20. Dezember 2019

Orgel pur – Iveta Apkalna.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 4, Platz 8



César Franck – Pièce héroïque h-Moll M 37
César Franck – Prélude, fugue et variation h-Moll M 30 op. 18 /
6 Pièces d'Orgue
Louis Vierne – Sinfonie Nr. 3 fis-Moll op. 28 für Orgel (Auszüge)

(Pause)

Camille Saint-Saëns / Alexandre Guilmant – Marche héroïque
Es-Dur op. 34
Charles-Marie Widor – Sinfonie Nr. 5 f-Moll op. 42/1

Zugabe:
Naji Hakim – Étude-Caprice »alla russa« / aus:
Quatre Ètudes-Caprices pour Orgue pédalier solo

(Iveta Apkalna – Orgel)



Einführung wie immer sehr interessant, obgleich sich Herr Cornelius in der Absicht ein klein wenig verfranste, die Besonderheiten der Französischen Orgelmusik des 19. Jahrhunderts und gleichzeitig die Elbphilharmonie Orgel möglichst umfassend vorzustellen. Ich fand’s gut, auch wenn es schon sehr ins Detail ging.

Franck: Piece Heroique immer noch ein Knaller. Vielleicht hier bezogen auf die Dynamik nicht ganz so differenziert präsentiert, wie ich es kennengelernt habe, aber definitiv mit dem nötigen Schmackes am Schluss.

Vierne: Der bekannte Unbekannte – hab ich das Stück etwa auf CD, oder nur andere Werke von ihm? Unbedingt auch den ersten Satz noch mal anhören. Der zweite keck, verschroben, tänzerisch, mit Walzerelementen, die entfernt an Ravel erinnern – schräg. Der dritte sehr intensiv, Parallelen zu Wagner, Liebestod-Steigerung – heftig. Der vierte virtuos-wuchtig, die Rhythmik nicht immer ganz klar zu erfassen, trotzdem sehr beeindruckend.

Saint-Saens: Der Marsch pustet mit seiner forschen, dahinpreschenden Art die Pausenlethargie hinfort, dabei überaus eingängig. Der ruhige Mittelteil hält dann delikat inne, ehe der Drive des Anfangs zurückkehrt und das Stück brillant beschließt. Könnte auch einer Opernszene à la „Einzug der Gäste“ sehr gut zu Gesicht stehen.

Widor: Über die abschließende Toccata ist bereits alles gesagt worden, ich persönlich höre die Sinfonie am liebsten in Gänze. Mein Lieblingssatz ist vielleicht der erste, wie es sich in Variationen immer weiter entwickelt und türmt. Besonders die Verschiebungen in der Harmonik gegen Ende bereiten mir jedes Mal Gänsehaut. Das anschließende Allegro cantabile schafft mit seiner nachdenklich-wehmütigen Stimmung einen schönen Kontrast zur Wucht des Kopfsatzes. Sein Mittelteil öffnet dann noch mal eine ganz andere Tür im Kosmos – gütig, lieblich, in sich ruhend, mit der Assoziation von Vogelrufen. Das Andantino verströmt für mich etwas Stolzes, Erhabenes, die Steigerung in seinem schnellen Teil ist wie ein Weckruf. Das Adagio wiederum verströmt Wärme und Geborgenheit pur – gewisse Karfreitagszauber-Vibes sind nicht von der Hand zu weisen. Und die Toccata – ist eben die Toccata. Besser kann man ein solches Werk und einen solch gelungenen Orgelabend wohl nicht beschließen.

Doch halt, Frau Apkalnas Zugabe hatte es ebenfalls in sich – in den Füßen, um genau zu sein. Der Saal tobte ganz zu Recht.

12. Dezember 2019

NDR Elbphilharmonie Orchester – Krzysztof Urbański.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 4, Platz 19 



György Ligeti – Atmosphères
Jean Sibelius – Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 47
(Joshua Bell)

Zugabe des Solisten:
Frédéric Chopin – Nocturne Es-Dur op. 9/2

(Pause)

Mieczysław Weinberg – Sinfonie Nr. 3 op. 45



Zur Abwechslung mal ein anderes Gesicht bei der Einführung – kein Wunder, ist es doch meine erste NDR-Einführung seit Ewigkeiten. Herr Hodeide gibt zu jedem Werk eine Kurzvorstellung des Komponisten inklusive zeitlicher Einordnung sowie knapper Strukturanalyse. In dieser beleuchtet er neben den Aufbau auch kompositorische Besonderheiten, die dazu herangezogenen Musikbeispiele sind schlüssig gewählt und setzten den wohl eher wenigen vertrauten Weinberg in Verwandtschaft zum allbekannten Schubert. Darüber hinaus machen sie Lust auf das Werk, ohne zu viel vorwegzunehmen. All das präsentiert Hodeige ohne Umschweife, einzig vielleicht eine Spur zu mechanisch, wobei er beispielsweise Fachtermini stets im gleichen Atemzug erläutert – hier und da eine kleine Anekdote würde dem Ganzen wahrscheinlich gut tun – Stichwort persönliche Note.

