16. Juni 2018

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – Evan Christ.
Staatstheater Cottbus.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 6, Platz 16



Mahagonny ist ja mittlerweile so etwas wie meine Lieblingsoper zur Erprobung mir unbekannter Spielstätten geworden, hat sich mit den Jahren irgendwie ergeben. Ist halt ein tolles Stück, dessen Umsetzung gerade die Regieteams an kleineren Häusern erfahrungsgemäß zu besonders kreativen, radikalen oder zumindest interessanten Inszenierungen anzuregen scheint.

Auch die Produktion hier in Cottbus kann sich in der Beziehung sehen lassen. Nicht so anarchisch wie seinerzeit in Bremen (Link), aber doch um einiges phantasievoller als in Münster (Link), stimmte die Balance zwischen Anlehnung an das Libretto und eigenen Interpretationen. Das heruntergekommene, dann wieder in Stand gesetzte Jahrmarks-Fahrgeschäft als physische Manifestation der Netzestadt ist sehr gelungen – hereinspaziert, hereinspaziert. Die häufige Einbeziehung des Zuschauer- bzw. bühnenfremden Raums (An- und Abreise der Kunden; Mahagonny-Bewohner sitzen angelnd um den Orchestergraben und haben ihre Ruten in denselben ausgeworfen) unterstützt die Intention des Stückes, mit den Gewohnheiten des Publikums zu brechen, aktiviert die Aufmerksamkeit und unterminiert im Brechtschen Sinne die Bühnenillusion. Der Umbau der Szene wird demzufolge einfach bei heruntergelassenem eisernen Vorhang vollzogen. Für die „Ewige Kunst“-Parodie wird das Gebet einer Jungfrau auf einem herrlich verstimmten Klavier auf der Bühne intoniert – ebenso effektvoll wie inhaltlich passend.

Generell gibt es diverse Regieeinfälle, die mir gut gefallen haben. Die Zwischentitel bzw. Ansagen werden von Kindern übernommen. Die Darstellung der vier „Vergnügen“ – Fressen, Boxen, Liebesakt, Saufen – werden von einem großen „mehr!“ überragt und jedes für sich zwingend umgesetzt. So erliegt Jakob Schmidt, sich und andere ekstatisch beschmierend, in der Schokopuddingbadewanne seinen magenkapazitären Grenzen, die käufliche Liebe ist eine nicht enden wollende, dabei penibel überwachte Reihe Fließband-Blowjobs, bei der jeder Kunden artig vom Feuchttuch Gebrauch zu machen hat. Für die Boxszene musste man sich ensemblebedingt etwas einfallen lassen, um den turmhohen Darsteller des Alaskawolf-Joe plausibel gegen den deutlich schmächtigeren Dreieinigkeitsmoses verlieren lassen zu können: Letzter bringt hier, obwohl körperlich bereits geschlagen, seinen Bezwinger mit dem ihm zugesteckten Elektroschocker auf die Bretter – ein abgekartetes Spiel bleibt auch so ein abgekartetes Spiel, schön gelöst! Jim endet schließlich martialisch am Galgen, im letzten Bild gehen der Regie dann ein wenig die Bilder durch – Demonstranten, Redner an Pulten, berauschte Virtual-Reality-Jünger, durch die Szene laufende Jogger, seltsame Trenchcoat-Gestalten und und. Vielleicht ein bisschen viel, aber irgendwie auch passend zu Chaos und Auflösung des Finales. Von den Nummern fehlt der „Gott im Whiskey“, dafür ist der Benares-Song mit von der Partie.

Über das rein Musikalische möchte ich nicht viele Worte verlieren, das Ensemble müht sich nach Kräften, die Solisten der Hauptpartien stoßen jedoch teilweise an ihre Grenzen, gerade mitunter der arg strapazierte Tenor von Herrn Wilde. Carola Fischer gibt die Witwe Begbick nicht unbedingt mit gesanglichem Wohlklang, kompensiert das aber mit ihrer resoluten Art, Liudmila Lokaichuk gehört vor allem darstellerisch zu den Besten. Teilweise sind es eher die Nebenrollen, die für die Höhepunkte sorgen, wenn etwa Dirk Kleine mit nahezu kantatenhaft geführtem Tenor seine Fressorgie besingt, oder Jims Kollegen als lupenreines Terzett die Vorzüge Mahagonnys preisen. Der Chor in Cottbus ist für die Anforderungen des Stückes etwas zu schmal bemessen, ob Hurrikan-Szene oder Finale, das muss wuchtiger, apokalyptischer kommen.

