7. Dezember 2014

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

18:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 7, Platz 12



Alban Berg – Fünf Orchesterlieder op. 4 nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg (Michaela Schuster, Mezzosopran)
Joseph Haydn – Sinfonie Nr. 88 G-Dur Hob. I:88

(Pause)

Gustav Mahler – Rückert-Lieder (Michaela Schuster, Mezzosopran)
Franz Schubert – Sinfonie Nr. 2 B-Dur D 125



Eine ziemlich heterogene Zusammenstellung, mochte man beim ersten Blick auf die Programmfolge vielleicht denken, doch wieder einmal ist es Jeffrey Tate gelungen, aus dieser Vielfalt ein äußerst intensives Konzerterlebnis-Amalgam zu schmieden. Gerade die stilistische Bandbreite der Stücke sorgte für Kontraste, die den Blick auf die einzelnen Werke wechselseitig schärfte.

Und damit möchte ich nicht etwa verquer zum Ausdruck bringen, wie erleichtert manch konservativer Zeitgenosse auf die Haydn-Klänge nach dem „schwierigen“ Berg reagiert haben mag (Bereits die Einführung schürte dessen „Skandalpotenzial“ für meine Begriffe etwas zu parteiisch), sondern zum wiederholten Male eine Lanze brechen für die hamburgweite Konkurrenzlosigkeit der spannenden Programmgestaltung dieser Konzertreihe. Möge Herrn Tate auch in Zukunft die nötige Inspiration zufliegen, die das Fundament für solch besondere musikalische Erfahrungen darstellt.

So so, dieser Berg ist also ein gefährlicher Bursche, vor dem sich brave Konzertgänger in Acht nehmen sollten, und das offenbar noch mehr als hundert Jahre, nachdem er in Wien sein Unwesen trieb. Zumal er ja den Schönberg kannte, schlimmer noch, sein Schüler war, bei dessen bloßer Namensnennung es ja bekanntermaßen beim Großteil des Abopublikums aushakt. Ach liebe Leute, wie kann man denn so verbohrt sein, von dieser die Sinne stimulierenden Musik nicht berührt zu werden (Nun gut, wahrscheinlich würden mir h-Moll-Messe-Liebhaber das gleiche vorwerfen)? Von einer Instrumentation, so ungemein transparent, farbgewaltig und voll feinster Schattierungen, dabei gleichermaßen distanziert-verwunschen wie emotional fesselnd.

Und natürlich in erster Linie von dem schlichtweg vollendeten Vortrag der wunderbaren Michaela Schuster, die den Begriff der Sängerdarstellerin hier auch abseits der Opernbühne ohne den Hauch des Prätentiösen auf das Eindrucksvollste mit Leben füllte. Ihre unverwechselbare Stimme, mal kraftvoll, scheinbar unerschöpflich, ohne dabei je schrill, sondern stets warm und voll zu klingen, mal zarteste Nuancen auslotend, gepaart mit brillanter Textverständlichkeit und einer mimischen Bühnenpräsenz, die involvierte, intensivierte, machten diesen Liedvortrag ebenso wie die Mahler-Lieder zu etwas ganz Besonderem.

Noch einmal kurz zu Berg: Heute ist mir fast weniger die rückwärtsgerichtete Nähe zu Mahler als vielmehr der Impuls aufgefallen, den diese fragile Musik doch für kommende Komponisten gehabt haben muss – unter anderem auch für meinen geliebten Britten. Allein der soghafte Beginn von „Hier ist Friede“ mit der Tonfolge in Flöte und Harfe, der Reihe, grundiert von tiefem Blech, die harmonischen Reibungen/Schönheiten, das Sehnen, auch die Form der Passacaglia erinnern sehr an entsprechende Passagen des sensiblen Tonsetzers aus Lowestoft. Man könnte auch soweit gehen, dass das Konzept Brittens, in vielen seiner Liedzyklen, das gewichtigste, sinnlichste Stück ans Ende zu setzen, hier von Berg in Miniatur bereits vorgelebt wurde. Eine Brücke von Mahler zu Britten – die Musiktradition nimmt mitunter verschlungene Pfade.

