30. April 2012

Rienzi – Sebastian Lang-Lessing.
Deutsche Oper Berlin.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 7, Platz 22














Aus einer Vielzahl an Gründen hatte ich mich auf diesen Abend gefreut: Ein Wiederhören mit dem Werk, daß mich in der Bremer Aufführung so positiv überrascht hatte, eine Inszenierung, die den Pressefotos nach Spannendes (oder zumindest Spannungen) verhieß, dazu die bewunderte Manuela Uhl als Irene und mit Torsten Kerl die Schließung einer Sänger-Bildungslücke. Abgehärtet durch die kürzliche Berliner Absagenorgie traf mich die Nachricht seines heutigen Stummbleibens dann auch nur mit gedämpftem Enttäuschen. Andreas Schager, der stimmliche Ersatztribun, war mir, ebenso wie offenbar den meisten Foyerstirnrunzlern, kein Begriff – Ein Umstand, den der Sänger selbst in den folgenden Stunden aufs Eindrucksvollste korrigierte.

Ich habe selten erlebt, daß ein Sänger beim Schlußapplaus derart frenetisch bejubelt wurde, regelrecht in eine Wand übersteuernden Bravo-Gebells lief – ohne daß man dabei von einer übertriebenen Reaktion hätte sprechen können. Gleich mit Schagers erstem Auftritt wich die Ungewißheit der Erkenntnis, daß hier kein verschämter Ersatz, sondern ein stimmliches Schwergewicht gefunden war. Einfach kompromisslos den Abend durchgerockt, mit einer Stimme, die nicht allein dynamisch, sondern auch bezüglich Stimmcharakter, Ausdruck und Klangfarbe das Ideal eines Heldentenors bot. Und wer dem berühmten Gebet nach all den Stahl-Strapazen dann durchaus noch Momente lyrischer Phrasierung abzuringen gewillt und (zumindest unter Berücksichtigung des Vorangegangenen) im Stande ist, dem kann man nach dieser Leistung nur ehrlich dazu gratulieren, eine große Gelegenheit in perfekter Weise genutzt zu haben. Ich wäre mehr als verwundert, wenn dieser Auftritt für Herrn Schagers Werdegang folgenlos bliebe.

Das Gesamtpaket des Abends stand dann jedoch hinter meinen Erwartungen zurück, ohne daß ich es groß an Einzelheiten festmachen könnte. An Manuela Uhl als Irene hat es sicher nicht gelegen. Ihre Stimme und Erscheinung verzaubern mich jedesmal aufs Neue. Für meine Ohren nach wie vor die beste Kombination aus sinnlich-üppiger Dramatik und scheu-zarter Lyrik, gepaart mit nahezu hypnotischer Bühnenpräsenz. Leider kam es heute viel zu selten zu diesen Augenblicken, zu sehr ist die Inszenierung auf die One Man Show des Rienzi fixiert. Torsten Kerl hat sichtlich Spaß daran, das Diktator-Konzentrat zu mimen, ein Hans Dampf in allen Gassen, um den sich alles dreht – konzeptionell, visuell, dramaturgisch.

Das macht zum einen den großen Reiz dieser ästhetisch ultrakonsequenten Inszenierung aus, läßt jedoch – vor allem auch durch die Eindampfung auf etwa zweieinhalb Stunden – ein dramaturgisches Einbahnstraßengefühl aufkommen, daß die schubhaften Entwicklungen des Handlungsverlaufs irgendwie glattbügelt. Gewissermaßen ein Aufstieg und Fall auf der Überholspur, keine Kette aus Verschärfung und zwischenzeitlicher Mäßigung, die die finale Katastrophe (oder eben Befreiung) als letzte Welle eines sich stetigen Aufschaukelns zeigt. So wirkte das Werk an sich in der längeren, durch zwei Pausen getrennten Bremer Darbietung auf mich trotz dieses Mehr an Materials deutlich packender, involvierender – letztlich „kurzweiliger“ als hier in Berlin. Die Zeit verging damals im Fluge, hier ertappte ich mich seltsamerweise immer wieder bei dem Gedanken, ob das musikalisch (!) alles überhaupt seine Berechtigung habe. Verknappung ist in diesem Fall also nicht immer gleich Verdichtung, eine ausgewogene Struktur ist keine Frage von Ausdehnung.

Trotz allem macht es Spaß, Torsten Kerl bei seiner Mussolini-Hitler-Persiflage zu erleben – auch er findet sichtlich Gefallen am Knallchargentum, das den „Großen Diktator“ letztendlich nie ohne ironische Brechung agieren läßt. Die vielen „Propaganda-Videos“ zeigen dies am deutlichsten. Da wird heldisch geblickt, mal drohend mit den Augen geblitzt oder gütig umschmeichelt, da gibt es Banner und Standarten bis zum Abwinken, Wochenschau- und Riefenstahlreminiszenzen bis die Schwarte kracht. Es lebe das Zitat. Kommt in der ausinszenierten Obersalzberg meets Reichskanzlei-Ouvertüre Chaplin zu seinem Recht, wähnen wir uns gegen Ende bei Bruno Ganz im Bunker, der mit zitternder Hand auf dem Rücken über den Endsieg fabuliert. Und wenn der verzweifelt betende Rienzi mit seinen Germania/Roma-Modellen spielt, sie zu aberwitzigen Gebilden türmt und schließlich versonnen den Miniatur-Zeppelin durch die Luft führt, ist das eine mehr als würdige Entsprechung zum Globus-kosenden Chaplin.

An starken Bildern mangelt es dieser Inszenierung sicher nicht, trotzdem bleibt es unter dem Zitatpanzer recht frostig. Vielleicht sieht das Regieteam ja gerade darin seine Aufgabe – die hohle Geste auch in Wagners Musik bloßzustellen. Was ist das für eine Musik? Tumbe Musik? Naive Musik? Musik für die Massen? Musik für den Reichsparteitag? Ich bin mir sehr unsicher. Heute war da nicht viel, das mich für Wagner hätte in die Bresche springen lassen – aber in Bremen war der Eindruck ein gänzlich Anderer. Daß diese Inszenierung das Werk nimmt, und es inhaltlich umdeutet, steht außer Frage. Rienzi begnadigt seine Attentäter, weil er den Frieden um jeden Preis will – in der Dramaturgie dieses Abends ist seine Geste nur ein Propagandaschachzug, die Begnadigten werden abseits des Geschehens doch hingerichtet.