Ligeti: Hoffnungsschimmer – Top-Klang, sehr kluge Dynamikregelung, generell sehr leise, gefällt mir ausgesprochen gut (Ohne Metrum kann Urbanski ...), Intonation weitgehend rein, das An- und Abschwellen funktioniert tadellos. Respekt, sehr verblüffende Wirkung. Für solche Werke wurde die Elbphilharmonie gebaut, leider gibt es kein adäquates Publikum dafür.

Sibelius: Klanglich weiterhin prima, auch hier sehr leise Grundlautstärke. Aber die Interpretation leider spannungslos. Es zieht sich – das sollte es nicht. Bell auch nicht so mein Fall: zu wenig Feuer, recht brav, nicht immer intonationsrein. Zugabe spricht Bände: Schmalz pur mit seiner eigenen Chopin-Version (Nocturne): Kitsch, süßlich-klebrig und ein bisschen Lamettagirlanden zum Schluss – und alle sind begeistert. Fast wie bei Rieu.

Weinberg: kein abschließendes Urteil. Sätze 1 und 2 aufs erste Hören wenig beeindruckend – gefälliger Schostakowitsch. Eingängig, lieblich, weniger komplex – bisschen Unterforderung. Adagio-Beginn auch eher seicht, dann aber mit deutlich intensiverer Entwicklung. Düsterer, spannungsgeladen. Finale auch kein happy Rausschmeisser, irgendwie ernster, fordernder. Hier und da interessante Instrumentierung. Der Klang überzeugt auch hier, einzig das Dirigat sieht schlimm aus, funktioniert aber.

Fazit: Ein ganz netter Abend.

4. Dezember 2019

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen –
Paavo Järvi. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 3, Platz 6 



Johannes Brahms – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 d-Moll op. 15 
(Igor Levit)

Zugabe des Solisten:
Franz Schubert – Allegretto As-Dur aus: Moments musicaux D 780

(Pause)

Joseph Haydn – Sinfonie Es-Dur Hob. I/103 »Mit dem Paukenwirbel«

Zugabe:
Ludwig van Beethoven – Allegro molto e vivace aus:
Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21



Herrn Levit beim Klavierkonzert gewissermaßen auf dem Schoß, bzw. als staunendes Äffchen auf der Schulter zu sitzen, mag den akustischen Gesamteindruck vielleicht in subjektivere Gefilde gelenkt haben als sonst, erwies sich jedoch angesichts der sich dadurch ergebenden fokussierten Innensicht auf sein Ausnahmekönnen als äußerst gute Wahl. In Kombination mit Järvis gewohnt knackiger Lesart, durch die er mit seiner Kammerphilharmonie an gleicher Stelle Brahms bereits einer symphonischen Frischzellenkur unterzog (Link), wurde auch diese verkappte Sinfonie mit obligatem Klavierpart zur energischen Offenbarung.

Wilde Entschlossenheit, mürrischer Ernst, ja Verzweiflung wechseln sich im Kopfsatz fast sprunghaft mit zarter Wehmut und Versonnenheit ab. So extrem als emotionale Achterbahnfahrt habe ich diesen Satz wohl noch nicht erlebt – ein ausgesprochen mitreißender, berührender Ansatz. Das Konzept starker Kontraste im Ausdruck setzt sich dementsprechend auch satzübergreifend fort, vom kolossalen Ersten über den kontemplativen Zweiten zum furiosen Kehraus des Finales. Wenn es einem dann noch vergönnt ist, von der Hingabe und Leidenschaft, die Levit in dieses Werk investiert, aus nächster Nähe beschienen zu werden, weiß man, spürt man, wie viel diese Musik zu geben vermag. Die Schubert-Zugabe ist wie ein süßes Versprechen auf weitere wunderbare Klavierabende.

Nach der Pause „lediglich“ den Haydn zu bekommen, hatte mich im Vorfeld ehrlicherweise nicht unbedingt in Verzückung versetzt. Aber selbst ein Banause wie ich kommt nicht umhin, die Klarheit, die Frische, den Verve im Umgang mit dieser Musik dankbar zur Kenntnis zu nehmen, welche Järvi dem alten Schinken entlockt. Überhaupt Järvi, der Schelm – macht Faxen, blickt angesichts imitierter Vogelrufe in der Partitur scheinbar irritiert gen Saaldecke, dreht sich mit hochgezogener Augenbraue zum Publikum um. Und das alles – wie auch immer er das macht – ohne aufgesetzt oder affig zu wirken. Gewissermaßen spiegelt er nur das Gewitzte Haydns, ohne jedoch aus dessen Musik eine Show zu machen. Eine pfeilschnelle Beethoven-Zugabe beschließt diesen ungetrübt labenden Abend.

9. November 2019

Samson et Dalila – Marie Jacquot.
Opernhaus Düsseldorf.

19:30 Uhr, Orchestersessel links, Reihe 5, Platz 151



Fünf Gründe, warum Samson et Dalila an der Deutschen Oper am Rhein eine absolute Spitzenproduktion darstellt, die jeder besuchen sollte, der das Musiktheater liebt.