Und dann nach der Pause die Rückert-Lieder. Auch hier hat sich Tate wieder selbst übertroffen. Mit einem Orchesterklang, den ich gegen nichts eintauschen möchte, mit einer Interpretation, die jedes einzelne der Lieder zur vollen Geltung brachte – „Liebst Du um Schönheit“ beispielsweise habe ich nie berührender in Konzert oder irgend einer Einspielung gehört. Bei „Um Mitternacht“ überraschte er mit relativ zügigem Grundtempo, um dann auch den majestätischen Schluss voller Schwung zu entfesseln (oft wird gerade bei diesem Lied der stoische Ernst mit schleppenden Tempi verwechselt, die das ohnehin pausenreiche Stück auseinanderfallen lassen). „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ schließlich, ja was soll man zu diesem in entrückter Ruhe umschließenden, betörenden Fluß elfenbeinerner Romanik sagen, die das Gemüt gleichzeitig so warm und doch so schwer macht? Unvergleichlich. Und natürlich gebührt auch hier Frau Schuster ein besonderer Dank für eine besondere, herzerwärmende Leistung.

„Den Haydn und den Schubert hat er jetzt aber wieder einfach ausgelassen“ könnte der aufmerksame Leser anmerken, doch weit gefehlt, geben diese beiden (scheinbar) wohlvertrauten Herren mir doch die Chance, noch einmal auf den ersten Gedanken meiner Betrachtungen zurückzukommen – mein Bekenntnis zu stilistischer Programmvielfalt. Ich finde es ein bisschen schade, daß gerade in Einführungen gern auf einleitende Worte zu den bekannten Stücken oder Komponisten zugunsten der „Härtefälle“ verzichtet wird.

Dabei ist es klar, daß eine halbe oder Dreiviertelstunde sich nicht als musikwissenschaftliche Vorlesung auswachsen kann, natürlich muß fokussiert werden, aber darum geht es mir auch gar nicht. Ich kann mich nur relativ schwer mit dieser Einteilung in „erklärungsbedürftige“ und „vertraute“ Musik abfinden – wahrscheinlich gerade weil mir Berg und Mahler gefühls- und somit rezeptionsmäßig viel näher als ein Haydn und selbst noch ein früher Schubert liegen. Vielen mag das anders gehen, trotzdem schwingt da immer so eine Haltung mit wie: „Na das ist halt schöne Musik, da muß man nicht viel drüber erzählen“.

Abgesehen davon, daß mir Musik, die darauf reduziert wird, schön anzuhören zu sein, erstmal den Angstschweiß auf die Stirn zaubert, tut man ihr in den meisten Fällen damit sicher auch Unrecht. Nicht falsch verstehen, es sei hübsch jedem überlassen, wie er ein Konzert auf sich wirken läßt, wie tief man in die Musik einsteigt, oder ob man das Gehörte als Untermalung für seine Gedankenspiele, was noch alles mit Herrn Dr. Klöbner in der Pause zu besprechen sei, verstanden wissen möchte. Aber es hat sicher mehr zum musikalischen Weltruhm der Werke Haydns beigetragen, als deren unverbindliche Gefälligkeit. Einfach ein paar Worte zu Faktur und Besonderheiten, vor allem im historischen Kontext, wären ganz nett.

Wie frisch und knackig und ganz und gar nicht zopfig man diese Musik doch rüberbringen kann, stellten Tate und seine Hamburger Symphoniker mit ihrer zupackenden, aber nie groben, stets transparentem Darbietung unter Beweis. Gerade im Kontrast zu dem gewaltigen Klangkosmos der Altenberg-Lieder konnte die Haydn’sche Reduktion und Konzentration wirken, die Struktur in all ihrer Klarheit hervortreten lassen. Ein vergleichbarer Effekt trat auch beim frühen Schubert nach dem Mahler ein. Eine spannende Sinfonie, die ich – zumindest so bewußt – nie wahrgenommen hatte.

Ich kann mir das natürlich aus alles einbilden, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ich jedenfalls an einem reinen Haydn-Programm wohl ähnlich zu beißen hätte, wie manch anderer an einem Berg-Abend. Fazit: Musik ist und bleibt Geschmackssache – wie schön, daß Jeffrey Tate eine derart vielseitige Küche pflegt.

3. Dezember 2014

Balthasar-Neumann-Ensemble und -Chor –
Thomas Hengelbrock. Laeiszhalle Hamburg.