Der Rienzi dieser Inszenierung vollzieht keine wirkliche Entwicklung, er startet als Schläger und endet als Schlächter. Seine hoffnungsvollen, friedensstiftenden Worte sind von Anfang an nur Mittel zum Zweck. Wie sieht es mit dem Rienzi Wagners aus? Sicher, die schlimmsten Dinge wurden schon in bester Absicht begangen, aber wie steht es um die tatsächliche Motivation? Besteht hierin nicht gerade der Zündstoff des Werkes, daß jemand als Friedensstifter aus tiefstem Herzen beginnt und schließlich als Tyrann endet? Ich glaube, am Ende des Tages liegt darin doch mehr Potential, als Reihen blankgeputzter Schaftstiefel und putzige Hitler-Klone auf die Bühne zu bringen. Aber vielleicht überschätze ich auch einfach nur das Werk.


Richard Wagner – Rienzi, der letzte der Tribunen
Musikalische Leitung – Sebastian Lang-Lessing
Inszenierung – Philipp Stölzl
Co-Regie – Mara Kurotschka
Bühne – Ulrike Siegrist, Philipp Stölzl
Kostüme – Kathi Maurer, Ursula Kudrna
Video – Fettfilm (Momme Hinrichs und Torge Møller)
Chöre – William Spaulding

Rienzi – Andreas Schager (Gesang), Torsten Kerl (Szenische Darstellung)
Irene – Manuela Uhl
Steffano Colonna – Ante Jerkunica
Adriano – Daniela Sindram
Paolo Orsini – Krzysztof Szumanski
Kardinal Orvieto – Lenus Carlson
Baroncelli – Clemens Bieber
Cecco del Vecchio – Stephen Bronk

Chor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin

29. April 2012

Götz von Berlichingen – Naoshi Takahashi.
Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz.

19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 3, Platz 15


















Randnotiz 1: Die Reise hat sich gelohnt, weil ich nun weiß, warum es in Veröffentlichungen nur Bilder des Eduard-von-Winterstein-Theater-Eingangsportales, nicht aber des ganzen Eduard-von-Winterstein-Theaters gibt, nämlich weil das ganze Ed... – Sie wissen schon – ganz schön trostlos an seinem Hang kauert. Einige klassizistische Rudimente, die ein schnödes Geklotze umklammert. Hätte es nicht auch ein weniger lieblos verschaltes Operncafé sein können? Teilt außer mir niemand das Faible für formschöne Bühnentürme? Muß ja auch nicht.

Randnotiz 2: Die Homepage des Theaters wirbt mit dem Umstand, den Goldmarkschen Götz als weltweit einzige Bühne anzubieten. Nach dem heutigen Abend bin ich mir unsicher, ob man nicht doch häufiger auf das hören sollte, was NICHT in der Welt geschieht.

Randnotiz 3: Der Saal ist recht hübsch, außerdem sitzt man warm und im Trockenen.

Randnotiz 4: Die Wahrscheinlichkeit, an einem sehr kleinen Haus enttäuscht zu werden, ist nicht unbedingt höher, aber man fällt wahrscheinlich tiefer.

Randnotiz 5: Beim Schlußapplaus war richtig Leben in der Bude, den Leuten hat es offenbar sehr gefallen.

Im Ernst: die Mitwirkenden verdienen für ihren Einsatz Respekt, aber das Ergebnis kann ich mir nicht schönreden. Eine kleine Einschränkung: die Sängerin der Adelheid war die einzige, die in ihrem Singen etwas von dem transportierte, was den Charakter ihrer Rolle ausmacht, in diesem Falle: Sinnlichkeit und Lust. Man mag mich für einen Schwätzer halten, aber allein diese paar Momente waren es wert.

Besonderheit: Durch die Verwendung einer Mini-Drehbühne, auf der ein trichterförmiger Bau mit bemalten Wänden zum Einsatz kam, wurde das Bühnenbild für den stetigen Szenenwechsel variabel gestaltet, wobei sich dieser Effekt mit der Zeit allerdings ein wenig abnutzte.

Nachtrag: Irgendwie hat mich dieser Besuch nachdenklich gestimmt. Nachdenken über Anspruchshaltungen. Über Engagement auf (scheinbar) verlorenem Posten. Über den Antrieb, etwas auf die Beine zu stellen. Kunst sucht sich wahrscheinlich immer ihren Weg. Das ist – ganz ohne Häme – etwas Tröstliches.


Carl Goldmark – Götz von Berlichingen
Musikalische Leitung – GMD Naoshi Takahashi
Inszenierung – Ingulf Huhn
Ausstattung – Annabel von Berlichingen
Chöre – Uwe Hanke

Götz von Berlichingen – Jason-Nandor Tomory
Elisabeth, seine Gemahlin – Tatjana Conrad
Maria, seine Schwester – Juliane Roscher-Zücker
Georg, in seinen Diensten – Madelaine Vogt
Bischof von Bamberg – László Varga
Adalbert von Weislingen – Michael Junge
Franz, in dessen Diensten – Frank Unger
Adelheid von Walldorf – Bettina Grothkopf
Irmgard, deren Zofe – Bettina Corthy-Hildebrandt
Ritter Selbitz – Leander de Marel
Lerse, in Dienten des Götz – Marcus Sandmann
Metzler, Bauernführer – László Varga
Sievers, Bauernführer – Leander de Marel
Erster Ratsherr – László Varga
Zweiter Ratsherr – Marcus Sandmann
Erster Vehmrichter – László Varga
Zweiter Vehmrichter – Marcus Sandmann
Dritter Vehmrichter – Leander de Marel
Vierter Vehmrichter – Jens Langhans

Erzgebirgisches Sinfonieorchester Aue


28. April 2012

Die schweigsame Frau – Frank Beermann.
Opernhaus Chemnitz.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 4, Platz 91


















Die schweigsame Frau zählt auf den Spielplänen ja eher zu den Randerscheinungen, spätestens nach diesem Abend fragt man sich verdutzt, was ein Publikum daran abschrecken sollte. Eine eher platte Geschichte? Ein allzu schlichter Humor? Eine naive Figurenzeichnung? Oder doch einfach nur ein Mangel an musikalischem Gehalt? Ich persönlich kann all diesen geläufigen Anklagepunkten kaum bis keine Haltbarkeit bescheinigen, zumindest, bzw. vor allem verglichen mit anderen Werken Strauss’, in denen die Komik ihren Platz gefunden hat. Wie hieß es in der Einführung – „die einzige abendfüllende Komödie von Strauss“. Aha. Und Arabella und der Rosenkavalier sind demnach Trauerspiele? Nein, nein, es gehe um die Art des Humors, lasse ich mich belehren, oder: „so etwas Derbes hätte Hofmannsthal nie geschrieben“. Nun kommen wir der Sache näher. Klar, ein feineres humoristisches Florett, als es beispielsweise in Lerchenaus Subtilitäten oder der feingeistigen „Papa! Papa!“-Episode geschwungen wird, ist natürlich schwer zu schmieden. Schon klar.

Vielleicht habe ich ja ein gestörtes Verhältnis zum Komödiantischen, aber ich kann leider keinen qualitativen Unterschied zwischen diesen zugegebenermaßen verschiedenen Ausprägungen ausmachen. Sehr wohl kann ich jedoch unterscheiden zwischen dem, was mich kalt- oder Augen rollen läßt und jenem, das mir bei Opernbesuchen Vergnügen bereitet. In dieser Einteilung nimmt die schweigsame Frau einen Platz als äußerst bühnenwirksames, herzliches, naiv-heiteres bis tief-nachdenkliches Stück ein – für mich eine phantastische Neuentdeckung. Keine Ahnung, inwiefern das Werk durch Striche gestrafft wurde, zumindest in dieser Präsentation ist mir keine der angeblichen Längen untergekommen – im Gegenteil, der Abend verging wie im Flug, bzw. wie auf einer Fregatte unter vollen Segeln, um im Bild zu bleiben.

Der Charakter des Morosus hat es mir besonders angetan. Neben seinen erwartbaren Griesgrämereien und Wutanfällen sind es gerade die sinnierenden, wehmütigen Momente, die fernab aller Derb- und Plattheiten ein anrührendes Bild des zweifelnden, zwischen Sehnsucht des Einsamen und Resignation des Alters changierenden Seebären zeichnen. Die Parallele zu Hans Sachs ist allzu offensichtlich. Überhaupt sehe ich in dieser Oper viel eher die Nachfolge der Meistersinger, genauer ihrer tiefen Menschlichkeit und Güte, verwirklicht, als im von Strauss selbst dazu proklamierten Rosenkavalier. Nun ja, wahrscheinlich stand für ihn da auch mehr der Aspekt „Festoper“ im Vordergrund.

Zum visuellen und musikalischen Festschmaus geriet in jedem Fall die Premiere in Chemnitz. Das liebevoll gestaltete Bühnenbild – Sir Morosus’ imposantes Anwesen in vielen Details mit Leben und Geschichte füllend, die prachtvollen Kostüme, dazu eine subtile Lichtregie, bereiteten dem Auge das London des 18. Jahrhunderts, das Ohr konnte auf die außergewöhnlich homogene Trias aus Dirigat, Ensemble und Orchester bauen. Hätte man sich denken können, schließlich sind die Leute von cpo ja nicht auf den Kopf gefallen, die glücklicherweise auch diese Produktion auf CD herausbringen werden. Warum eigentlich nicht gleich als DVD-Mitschnitt? Oder ist das in Planung? So oder so wird das Ergebnis den Katalog bereichern.

Frank Beermann und die Robert-Schumann-Philharmonie wissen, wie man aus dem wuselnden Geflecht der Straussschen Musiksprache einen lebendigen Organismus entstehen läßt, mal virtuos, mal kraftstrotzend, mal feinst gesponnen. Lediglich das Blech hat sich heute teilweise unter Wert verkauft, der positive Gesamteindruck wird dadurch aber kaum angekratzt. Die Akustik des Hauses hat mir übrigens gut gefallen, ordentlich Schmackes, prägnantes Schlagwerk.

Zu den Sängern: sicher war Franz Hawlata der unbestrittene „Anker“ der Aufführung, doch mußte er keineswegs allein für den unstrittigen Erfolg einstehen, alle Sängerkollegen bis zur kleinsten Nebenrolle hatten heute daran ihren Anteil. Besonderes Lob verdient vor allem auch die ungemein typgerechte Besetzung aller Rollen. Natürlich hilft es schon mal, wenn man einen Morosus im Arsenal weiß, der stimmlich wie darstellerisch den Laden im Griff hat. Ein Donnerwetter hier, ein versonnener Karpfenblick dort – Hawlata ist einfach ein gewinnender Komödiant, ein Ankommer, dessen Spiel vor purer Herzlichkeit und diebischer Freude nur so platzt. Aber, um die Zweigesichtigkeit des Werkes noch einmal aufzunehmen, er ist eben auch jemand, der im richtigen Moment von Rampensau auf Kontemplation umschalten kann, ohne den Hauch des Peinlichen oder bemüht Altklugen aufkommen zu lassen.

Neben Morosus ist vor allem das junge Paar ein besonderer Glücksgriff. Julia Bauer und Bernhard Berchtold folgen dabei einfach dem Weg, den Hawlata ihnen vorausgegangen ist – als Sympathieträger. Erfrischende Darsteller mit wunderbaren Stimmen. Sympathie ist generell vielleicht das Schlagwort des Abends. Der Sänger des Barbiers, offenbar ein lokaler Liebling, stand gewissermaßen der Riege an Ensemblemitgliedern vor, die allesamt durch ihr Engagement zu überzeugen wußten. Ein weiterer Pluspunkt: Die enorme Textverständlichkeit, die sich durch die ganze Aufführung sowie die meisten Stimmen zog und die Aufnahme ungemein erleichterte.

Fazit: ein unterschätztes Werk wurde durch vorbildhafte Arbeit zum Leuchten gebracht.


