22. April 2012

La Traviata – Johannes Rieger.
Theater Bernburg.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 3, Platz 8















Schreckmoment in Bernburg: ich stehe vor einem komplett eingerüsteten, in der Renovierung befindlichen Bau, in dem ich ungläubig das Theater zu erkennen glaube (ein klassischer Fall von Aussetzer, ist mir das Carl-Maria-von-Weber-Theater doch durchaus von Bildern bekannt). Nun, das könnte knapp werden mit der Vorstellung um 16 Uhr, wenn die Handwerker nicht mit höheren Mächten im Bunde stehen. Aber Entwarnung, der Musentempel liegt eine Straßenecke weiter und mit seinem Auftauchen vollzieht sich Gleiches mit meiner Erinnerung. Ich hätte es wissen müssen – nur immer den Bussen nach.

Der Bau ist ein Kleinod, wobei die Foyers irritierenderweise den Charme einer etwas angeplüschten Stadthalle oder eines Hotels ausstrahlen. Wurde da im Hinblick auf Bequemlichkeit (Fahrstühle, Gastronomie) kaputtsaniert? Der Saal selbst schließlich entschädigt aufs Beeindruckendste. Klassizistenherz, was willst Du mehr? Schön, daß man die intime Atmosphäre dieses prächtigen Baus in Gastspielaufführungen wie dieser erleben darf.

Meine Annahme, daß zu solch einem Anlass eine betont, sagen wir mal, fragezeichenfreie Umsetzung angeboten wird, erwies sich als Vorurteil. Die seit Jahrzehnten gespielte Hamburger Traviata bedient da deutlich mehr Butterfahrt-Klischees. Die Inszenierung hier beschränkt sich nicht wie vermutet auf eine hübsche Ausstattung der tragischen Handlung, sondern läßt diese als eine Art (Alb-)Traum mit symbolischen, oft genug surrealen Momenten entstehen.

Die visuellen Leitmotive entstammen dabei der Vogelwelt. Zwischen den Akten ertönt Vogelgeschrei vom Band. Die dekadente Partygesellschaft als schrille Brut gefiederter Gestalten, auf Äußerlichkeiten bezogen und von schwarmhafter Hysterie. Violetta ist zuerst Fixstern dieses Kreises, wird im Laufe der Ereignisse entflügelt und endet, umsorgt von Pflegern und beweint von Alfredo auf dem Kranken(haus)bett. Am Schluß wird sie von einem (Alter ego?) Engelsgeschöpf mit weißen Schwingen empfangen.

Das Ei taucht als Motiv immer wieder auf, einmal zerkaut Alfredo in seiner Verbitterung über den Vater eines, dann wird an der Tafel der Vogelgesellschaft aus ihnen gelöffelt, schließlich entpuppt sich der Mond selbst als zerbrochenes Ei. Ob mit all diesen und anderen Einfällen immer bis ins Letzte der tiefschürfende Charakter herausgebildet wird, den man sicher angestrebt hat, sei mal dahingestellt, gesamt betrachtet gibt es jedoch keinen Grund, diese Regiearbeit zu belächeln. Am Ende braucht es immer auch die Darsteller, um Ideen in Wirkung umzusetzen.

Mit Bettina Pierags war zumindest die Hauptpartie stimmlich wie darstellerisch beachtlich besetzt. Insbesondere ihr Piano bzw. Pianissimo evozierte immer wieder Momente zartester Jugend und Verletzlichkeit. Die Szene, in der sie sich im Angesicht des nahen Todes noch einmal zu schminken versucht, war an szenischer und musikalischer Intensität kaum zu überbieten. Besser wird in Berlin oder München auch nicht gestorben.

Wenn ich eben ein „zumindest“ eingeschoben habe, bezieht sich das weniger auf die Mehrzahl der Sänger, die ihre Sache passabel gemeistert haben, sondern vor allem auf die Sollbruchstelle des Abends, Herrn Xiaotong Han. Ohne bösartig oder hämisch sein zu wollen, will es mir einfach nicht in den Kopf, wie man es mit dieser Stimme in das Ensemble eines Stadt- oder Landestheaters geschafft haben mag. Ich spreche hier nicht von der Technik oder dem Volumen, Komponenten, die eben in harter Arbeit und mit der Zeit erlernbar und entwicklungsfähig sind, sondern schlicht vom Charakter der Stimme selbst, die – mit Verlaub – nicht die Stimme eines feurigen Tenors, sondern die eines Frosches ist, den nicht zehn Violettas in einen Prinzen zu verwandeln im Stande wären.

Abgesehen von diesem krassen Ausreißer wurde ein passables Niveau geboten, Dirigent, Chor und Orchester liefern brauchbares Handwerk, das familiäre Ambiente trägt seinen Teil dazu bei, diesen Abstecher als Erfolg verbuchen zu können.


Giuseppe Verdi – La Traviata
Musikalische Leitung – MD Johannes Rieger
Inszenierung – Susanne Knapp
Bühnenbild und Kostüme – Susanne Bachmann
Chöre – Jan Rozehnal
Dramaturgie – Susanne Range

Violetta – Bettina Pierags
Alfredo – Xiaotong Han
Germont – Juha Koskela
Flora – Regina Pätzer
Gaston – Tobias Amadeus Schöner
Baron – Norbert Zilz
Marquis – Gijs Nijkamp
Doktor – Klaus-Uwe Rein
Annina – Christine Köppe
Die Krähen – Ki Soo Yoo, Thomas Kiunke, Volker Jaremko
Die Pfleger – Dobrin Alexandrov, Ki Soo Yoo, Helmut Müller
Der weiße Vogel – Corinna Reinecke

Chor, Verstärkungschor und Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters