frank, Pauls Freund – Marian Pop
Brigitta, Haushälterin bei Paul – Marta Herman
Juliette, Tänzerin – Lin Lin Fan
Lucienne, Tänzerin – Maren Engelhardt
Victorin, Regisseur in Mariettas Truppe – Paulo Paolillo
Fritz, Pierrot – Hansung Yoo
Graf Albert – Johannes An

Staatsorchester Kassel
Opernchor und CANTAMUS-Chor des Staatstheaters Kassel

17. Mai 2016

Kopatchinskaja, Hinterhäuser,
Ensemble Gilles Binchois.
St. Katharinen Hamburg.

20:00 Uhr, Mittelschiff rechts, Reihe 10, Platz 2


Anonymus – Mundus vergens / Conductus quadruplum
Anonymus – Deus pacis / Conductus duplum
Anonymus – O Maria, mater pia / Motette triplum
Leoninus, Perotinus – Benedicamus domino / Organum duplum
Galina Ustwolskaja – Sonate für Violine und Klavier
Perotinus – Beata viscera / Conductus 
Anonymus – Ave maris stella / Conductus triplum

(Pause)

Perotinus – Sederunt principies / Organum quadruplum
Galina Ustwolskaja – Duett für Violine und Klavier

(Patricia Kopatchinskaja – Violine, Markus Hinterhäuser – Klavier, Ensemble Gilles Binchois)


Wer besucht ein solches Konzert? Neugierige? Mittelalterfreunde? Donaueschingen-Devotionalisten? Oder ist das Gros der Besucher – wie ich selbst – einfach dem Namen des charismatischen Wirbelwinds ins Gestühl St. Katharinens gefolgt? Wie dem auch sei, mit dem Dargebotenen hätte ich jedenfalls so nicht gerechnet. Gut, hätte ich halt den Fahrplan vorher konsultiert, soll ja helfen. Auf der anderen Seite werde ich in der Regel nicht müde, mangelnde Offenheit zum Gegenstand meiner mit Liebe gepflegten Kopfschütteleien zu kiesen. Also die Lauscher aufgestellt und Konzentration für ein besonderes Kontrastprogramm.

Spannen wir den Bogen von einer Zeit, als die Mehrstimmigkeit mit großen Schritten ihren Kinderschuhen in die weite Musikwelt entstieg, hin zum widerborstigen Privat-Kosmos der Galina Ustwolskaja. Beides läuft bei mir ein bisschen unter Telekolleg Musik ohne TV-Gerät, aber gegen Weiterbildung sollte man sich im Übrigen nicht sperren. Die Sänger des Ensemble Gilles Binchois überraschen den Bombast-gewohnten Konzertgänger mit maximal einer Vierzahl von Stimmen, die in einem Akt musikalischer Askese das enorme Kirchenschiff diskret aber mit erhabener Intensität beschallen. Diese Reduktion auf das Nötigste, man könnte auch sagen Wesentliche, lenkt den Fokus auf die Wechselwirkung der Stimmfächer und die Gestalt des unter diesen akustischen Gegebenheiten entstehenden Klanges. Keine Überwältigungsmusik, sondern ein stetiger Strom der Ausgewogenheit. Spannend: Selbst die einzelne Stimme klingt unter diesen Bedingungen nicht „allein“ – der gewaltige Nachhall lässt unmittelbar Entstehendes und parallel Vergehendes aufeinander wirken, der Solist folgt seinem eigenen Abbild in harmonischem Abstand. Ich kann nicht sagen, dass die Kompositionen selbst eine starke Anziehungskraft auf mich ausüben würden, dennoch geht eine gewisse abstrakte Faszination von ihnen aus. Spricht auch nichts dagegen, sich interessehalber mal einen Quastenflosser anzuschauen – nichts desto trotz muss man ihn ja nicht zwangsläufig in den persönlichen Speiseplan integrieren.

Ob es sich bei den Werken Galina Ustwolskajas um Kiemen- oder Lungenatmer handelt, kann ich nicht sagen, der vielleicht erste Eindruck anorganischer Materie hat allerdings nicht darüber hinwegtäuschen können, dass wir hier eine tief empfundene Musik erleben dürfen. Ins Herz schließen werde ich wohl auch diese Areale der musikalischen Landkarte nicht, aber ich bin doch froh, sie zumindest für die Dauer des Abends erkundet zu haben. Die Vehemenz, vielmehr Penetranz im Sinne einer stetig bohrenden, nicht nachlassenden Intensität, in welcher sich ein erschütternd-erschüttertes fragiles Etwas über unzählige Stufen hinweg dem Hörer einhämmert, bisweilen auch kaum wahrnehmbar einritzt, nötigt mir definitiv Respekt ab. Ich weiß nicht, ob der Begriff Bewunderung hier zulässig ist – unzweifelhaft allerdings bezogen auf den kompromisslosen Vortrag der beiden Solisten. Irisierende Klänge der Violine, kristallklares Flageolett, verlöschend, am anderen Ende der Ausdruckspalette spröde, trotzige Hiebe mit dem Bogen, Pendant zu den erbarmungslosen Schlägen des Klaviers, welches genauso unvermittelt verwunschenen Harfenklang annimmt. Strukturell und klanglich sind das ohne Zweifel zwingende, fesselnde Werke, stilistisch holt mich das Ganze weniger ab, bindet mich – zumindest nach dem ersten Hören – emotional kaum, ich bleibe an der äußerlichen Geste hängen und vermag nicht zum Kern vordringen. Oder anders ausgedrückt: Ustwolskaja beschäftigt, aber berührt mich nicht.

Fazit: Zwei Wegmarken der Musik, zweimal Staunen statt Schwelgen.