Richard Strauss – Die schweigsame Frau
Musikalische Leitung – Frank Beermann
Inszenierung – Gerd Heinz
Bühne – Rudolf Rischer
Kostüme – Kersten Paulsen

Sir Morosus – Franz Hawlata
Seine Haushälterin – Monika Straube
Der Barbier – Andreas Kindschuh
Henry Morosus – Bernhard Berchtold
Aminta – Julia Bauer
Isotta – Guibee Yang
Carlotta – Tiina Penttinen
Morbio – Matthias Winter
Vanuzzi – Kouta Räsänen
Farfallo – Martin Gäbler

Robert-Schumann-Philharmonie

27. April 2012

Endstation Sehnsucht.
Staatsoper Hamburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 12, Platz 4 bzw. 6



Zur Abwechslung mal Ballett. Das ein oder andere Neumeier-Stück hatte ich in Hamburg bereits besucht, neu für mich war diesmal, auf ein Orchester verzichten zu müssen und den Graben als erweiterte Tanzfläche abgedeckt zu sehen. Also Musik vom Band, im ersten Teil ergänzt durch einen vorzüglichen Pianisten.

Meine erste Begegnung mit dem berühmten Werk Tennessee Williams’. Den Film mit Marlon Brando habe ich nie gesehen, geschweige denn das Buch gelesen. Meine alte Krankheit – die Klassiker der Literaturgeschichte sind mir zumeist nur anhand ihres Auftretens in der Musikgeschichte bekannt. Shakespeare, Goethe, Puschkin, Mann und ihre Kollegen habe ich häufig erst durch Verdi, Berlioz, Tschaikowsky, Britten & Co. näher kennengelernt. Ein klarer Fall von Fachidiotismus.

Die Vermittlung einer Handlung durch die Form der Oper, verglichen mit dem gleichen Ansinnen in der Welt des Balletts – darüber mußte ich heute wiederholt nachdenken. Vergleiche ich Neumeiers Arbeit mit den bekannten Opernschemata, so erkenne ich darin ein sehr klassisches, operngemäßes Konzept. Wenn ich es auf den Punkt bringen müßte, würde ich es mit einer durchkomponierten Struktur vergleichen, in der Rezitativ und Arie jedoch deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Da sind zum einen Passagen getanzter Handlungsentwicklung, für meine Begriffe stark dem Schauspiel zuzurechnen, darüber hinaus gibt es immer wieder Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheint und der Emotion in Form von arioser, tänzerischer Virtuosität Raum gegeben wird.

Für den geneigten Ballettfreund liegt die Parallele sicher auf der Hand, mir ist sie bislang nie bewußt geworden. Stellt sich mir die Frage, ob es möglich und üblich ist – analog der verschiedenen Operntypen – auch Ballette in verschiedene Kategorien bzw. gar entwicklungsgeschichtliche Vertreter einzuteilen. Nummernballett? Ballettdrama? Ballettweihfestspiel? Nur so ein Gedanke.

Der Abend hat mir gut gefallen, vor allem der Einsatz der Musik. Im ersten Teil Prokofjews „Visions fugitives“ als Trauergesang für den Fall des Hauses duBois, im zweiten Zimmermanns Collage-Sinfonie als Ausdruck einer neuen, lärmend-triebregierten Welt. Blanche hingegen lebt in einem Kokon der Erinnerungen. Der tödliche Schuß verhallt wieder und wieder, ihre Dämonen lassen sie auch in der Folge nicht los. Szenisch sehr eindrucksvoll, dabei mit einfachsten Mitteln, wird der Verfall von Familie und Anwesen visualisiert. Der sinkende Fassaden-Vorhang, der Kronleuchter, die fallenden Stühle mit den hilflos-puppenhaften Dahinsiechenden.

Im zweiten Teil dann prallen die Kulturen unvermittelt aufeinander. New Orleans feiert das Neue, verschlingt das Alte – und mit ihm Blanche. Die Musik Schnittkes vermittelt ideal die Melange der Kontraste: Jazz, Marsch, Trauermusik, Spätromantik, Barock, eindeutige Zitate (z.B. Beethoven), ein stetiges Neben- und Gegeneinander. Zu einer Musik der Kontraste kommt ein Tanzen der Kontraste. Besonders deutlich wird dies an den gegensätzlichen (Tanz-)Entwürfen der beiden weiblichen Hauptpartien Blanche und Stella. Da geht es auch um eine gänzlich verschiedene Form von Körperlichkeit. Blanche ist nicht für diesen kraftvollen, ja brutalen Entwurf gemacht, es bleibt ihr schließlich nur die Flucht in die alte – ihre innere Welt.


John Neumeier – Endstation Sehnsucht
Musik: Sergej Prokofjew – Visions fugitives, op. 22; Alfred Schnittke – Erste Sinfonie (Musik vom Tonträger; Richard Hoynes – Klavier)
Choreografie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept – John Neumeier

Blanche duBois – Silvia Azzoni
Shaw – Konstantin Tselikov
Ein Soldat – Kiran West
Kiefaber – Thomas Stuhrmann
Stella – Leslie Heylmann
Allan Gray / Zeitungsjunge / Arzt – Alexandr Trusch
Allans Freund – Edvin Revazov
Hochzeitsgäste – Kristína Borbélyová, Zachary Clark, Xue Lin, Dao Yuan Chen, Yun-Su Park, Florian Pohl, Zhaoqian Peng, Braulio Álvarez, Miljana Vračarić, Lennart Radtke, Sofia Schabus
Brautjungfern mit ihren Begleitern – Lucia Solari, Orkan Dann, Mariana Zanotto, Silvano Ballone
Mutter / Pflegerin – Laura Cazzaniga
Vater – Vladimir Kocić
Tante Jessie – Maude Andrey
Margarete – Patricia Tichy
Der General – Eduardo Bertini
Stanley Kowalski – Carsten Jung
Harold Mitchell – Lloyd Riggins
Die Stadt New Orleans – Yun-Su Park, Orkan Dann, Lucia Solari, Emanuel Amuchástegui, Patricia Tichy, Marcelino Libao, Mariana Zanotto, Silvano Ballone, Maude Audrey, Mayo Arii, Florencia Chinellato, Fubata Ishizaki, Xue Lin, Taisia Muratore, Yuka Oishi, Lucia Rios, Marc Jubete Bascompte, Aleix Martínez, Alban Pinet, Sasha Riva, Constant Vigier, Lizhong Wang

22. April 2012

La Traviata – Johannes Rieger.
Theater Bernburg.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 3, Platz 8















Schreckmoment in Bernburg: ich stehe vor einem komplett eingerüsteten, in der Renovierung befindlichen Bau, in dem ich ungläubig das Theater zu erkennen glaube (ein klassischer Fall von Aussetzer, ist mir das Carl-Maria-von-Weber-Theater doch durchaus von Bildern bekannt). Nun, das könnte knapp werden mit der Vorstellung um 16 Uhr, wenn die Handwerker nicht mit höheren Mächten im Bunde stehen. Aber Entwarnung, der Musentempel liegt eine Straßenecke weiter und mit seinem Auftauchen vollzieht sich Gleiches mit meiner Erinnerung. Ich hätte es wissen müssen – nur immer den Bussen nach.