19:15 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16

















 
Johann Sebastian Bach – Messe h-Moll BWV 232

(Solisten aus dem Balthasar-Neumann-Chor)



Bachs h-Moll Messe. Bei diesem Werk jagt ein Superlativ den nächsten. „Das wichtigste, das größte Werk Bachs, ja wahrscheinlich das größte Kunstwerk überhaupt“ tönt es einem in der Einführung aus Ehrfurcht gemahnendem Zitatefundus entgegen. Ich möchte gern eine weitere Höchststufe ergänzen: Größte Langeweile, die mich beim Erdulden dieses recht ausgedehnten Gipfelpunktes abendländischer Kultur gleich von Beginn an überkam und die bis auf wenige gnädige Ausnahmen auch nicht wieder von mir abzulassen gedachte. Nach den ersten Minuten kehrt die staubtrockene Erinnerung zurück, daß ich mich bereits vor einigen Jahren einmal durch jenes Wunderwerk quälen mußte, in der Kölner Philharmonie war das, Anno 2010. Aber Abo ist Abo und Bach gebührt nun wirklich jedes Recht auf eine zweite Chance. Umso ernüchternder, daß die Neuauflage zur gut zweistündigen Reminiszenz des faden Erlebnisses in der Domstadt geriet – ein anderer Ort, andere Umstände, andere Mitwirkende, gleiches Ergebnis. Seinerzeit waren Eitelkeit und Selbstüberschätzung noch nicht so weit in mir gediehen, als daß ich mein Frönen der Subjektivität bereits an dieser (Internet-)Adresse auf die Menschheit losgelassen hätte, aber nichts desto trotz finden sich nach kurzer Suche in einem Notizbüchlein von 2010 folgende Zeilen:

„Reihe 22: deutlich höher als bei Martin/Tippett, dennoch famose Akustik. Etwas leiser, aber tadellos durchhörbar und klangschön. Man vernimmt selbst das „Spuckepusten“ der Trompeten. Chor, Orchester und Solisten lieferten eine gute, professionelle Leistung, Dirigat wie’s sein soll, vielleicht eine Spur zu kuschelig. Von den Solisten bleibt nur die Altistin im Langzeitgedächtnis (Agnus Dei!). Hornist mit Naturhorn zweifelhaft. Das Werk: ich spreche es einfach mal aus: bis auf wenige Stellen haut mich die Messe nicht um. Es zieht sich gewaltig, vieles hört sich für mich (aufs erste Hören) gleich an. Ich hoffe, ich tue dem Werk Unrecht und harre auf einen weiteren Versuch. Schade.“

Besonders erschreckend ist der Hinweis auf das Agnus Dei, weil dieser Teil auch dieses Mal der einzige wirkliche Lichtblick der gesamten Aufführung für mich darstellte – ohne daß ich mich etwa an mein Geschreibsel von vor vier Jahren erinnert hätte. Herr Potters Vortrag ließ mich – auch Kraft seiner ungemein klangschönen und ausdrucksstarken Stimme – kurz vor Toresschluß einmal die Art von Intensität erleben, wie ich sie ansonsten schmerzlich vermisst habe. Was rein gar nichts mit dem Vortrag und den Fähigkeiten der anderen Beteiligten zu tun hatte, davon gehe ich mittlerweile aus. Der schwarze Peter lag nicht beim Chor oder den Solisten, weder beim Orchester oder Herrn Hengelbrock, auch nicht bei der Raumtemperatur im Saal oder der Mondphase, sondern einzig und allein bei Bach selbst – oder eben meinem Banausentum, das vor dergestaltiger Vollkommenheit auch im zweiten Versuch kapitulierte.

Doch halt, ich lasse mir meinen Bach nicht durch die eigene Blödheit madig machen. Den Bach der Passacaglia und Fuge in c-Moll, den Bach der Sonaten und Partiten für Violine, den Bach der Suiten für Cello, den Bach über den mich ein Glenn Gould immer wieder staunen läßt. Aber vielleicht hänge ich auch einfach nur im instrumentalen Bach fest und es besteht noch Hoffnung. Ob größtes, allergrößtes oder am Ende doch nur halb- oder mittelgrößtes – es wird schon was dran sein. Ich bleibe auf der Suche und offen für Anregungen Angekommener.