Alles in allem ein lohnenswerter Besuch in Cottbus mit seinem wunderschönen Theater. Bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Querelen um den Generalmusikdirektor die Zukunft dieses Hauses nicht gefährden.


Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Oper in drei Akten
Musik: Kurt Weill
Text: Bertold Brecht

Musikalische Leitung – Evan Christ
Regie – Matthias Oldag
Ausstattung – Barbara Blaschke
Choreinstudierung – Christian Möbius
Choreografie – Dirk Neumann
Dramaturgie und Übertitel – Bernhard Lenort

Leokadja Begbick – Carola Fischer
Fatty – Hardy Brachmann
Dreieinigkeitsmoses – Ulrich Schneider
Jenny Hill – Liudmila Lokaichuk
Jim – Jens Klaus Wilde
Jakob Schmidt – Dirk Kleine
Sparbüchsenbill – Christian Henneberg
Alaskawolf-Joe – Ingo Witzke
Tobby Higgins – Thorsten Coers
Mädchen und Männer von Mahagonny – Damen und Herren des Opernchores
Girls and Boys – Damen und Herren des Balletts
Kinder – Jan Marius Hofmann, Fynn Namyslo, Hayden Pietralczyk, Eric Pöschel

Philharmonisches Orchester des Staatstheaters Cottbus

10. Juni 2018

Pelléas et Mélisande – Daniel Barenboim.
Staatsoper Berlin.

18:15 Uhr Einführung, 19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 17



Das erste Mal, als ich mit dieser Oper in Berührung kam, war eine Produktion der Hamburgischen Staatsoper vor etwa 10 Jahren. Ich weiß noch, dass ich ziemlich gebannt war. Vom Werk, der Musik, dem ganzen Abend. Hatte ich gehofft, diese erste Begeisterung mit dem heutigen Besuch der Lindenoper zu vertiefen, stellte sich eher das Gegenteil ein. Woran lag dies? An den Sängern wohl kaum. Rolando Villazon mag es vielleicht (mittlerweile?) bei manchem Spitzenton an Durchschlagskraft mangeln, überhaupt wirkt seine Höhe seltsam gehemmt und limitiert, aber die Stimme an sich hat sich ihr besonderes, feuriges Timbre bewahrt, das gerade in der hier gefühlt häufig genutzten Mittellage überzeugt, hinzu kommt die darstellerische Präsenz dieses ausgemachten Bühnenmenschen. Eine Eigenschaft, die ihn mit Herrn Volle verbindet, dessen Stimme allerdings über jeden Zweifel erhaben ist – welch klangliche Autorität und Intensität! Schließlich die Sängerin der Mélisande, Marianne Crebassa, welche das Hauptrollen-Dreigestirn mit zauberhaft fein-entrückter Sensibilität komplettiert.

Und dennoch – auch das übrige Ensemble und selbstredend die Staatskapelle unter Barenboims Leitung liefern keinen Grund zur Beanstandung – funktioniert der Abend für mich nicht, oder nur an ganz wenigen Stellen, wofür ich in erster Linie die Arbeit von Ruth Berghaus und ihrem Team verantwortlich mache. In Hamburg war es seinerzeit eine Inszenierung Willy Deckers, der sich zu einem meiner Lieblingsregisseure entwickeln sollte, welche das Unwirkliche, Somnambule des Werkes in berückender Schönheit und gleichzeitig fremder Faszination sich in meine Wahrnehmung senken ließ. Ich kann den Ansatz von Frau Berghaus durchaus nachvollziehen, das Artifizielle von Werk und Handlung unterstreichen oder überhöhen zu wollen – es klingt erst mal durchaus spannend, die Akteure in ungemütlichen, grotesken Kostümen mit teilweise überzeichneten oder puppenhaften Gesten, theatralischen Tanzbewegungen agieren zu lassen, um das unheimliche, unbehagliche Moment zu unterstreichen, das über allem und jedem zu schweben scheint.

Im Ergebnis haben Ausstattung, Personenführung und ebenso die Abstraktion bestimmter Orte, Sachverhalte und Situationen bis zur Unkenntlichkeit bei mir lediglich eine mangelnde Bindung zu Stoff und Geschehen zur Folge. Vieles wirkt albern, unfreiwillig komisch oder – viel schlimmer noch – ist mir in dieser Darreichungsform einfach Wurscht, geht mich nichts an und fasst mich nicht an. Expressives Arthaus-Puppentheater in einem nett illuminierten, angesichts seiner Einfachheit überraschend variablen Bühnenbild. Überhaupt wird es eigentlich nur dann spannend, wenn jenes inhaltlich motiviert interessant eingesetzt wird, etwa wenn Golaud den Knaben auf der knallgelben Treppe bei seinem eifersüchtigen (neidischen?) Drängen nach Spitzeltätigkeit Stufe um Stufe höher treibt.

Aber wo wir gerade bei Intensität sind – gerade der Mangel daran führte zu jener schmerzlichen Teilnahmslosigkeit. Ich werde nie vergessen, wie sich in Golaud – pikanterweise damals ebenfalls von Michael Volle dargestellt – in der Decker-Inszenierung die aufgestaute Aggression gegen Mélisande Bahn brach, dass es beinahe physische Schmerzen bereitete, ihm dabei zusehen zu müssen, wie er seiner Frau Gewalt antat. Bei Berghaus ist Mélisande zu dem Zeitpunkt schon mit einem stattlichen Babybauch ausgestattet, und trotzdem ließ mich das bisschen inszenierte Vergewaltigung in all seiner Plump- und Abgegriffenheit kalt. Zack, Beine breit – Jupp, kann man so machen.

Überhaupt oszilliert die Inszenierung zwischen einer Art Überreduktion einerseits, die vieles einfach bis an die Grenze der Unkenntlichkeit weginszeniert (stilisierter Nicht-Brunnen, Riesenball und Rampe, das alberne Stöckchen als „Waffe“, die Tatsache, dass es eigentlich Wumpe ist, ob wir uns gerade im Wald, im Gewölbe oder sonstwo befinden) und einer Art superplumpen Symbolismus-Ausinszenierung andererseits. Der Hirtendialog über den Weg der Schafe beispielsweise macht für sich ein starkes Bild der Vergänglichkeit auf, die hier gewählte Umsetzung, in welcher der Hirte als eine Art Totengräber die Leichen der drei Bettler auf seinen Bollerwagen bugsiert, scheint mir eher der Kategorie „Wink mit dem Zaunpfahl“ entsprungen. Und wie Golaud mit seinem Sattel die Bühne betritt, als bedürfe es dieses Requisits, um seinen „Reitunfall“ im Moment des Ringverlustes noch mal zu illustrieren, will so gar nicht zum restlichen Grad der Abstraktion passen.

Man könnte noch so vieles im Detail über diese Regiearbeit ansprechen und hinterfragen – die Perücke der Mélisande, ihr Drang, in den offenen Mänteln der Männer Zuflucht zu suchen, die Kinderpuppe am Ende, die Reaktion des Chores, bei all dem hat sich Frau Berghaus sicher eine Menge schlauer Gedanken gemacht – doch würde das im Nachhinein auch nicht den lauwarmen Eindruck und damit verbunden mein Herz für diese Produktion erwärmen.

Kommen wir stattdessen lieber zum Werk selbst und seinem Autor. Die Geschichten über die anfängliche Begeisterung Debussys für Wagner und seine spätere Ablehnung lassen mich immer wieder schmunzeln, angesichts einer Musik, die so vom Parsifal geprägt ist, aber auch vom Siegfried und vielen anderen Beispielen, in denen sich Wagner von seiner „impressionistischen“ Seite zeigt. Ich kann schon verstehen, dass man sich als „Nachfahre“ mit eigenen Ambitionen gern von seinen übergroßen Vorbildern abgrenzen möchte, aber es ist schon niedlich, wie durchschaubar diese Aussagen sind, die eher an Parteipolitik denn an das musikalische Gewissen appellieren.

Es ist ja gut und schön, dass das Wagnerorchester für Debussys Geschmack zu redselig ist, bzw. er der Sinfonik im Bühnenwerk misstrauisch gegenübersteht, andererseits entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn man sich nach seinen Worten vom Streben nach „Wahrhaftigkeit“ und „Lebensechtheit“ die große Liebesszene im vierten Akt vor Augen und Ohren führt – Opernkonvention par excellence, tiefstes 19. Jahrhundert, Lichtjahre von der psychologischen wie emotionalen Tiefe eines Tristan entfernt. Aber jeder macht halt wie er kann, und Debussy kann leider doch nicht so richtig, wie mich der Verdacht nach heute Abend beschleicht. Ohne den Zauber der Decker-Inszenierung erlebe ich ein langatmiges, vor sich hin plätscherndes Werk, dem Kontraste ebenso abgehen wie die Schaffung einer wie auch immer gearteten, zur Anteilnahme anregenden Atmosphäre. Wenn so Wirklichkeit auf der Bühne aussieht, bleibe ich gern weiterhin ein Anhänger des Überkommenen.