Der Bau ist ein Kleinod, wobei die Foyers irritierenderweise den Charme einer etwas angeplüschten Stadthalle oder eines Hotels ausstrahlen. Wurde da im Hinblick auf Bequemlichkeit (Fahrstühle, Gastronomie) kaputtsaniert? Der Saal selbst schließlich entschädigt aufs Beeindruckendste. Klassizistenherz, was willst Du mehr? Schön, daß man die intime Atmosphäre dieses prächtigen Baus in Gastspielaufführungen wie dieser erleben darf.

Meine Annahme, daß zu solch einem Anlass eine betont, sagen wir mal, fragezeichenfreie Umsetzung angeboten wird, erwies sich als Vorurteil. Die seit Jahrzehnten gespielte Hamburger Traviata bedient da deutlich mehr Butterfahrt-Klischees. Die Inszenierung hier beschränkt sich nicht wie vermutet auf eine hübsche Ausstattung der tragischen Handlung, sondern läßt diese als eine Art (Alb-)Traum mit symbolischen, oft genug surrealen Momenten entstehen.

Die visuellen Leitmotive entstammen dabei der Vogelwelt. Zwischen den Akten ertönt Vogelgeschrei vom Band. Die dekadente Partygesellschaft als schrille Brut gefiederter Gestalten, auf Äußerlichkeiten bezogen und von schwarmhafter Hysterie. Violetta ist zuerst Fixstern dieses Kreises, wird im Laufe der Ereignisse entflügelt und endet, umsorgt von Pflegern und beweint von Alfredo auf dem Kranken(haus)bett. Am Schluß wird sie von einem (Alter ego?) Engelsgeschöpf mit weißen Schwingen empfangen.

Das Ei taucht als Motiv immer wieder auf, einmal zerkaut Alfredo in seiner Verbitterung über den Vater eines, dann wird an der Tafel der Vogelgesellschaft aus ihnen gelöffelt, schließlich entpuppt sich der Mond selbst als zerbrochenes Ei. Ob mit all diesen und anderen Einfällen immer bis ins Letzte der tiefschürfende Charakter herausgebildet wird, den man sicher angestrebt hat, sei mal dahingestellt, gesamt betrachtet gibt es jedoch keinen Grund, diese Regiearbeit zu belächeln. Am Ende braucht es immer auch die Darsteller, um Ideen in Wirkung umzusetzen.

Mit Bettina Pierags war zumindest die Hauptpartie stimmlich wie darstellerisch beachtlich besetzt. Insbesondere ihr Piano bzw. Pianissimo evozierte immer wieder Momente zartester Jugend und Verletzlichkeit. Die Szene, in der sie sich im Angesicht des nahen Todes noch einmal zu schminken versucht, war an szenischer und musikalischer Intensität kaum zu überbieten. Besser wird in Berlin oder München auch nicht gestorben.

Wenn ich eben ein „zumindest“ eingeschoben habe, bezieht sich das weniger auf die Mehrzahl der Sänger, die ihre Sache passabel gemeistert haben, sondern vor allem auf die Sollbruchstelle des Abends, Herrn Xiaotong Han. Ohne bösartig oder hämisch sein zu wollen, will es mir einfach nicht in den Kopf, wie man es mit dieser Stimme in das Ensemble eines Stadt- oder Landestheaters geschafft haben mag. Ich spreche hier nicht von der Technik oder dem Volumen, Komponenten, die eben in harter Arbeit und mit der Zeit erlernbar und entwicklungsfähig sind, sondern schlicht vom Charakter der Stimme selbst, die – mit Verlaub – nicht die Stimme eines feurigen Tenors, sondern die eines Frosches ist, den nicht zehn Violettas in einen Prinzen zu verwandeln im Stande wären.

Abgesehen von diesem krassen Ausreißer wurde ein passables Niveau geboten, Dirigent, Chor und Orchester liefern brauchbares Handwerk, das familiäre Ambiente trägt seinen Teil dazu bei, diesen Abstecher als Erfolg verbuchen zu können.


Giuseppe Verdi – La Traviata
Musikalische Leitung – MD Johannes Rieger
Inszenierung – Susanne Knapp
Bühnenbild und Kostüme – Susanne Bachmann
Chöre – Jan Rozehnal
Dramaturgie – Susanne Range

Violetta – Bettina Pierags
Alfredo – Xiaotong Han
Germont – Juha Koskela
Flora – Regina Pätzer
Gaston – Tobias Amadeus Schöner
Baron – Norbert Zilz
Marquis – Gijs Nijkamp
Doktor – Klaus-Uwe Rein
Annina – Christine Köppe
Die Krähen – Ki Soo Yoo, Thomas Kiunke, Volker Jaremko
Die Pfleger – Dobrin Alexandrov, Ki Soo Yoo, Helmut Müller
Der weiße Vogel – Corinna Reinecke

Chor, Verstärkungschor und Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters

21. April 2012

Arabella – Stefan Solyom.
Nationaltheater Weimar.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 4


















Arabella in Weimar, oder: Große Gefühle im Dritten Reich. Ich muß zugeben, daß ich das Regiekonzept nicht wirklich durchdrungen habe – wenn es denn etwas zu durchdringen gab, abgesehen von der Tatsache, daß diese Arabella eben zur Nazizeit spielt. Versuchte ich anfangs noch, diesem Griff eine mögliche Aussage abzulauschen – von einer bloßen Thematisierung der Entstehungszeit einmal abgesehen – so beließ ich es im Folgenden dabei, die Handlung als solche einfach in dieser Zeit umgesetzt zu sehen. So ist eben kein kroatischer Landadliger, sondern ein Nazibonze mit Parteiabzeichen am Revers dem schönen Bildnis verfallen, in seinem Gefolge kein Leibhusar und Diener, sondern ein paar Gestapo-Schergen. So so. Und Matteo ist dann natürlich konsequenterweise ein Leutnant der Wehrmacht.

Warum er allerdings im ersten Akt ein Pierrotkostüm über seinen Stiefelhosen trägt, hat mich dann wieder (unnötigerweise?) grübeln lassen. Verweist es nur auf den anstehenden Faschingsball, oder steckt mehr dahinter? Matteo als tragische Figur? Gar eine Anspielung auf Schönbergs Pierrot lunaire? Wahrscheinlich eher nicht. Aber ich komm halt ins Grübeln. Und warum hat Arabella ein Vans-Shirt? Und was zeigt das um 45 Grad gedrehte Bild an der Wand des Escher-Bühnenbildes? Ach ja, das Bühnenbild. Verbildlichung einer aus den Fugen geratenen Zeit? Oder Kommentar auf die ungeordneten Verhältnisse im Hause Waldner, bzw. Ihres Hotelgehause? Ist sicher einerlei. Nur diese fiese, penetrant güldene Lichtstimmung nervt etwas. Später kommt etwas Abwechslung dazu. Sollte ich mich nicht auf die Handlung konzentrieren? Wo war ich?

Jedenfalls verhält es sich mit dem Stück absolut stringent und plausibel, hat man einmal den Nazi-Fokus akzeptiert – abgesehen davon, daß eben dieser das Stück emotional unbrauchbar macht. Das macht schon alles Sinn: Zum Fasching haben sich die leichten Damen in SA- und SS-Schale geschmissen, dazu Arabella als „emanzipierter“ Gegenpol im Marlene-Dietrich-Frack mit Zylinder. Generell ist Bella heute ein großer Hosenfreund. OK, hab ich verstanden. Die Zuspitzung des „Lasterhaften“ in einer Art Kollektivrumgemache – warum nicht – nur kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Mandryka mit seinem ehernen Verständnis von Liebe und Treue nach dem Sektkorken-Koitus mit der Fiaker-Milli sich in puncto Arabella noch einen Funken Versöhnungshoffnung bewahrt hat. Vielleicht sind Nazis ja generell Optimisten. Naja, sind eben moderne Zeiten. Und die Mutter mit dem Grafen unterm Tisch? Hab das Libretto grad nicht zur Hand, wird schon irgendwie abzuleiten sein. Und wenn nicht – Schwamm drüber – um ein Zitat ihres Gatten von andrer Stelle zu entlehnen.

Themenwechsel. Die Akustik im Nationaltheater ist gut, wenn auch etwas trocken. Nach der Pause konnte ich ein paar Plätze gen Mitte durchrutschen, das bringt schon einiges. Der Saal ist zu Beginn ein wenig stickig, wirkt leicht angemufft. Das Orchester wird seinem Status als A-Klangkörper vollkommen gerecht und kann sich mehr als hören lassen. Am Dirigat gibt es nichts auszusetzen, mitunter wird es richtig straussisch. Die Sängerbesetzung ist erstklassig, kann jedoch nur bedingt bei mir punkten. Larissa Krokhina als Arabella: Der Größe und Anlage der Stimme nach passend, aber die Stimme selbst sagt mir nicht so zu. Geschmacksache. Rein technisch gesehen gibt es da nichts auszusetzen, das Finale geht sie vollkommen zart und voller Ausdruck an, nur ist es halt nicht der Ausdruck „meiner“ Arabella. Zu reif, zu erwachsen. Zdenka sehr textverständlich, alles prima, aber auch hier: nicht meine Vorstellung der kleinen Schwester, nicht zart, nicht süß genug, insgesamt sehe ich den Kontrast zu Arabella stärker.

Die Stimme des Abends: Heiko Trinsinger alias Mandryka. Ein toller Bariton, nicht so tief von der Grundanlage, aber klang- und kraftvoll. Allein aufgrund dieser Leistung hat sich der Abend schon mehr als gelohnt. Auch darstellerisch mit Abstand der intensivste Protagonist, mit einer, für die Rolle natürlich hilfreichen, gewinnenden Körperlichkeit. Hier und da mußte ich (szenisch) ein bißchen an Michael Volle denken. Waldner mit gutem Organ, Matteo mit brauchbarer Stimme, jedoch zeitweise arg weinerlich. Von den drei Grafen stach der Sänger des Elemer sehr positiv hervor.

Was ist also die Erkenntnis des Abends? Geht man nach dem Votum des Premierenpublikums, war es ein ungetrübter, allerdings mitnichten ausverkaufter Erfolg. Keine Buh-Rufe für das Regieteam (mit denen ich schon fest gerechnet hatte – für gewöhnlich reicht ja schon ein Hakenkreuz, sagen wir mal irgendwo in den Meistersingern eingestreut, um das Opernvolk auf die Palme zu bringen). Aber die Kollegen von der szenischen Front durften sich auch erst und nur einmal auf der Bühne zeigen, als die Musikerzunft schon ausgiebig behuldet worden war. Oder interpretiere ich auch da zuviel rein? Regie wird generell überbewertet. Aber das Bild des Zimmerkellners, der sich durch den Escher robbt, das hätte ich schon gern als Bildschirmschoner.


Richard Strauss – Arabella
Musikalische Leitung – Stefan Solyom
Regie – Karsten Wiegand
Co-Regie – Valentin Schwarz
Ausstattung – Christoph Ernst
Dramaturgie – Mark Schachtsiek

Graf Waldner – Patrick Simper
Adelaide – Veronika Waldner
Arabella – Larissa Krokhina
Zdenka – Heike Porstein
Mandryka – Heiko Trinsinger
Matteo – Harrie van der Plas
Graf Elemer – Szabolcs Brickner
Graf Dominik – Uwe Schenker-Primus
Graf Lamoral – Andreas Koch
Die Fiakermilli – Michalina Bienkiewicz
Eine Kartenaufschlägerin – Susann Vent
Ein Zimmerkellner – Günter Moderegger
Welko – Bastian Heidenreich
Djura – Johannes Leuschner
Jankel – Michael Lüttig

Staatskapelle Weimar
Statisterie des Deutschen Nationaltheaters Weimar

20. April 2012

Werther – Michael Balke.
Theater Magdeburg.