Pelléas et Mélisande
Drame Lyrique in fünf Akten und zwölf Bildern
Musik – Claude Debussy
Text – Maurice Maeterlinck

Musikalische Leitung – Daniel Barenboim
Inszenierung – Ruth Berghaus
Bühnenbild, Kostüme – Hartmut Meyer
Chor – Raymond Hughes

Arkel – Wolfgang Schöne
Geneviève – Anna Larsson
Pelléas – Rolando Villazón
Golaud – Michael Volle
Mélisande – Marianne Crebassa
Yniold – Solist des Tölzer Knabenchors
Arzt, Hirte – Dominic Barberi

Staatsoperchor, Staatskapelle Berlin

7. Juni 2018

NDR Elbphilharmonie Orchester – Jukka-Pekka Saraste.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 2, Platz 10



Carl Nielsen – Helios-Ouvertüre op. 17 
Dmitri Schostakowitsch – Konzert für Violine und Orchester
Nr. 1 a-Moll op. 77 

(Leonidas Kavakos)

(Pause)

Jean Sibelius – Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82



Der Bestplatztest für den NDR, noch dazu mit mit dem geliebten Sibelius – man durfte gespannt sein.

Nielsen: Das Orchester klingt gut ... aber sicher nicht überragend. Der feine, oft fast schon an eine perfekte Studiomischung erinnernde Klangeffekt will sich nicht recht einstellen. Etwas lärmig, hart im Tutti. Zudem treten die üblichen Leiden zutage: Ich mag die Hörner nicht, unabhängig davon, dass gleich der erste Einsatz in die Hose ging. Spröde. Angestrengt. Unrund. Streicher und Holzbläser allerdings prima, Blech insgesamt naja – alles beim Alten.

Kavakos: erst dachte ich: hoppla, seine Intonation hatte ich aber besser in Erinnerung – aber dann! Feine Stellen, die nicht feiner können, hoch und hauchzart. Fast schon jenseitige Expression in der Kadenz. Doch Kavakos begeistert nicht allein mit seidig Duftigem, gerade der Höllenritt im Finale gelingt unglaublich mitreißend. Lustig: in tiefer Lage gefallen mir die Hörner hier ganz gut, z.B. zu Beginn des 3. Satzes (Passacaglia) ... sonst immer noch nicht. Saraste mit gutem Tempo, aber Kavakos zieht eh alle mit – Bravo! Leider keine Zugabe.

Irgendwie mag ich die Sitzordnung des Orchesters nicht, die hinteren Reihen sind zur gewohnten Konstellation gespiegelt – Bässe links, Hörner rechts u.s.w.. Aber es ist wohl vielsagend, dass ich nach der Pause Zeit für solche Gedankenspiele habe – als Begleitorchester für den Spitzensolisten reichts, aber nicht, um Sibelius zu tragen. Das ist zu wenig Kammermusik, zu wenig Feinheiten, Klangfarben, Übergänge, Mischungen, Artikulation, Phrasierung – hatte ich schon Feinheiten gesagt? Die verschiedenen Ebenen, Aggregatszustände kommen nicht rüber, es klingt das Skelett der Sinfonie durch, aber keine Spur von dem faszinierenden Organismus, den Sibelius uns zur immerwährenden (Neu-)Entdeckung hinterlassen hat. Da ist keine Transparenz, sondern es riecht nach ganz viel schwerer Arbeit, man ist offenbar nicht damit vertraut, ein Finne am Pult scheint auch nicht als Inspirationsquelle zu genügen.