19:30 Uhr, Parkett rechts, Reihe 1, Platz 14

















Verkehrte Welt in Magdeburg. Man stelle sich vor: die wahrscheinlich schlechteste Auslastung einer Aufführung, der ich je beizuwohnen die Ehre hatte, kombiniert mit einer Gesamtleistung, die eine qualitative Unterscheidung zwischen kleinen und großen Häusern auf Basis der verfügbaren Sitzplätze oder landläufigen Renommees ad absurdum führt. Zwischendurch kam mir der Gedanke, jemand spielt mir einen – dann doch recht aufwändigen – Streich und hat zum einen die Magdeburger Opernfreude durch Freikarten für Bayreuth zum Fernbleiben bewogen, zum anderen die Berliner Staatskapelle eingeladen, um mein Gehör und meine Fassung auf die Probe zu stellen. Ich übertreibe keineswegs: die Magdeburgische Philharmonie klingt wie, falsch, ist – zumindest an diesem Abend – ein absolutes Spitzenorchester.

Vor lauter akustischer Verblüffung blieb dann auch kein Raum, sich gebührend über die gähnende Leere im Saal aufzuregen. Ja, der Saal. Ich würde behaupten, daß ich selten einen Raum gehört habe, der meinem Opern-Akustik-Ideal näher gekommen wäre. Ein durch alle Dynamikstufen differenzierter, unglaublich präsenter, klarer Klang aus dem Orchestergraben verbindet sich mit einer Gesangsübertragung, auf die Selbiges zutrifft, zum perfekten Hörerlebnis. Dabei ist dieser Ort Architektur gewordene Unscheinbarkeit. Schwarz, schmucklos, kühl. Und an diesem Tag von keinen hundert Besuchern „gefüllt“ (ich bin sicher nicht der Beste im Schätzen, aber Begriffe wie „spärlich“ oder „vereinzelt“ treffen es ganz gut). Später erklärte man mir, dies sei ja eine Wiederaufnahme, generell würde hier nach den Premieren bzw. den ersten Aufführungen das Interesse nachlassen. Musical ginge aber immer.

Heute ging besuchertechnisch wie gesagt nicht viel, das Rückgrat des Häufleins bildete zudem eine Schar Schüler, die wahrscheinlich im Zuge eines Deutsch Grundkurses dazu verdonnert wurden, der Vertonung ihres Unterrichtstoffes zu lauschen. Für mich war es ja die zweite Goetheumsetzung für den Pariser Opernbetrieb nach Gounods Faust im Februar. Doch welch ein Unterschied zu dem seichten Ohrgeschmeichle in Hamburg – Massenet ist ein Guter! Das gefällt mir alles von vorne bis hinten. Angefangen bei den lieblich-wehmütigen Klängen des Beginns, ein zauberisches Idyll ausbreitend, in das Werthers unerfüllbares Sehnen umso schmerzlicher schneidet. Gleich sein erster Auftritt zieht in den Bann, schließlich der Sog seines Ausbruchs gegen Ende des ersten Aktes („Traum! Ekstase! Freude!“).

Womit wir bei den Sängern wären. Die Besetzung dieses Abends ist nahezu makellos, bedenkt man zudem, daß dies alles mit Ensemblemitgliedern gestemmt wird, könnten größere Häuser durchaus vor Neid erblassen. Iago Ramos ist ein lyrischer Tenor, wie man ihn sich für diese Rolle wünscht. Abgesehen von ihrem Wohlklang bringt seine Stimme alles an Phrasierungsvermögen, Flexibilität, Schmelz und Kraft mit, welches unweigerlich zu wahrhaft schönem, keineswegs oberflächlichem Gesang führt. An seiner Seite gibt Lucia Cervoni ein Beispiel für die sinnlichen, berührenden Möglichkeiten der Mezzostimmlage, warm und ergreifend. Kartal Karagedik als Albert steht den beiden Hauptpartien in nichts nach. Sein Bariton geht sprichwörtlich runter wie Öl. Voll, rund, mit einer Ernsthaftig- und Unerbittlichkeit, die in mir das Bild eines jungen Scarpia heraufbeschwört. Der zarte Sopran von Julie Martin du Theil schafft den passenden Gegenpol zu den Melancholien Charlottes. Auch die Rollen des Vaters sowie der beiden Bacchusfreunde sind adäquat besetzt, der kleine Kinderchor sorgt für Momente Klang gewordener Unschuld und Unbeschwertheit.

Besondere Beachtung verdient das Dirigat von Michael Balke, laut Einführung (wie bei einigen Sängern auch) ist es seine Werther-Premiere. Ich wüßte nicht einen einzigen Takt, der den stetigen Fluß einer bis ins letzte Detail ausgefeilten Lesart unterbrochen hätte, von den fragilsten Pianissimi bis zu den erhabensten Steigerungen. Und wenn dann ein solcher Spitzenapparat unter seinen Händen, mit dem Fundament eines nicht schwärzer zu denkenden Blechs, das drohende Schicksalsmotiv mit jedem Auftreten gewaltiger intoniert, bleibt nach kurzer Verblüffung nur pures Eintauchen. Immer wieder kommt es zu solch unglaublichen Klangwirkungen. Der häufig anzutreffende Umstand, daß es an kleineren Bühnen, wenn auch nicht an Einsatz, so doch häufig an letzter Finesse und vor allem Klangfarbenreichtum mangelt, wird hier mit jedem Bogenstrich, jedem Bläseransatz weggewischt.

Die Inszenierung stellt sich voll und ganz in den Dienst dieser herrlichen Musik und schafft mit ihren historischen Kostümen und betont kulissenhaften Szenerien, eingebettet in eine modulare Wand, die Konzentration auf die inneren Vorgänge der Handelnden. Das irreale Spiegelkabinett-Element ist als Bild für den unerreichbaren Traum der Zweisamkeit passend gewählt. Der Wechsel der Jahreszeiten wird mit einfachsten Mitteln umgesetzt, etwas Laub und Schnee genügen.

Am Ende gibt es zwei Vorhänge und einen Jetzt-erst-recht-Applaus des mächtigen Zuschauerhäufleins, unter dem Strich aber ist es mehr als schade, wenn nicht eigentlich frustrierend, daß sich nicht mehr Theaterfreunde zu diesem Abend auf den Spuren der Perfektion entschlossen haben.


Jules Massenet – Werther
Musikalische Leitung – Michael Balke
Inszenierung – Walter Sutcliffe
Bühne und Kostüme – Kaspar Glarner
Co-Ausstattung – Miriam Draxl
Dramaturgie – Ulrike Schröder
Kinderchoreinstudierung – Martin Wagner

Werther – Iago Ramos
Albert – Kartal Karagedik
Der Amtmann – Paul Sketris
Schmidt – Chan Young Lee
Johann – Wolfgang Klose
Charlotte – Lucia Cervoni
Sophie – Julie Martin du Theil
Marie, Gretel, Clara, Hans, Max, Karl, Fritz – Hendrikje van de Ven, Anna Kalvelage, Klara Schuldt, Leonard Becker, Götz Wagner, Lauritz Wagner, Franz Scholl

Statisterie des Theaters Magdeburg
Magdeburgische Philharmonie

7. April 2012

Gustav Mahler Jugendorchester – David Afkham.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16


















Anton Webern – Sechs Stücke für Orchester op. 6
Richard Wagner – Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“ (Iréne Theorin – Sopran)

(Pause)


Bernd Alois Zimmermann – Photoptosis (Prélude für großes Orchester)

Alexander Skrjabin – Le Poème de l'extase



Alexander Skrjabin sollte in meinen Augen als größter Bluffer der Musikgeschichte in eben selbige Eingang und Wertung finden. So sehr ich die Klavierwerke auch schätze, so maßlos wie sein damit verbundener Anspruch ödet mich seine Sinfonik an. Meine Güte, all die Chromatisiererei für das bißchen – zugegebenermaßen lautes – C-Dur am Ende, da schläft mir doch auf dem Weg dahin das synästhesieinteressierte Gemüt ein. Kein Wunder, daß der Mann auf der Suche nach einer neuen kombinierten Ansprache der Sinne war, fühlt sich doch das Gehör allein, mit derart langweiligen Schinken konfrontiert, alles andere als stimuliert. Und trotzdem hat es Skrjabin verblüffenderweise erreicht, daß sich bis in die Gegenwart die Experimentierfreudigen seiner Musik erbarmen, heutzutage in Gestalt berufener Multimediafraggles, die den Theorien des Dünnbrettsinfonikers Anregungen für ihre eigenen Ergüsse abtrotzen.

Leider brach sich der multimediale Eifer heute nur recht schmale Bahn, ein paar funzelige TV-Schirme rechts und links der Bühne waren bei Weitem zu dezent, um die ersehnte Aufmerksamkeitsausweichmöglichkeit abzugeben. Das Ganze hatte in etwa den Effekt, als hätte man die Dirigenten-Kontrollbildschirme in der Oper in Richtung Publikum gedreht, um anstatt auf der Bühne dort allein die Geschehnisse dem Saalpublikum zu präsentieren. Besonders fesselnd sicher auch für die Zuschauer der hinteren Reihen. Was auch immer das „Konzept“ dabei gewesen sein mag, es blieb mir verborgen, vor allem weil ich wenig Lust verspürte, meinen Hals permanent in Richtung Mäusekino zu verrenken. Ich vermute mal, daß irgendein Bezug zu Gedicht und/oder Farbenlehre bestand.

Um die Verwirrung komplett zu machen, wurden in der Pause Kopfhörer ausgegeben (entweder ich hab da geschlafen oder die Bekanntmachung dieses „Service“ lief unter Ausschluß der Öffentlichkeit), mittels derer man dem zugrunde liegenden Gedicht oder einer anderen musikalischen Darbietung lauschen konnte, die zeitgleich unter dem Dach abgehalten wurde (?!). Nun fand das Konzert ja in der Reihe „Orchester 3.0“ statt – keine Ahnung, was so eine pseudohippe Titulierung ausdrücken soll. Das ist sicher alles gut gemeint und ambitioniert, unter dem Strich jedoch nur mehr unausgegoren.

Daß es auch anders UND sinnvoll geht, zeigte die ungewöhnliche Einführung durch Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums Hamburg. Einzelne Schüler referierten dabei jeweils kurz über Komponisten und Werke des Konzerts, wobei sie gemeinsam in Kammerbesetzung viele erhellende Klangbeispiele gaben – vom Tristanakkord nebst Beispielen für seine mögliche Auflösung bis hin zu den Zitaten im Zimmermann, die ich ohne diese Herausstellung sonst im Konzert vermutlich überhört hätte.

Der Zimmermann hat es mir dann auch sehr angetan. Eine flirrende Äthermusik, unglaublich dicht, kompakt und massiv in ihrer Klangwirkung. Organisierte Spannung sprichwörtlich zum Greifen. Hier und im Webern gefiel mir Afkham ausgesprochen gut, eben als Aufrechterhalter und Regulator dieser Spannungszustände. Das Gustav Mahler Jugendorchester ist zudem ein Spitzenklangkörper, dessen Abteilungen ausnahmslos zu glänzen verstehen. Frau Theorin traf da leider weniger meinen Geschmack. Wie brüchig, ja fast schon stimmlos die ersten Worte ihres „Mild und leise“, um sich dann stufenlos zur akustischen Einebnung der Laeiszhalle aufzuschwingen – das ist sie also auch nicht – „meine“ Isolde. Wieder was gelernt. Das Tristan-Vorspiel hingegen löste manches von dem ein, was ich vor zwei Wochen in Berlin vergeblich ersehnt hatte.

Nachtritt zu Skrjabin: Ich höre immer von Wagner und Debussy als Vorbilder für den sympathischen Größenwahnler. Das mag schon sein, viel ohrenfälliger mutet mir aber seine Vorwegnahme des Feuervogels an – ohne dabei selbst auch nur eine Eierschale voll vergleichbarer Ekstase aufzuweisen. Musik ist und bleibt doch ein Geheimnis.