Und immer wieder diese unsäglichen Hörner: Die erhabene Hauptmelodie im Finale zumindest zu Beginn ein einziger eiernder Brei, die (eigentlich guten) Streicher nicht schneidend genug. Viel zu laut dann bei der sonst atemberaubenden Passage, in der sie die eingangs vorgestellten Figuren sehr leise forttragen, während immer wieder Fragmente des Hauptthemas aufblitzen, darüber hinaus herrscht hier viel zu wenig Spannung, die Artikulation ist zu lasch – das muss wie auf der Rasierklinge klingen, über ganz dünnes Eis eilend. Apropos, der zweite Satz wiederum zu eilig, ohne die majestätische Ruhe, die von ihm ausgehen sollte. Die so wichtigen, bekrönenden Trompeten im ersten Satz und Finale auch nicht durchgehend überzeugend, teilweise flattrig. Kurzum, es holpert und klappert und klingt vor allem absolut nicht nach Sibelius. Unabhängig von den ganzen klanglichen und technischen Missständen hat mich Sarastes Interpretation ebenfalls enttäuscht.

Wobei ich mit dieser Meinung wohl wieder mal allein auf weiter Flur war – Applaus, Begeisterung. Den fachkundigen Hamburgern kann man halt nichts vormachen. Wenn ein Finne etwas Finnisches mit unserem NDR dirigiert, muss es gepasst haben, man kennt schließlich seine Pappenheimer ... beim Verlassen des Saales aufgeschnappt: „wie hieß der noch?“ ... „Salonen ... Esa-Pekka Salonen“. Merke, wie in der Ausführung von Musik gilt ebenso hier: knapp vorbei ist auch daneben.

5. Juni 2018

La Damnation de Faust – Marc Soustrot.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Eine traumhafte konzertante Aufführung dieses herrlich heterogenen Opernmischwesens aus Berlioz’ Feder. Das Orchester bestens aufgelegt unter dem differenzierten Dirigat Soustrots, welches die Feinheiten ins beste Licht rückte, ohne an entsprechender Stelle mit Schmackes zu sparen – ideal für diese kontrastreiche Partitur. Die Sängerin der Marguerite offenbar eine Expertin für diese Rolle, sehr souverän, mir allerdings eine Spur zu herb. Der Tenor eigentlich mit schöner Stimme, angenehmer Mittellage aber leider mit keinerlei Höhe gesegnet, so wurde mancher Spitzenton mehr verzweifelt eng gepresst denn ausgekostet.

Auskosten ist wiederum das richtige Stichwort für Herrn Terfel, der von der ersten Sekunde seines Erscheinens auf der Bühne an dem Abend als Höllenfürst seinen Stempel aufdrückte. Terfel, der Teufel, möchte man witzeln, aber was dieser Mann an darstellerischer wie stimmlicher Präsenz und Spielfreude mitbringt, reicht für ein ganzes Ensemble. Es ist eine schiere Wonne, ihn dem ekelhaften Widerling mit solch beißender Ironie, dabei stets kontrollierter Berechnung Gestalt verleihen zu sehen und dabei gleichzeitig einer der schönsten und ausdrucksstärksten Bassbaritonstimmen zu lauschen. Die mitunter auch richtig fies klingen kann, dann wieder verführerisch beschwörend oder unmissverständlich gebieterisch – eben durch und durch wandelbar-wunderbar.

Was in gleichem Maße eben auch auf das Stück selbst zutrifft. Ich liebe diesen Zwitter aus Nummernoper und Oratorium mit seinen grellen Kontrasten und einem Reichtum an musikalischer Originalität, die mich heute wieder sprachlos zurückließ. Die Rattenfuge, der Höllenritt, klar, das sind Bomben voller Ironie, Galle und im Finale auch ganz viel Schwefel und Zunder, aber gerade auch in den intimen Passagen besitzt diese Musik soviel Subtiles, Feines, Zauberisches, stellt das ebenso seltene wie glückliche Zusammenspiel beseelter Inspiration und höchster Meisterschaft der Instrumentation dar. Die Ballade der Marguerite, wie sie vom Orchester vorbereitet, begleitet und aufgenommen wird, oder die verwunschene Irrlichtermusik, gleichsam bizarr und zart, Ohr und Gemüt hypnotisierend.

Fazit: wo Kostüm und Bühnenbild fehlen, übernimmt die Fantasie, und wenn sie so wahrhaft fantastisch wie heute befeuert wird, entsteht ein Musiktheatertriumph in uns.


Hector Berlioz – La damnation de Faust,
Dramatische Legende in vier Teilen op. 24

Marguerite – Sophie Koch
Faust – Paul Groves
Méphistophélès – Sir Bryn Terfel
Brander – Edwin Crossley-Mercer

Malmö Symfoniorkester
MDR Rundfunkchor Leipzig
Dirigent – Marc Soustrot