1. Joan Anton Rechi ist ein aufmerksamer Leser des Librettos. In der Regel befasst sich die Diskussion über „moderne“ und „klassische“ Inszenierungen ja leider selten damit, welche Rolle die Regie ausfüllen möge, sondern erschöpft sich eher in einer persönlichen Ausstattungsaversion, sobald Kostüme und Kulissen nicht der „richtigen“ Epoche entstammen. Wobei es natürlich um die historisch informierte Aufführungspraxis der mythischen Vorzeit eines Ringes ähnlich mau bestellt ist wie um die Praktikabilität oder gar Sinnhaftigkeit einer archäologisch unterfütterten Ausgestaltung eines alttestamentarischen Geschehens, das unter den ästhetischen Fittichen des ausgehenden 19. Jahrhunderts seine Prämissen verliehen bekommen hat.

Umso erfreulicher, dass sich Herrn Rechi – wie bereits sein Kollege Hilsdorf mit dem grandiosen Ring am selben Hause (Link) – hier lieber eingängig mit dem Inhalt beschäftigt hat und dabei zuerst einmal ernst nimmt, was da ist – den Text als Grundlage für (Personen-)Regie. So gibt es unzählige Momente, in denen Rechi, das Libretto als Basis für grundplausible und damit äußerst dienliche Umsetzungen nimmt, gerade auch im Sinne der Verständlichkeit. Das beginnt mit der simplen wie klaren Charakterisierung der Hebräer als (zeitgenössische) Sklaven, also Arbeiterkaste, die im Dienste der (finanziell) Mächtigen ihre Fron zu verrichten haben und von ihnen (ebenso finanziell) abhängig sind. Mir persönlich ist es da inhaltlich theoretisch fast Wurscht, ob hier Grubenarbeiter von Maschinengewehren im Anschlag in Schach gehalten werden oder ein Zug Belumpter aus einem Sandalenfilm entsprungen von Speeren getriezt wird – aber eben nur fast, weil Letzteres in den allermeisten Fällen schnell ins museal Unpersönliche abgleitet und oft den emphatischen Zugang verbaut. Oder anders formuliert: ein Theater, in dem nur „schön“ oder „abstrakt“ gelitten, geliebt, verraten und gestorben wird, bringt sich meiner Ansicht nach um das, wozu Theater in der Lage ist – eben mehr, als ein paar nette Stunden der Zerstreuung und Entspannung zu bieten.

Aber ich schweife ab. Wenn die Hebrärer Samsons prophetischen Auftritt mit sichtbarem Unverständnis, ja harter Ablehnung reagieren, ist dies nichts weiter als eine konsequente Ausgestaltung ihrer Gesangszeilen. Oder in der grandiose Szene, als die Philister, von den siegreichen Hebräern geschockt, regelrecht panisch ihr Geld zusammenraffen, lässt sich diese Hysterie ebenfalls aus dem fast schon bizarr anmutenden Text an dieser Stelle ableiten – was sind das denn für fragile Herrenmenschen, die gleich „ihre Frauen verlassen“ und „in die Berge“ flüchten wollen? Besonders interessant wird es, wenn Rechi etwas hinzufügt, dass auf den ersten Blick gar nicht aus dem Libretto entwickelt scheint. So ist Dalila eingangs des zweiten Aktes hier keinesfalls allein, sondern vergnügt sich noch ein wenig mit einem der Philster-Schergen, mit dem sie offenbar das Nachtlager geteilt hat. Zum einen unterstreicht das natürlich die Wirkung, die Dalila ganz eindeutig auf alle Männer hat – den Hohepriester inklusive, wie wir wenig später in dem Bild erfahren werden. Zum anderen bietet die Anwesenheit des Lovers Frau Zaharia die Möglichkeit, ihren sonst nur versungenen Hass auf Samson stellvertretend physische Gestalt zu verleihen: Während sie phantasiert, den Helden „auf den Knien“ sehen zu wollen, würgt sie das arme Philisterlein schon mal mit der Krawatte, bis er auf selbigen vor ihr um sein Leben ringt. Womit wir bei diesem Kniff eigentlich schon beim zweiten Grund angelangt sind:

2. Die Regie erkennt die Oratorienhülle des Werkes und bannt die damit verbundene Gefahr allzu statisch wirkender Szenen mittels intelligenter Personenregie. Wenn man gemein ist, könnte man sagen, dass die Oper kaum passiver starten könnte: Die Hebräer treten auf und Beklagen ihr Schicksal. Das tun sie eine ganze Weile, glücklicherweise mit einer alles andere als kalt lassenden Musik (Spoiler zu Grund Nr. 4 beabsichtigt), aber szenisch ist das wenig packend angelegt. Rechi und sein Team nutzen den Auftritt des Chores jedoch, das Unterdrückte Volk auch dramaturgisch glaubhaft einzuführen – die verschmutzten (Gruben-)Arbeiter kehren erschöpft von ihrer harten Sklavenarbeit zurück und legen ihr Arbeitsgerät im Gegenzug für einen spärlichen Lohn nieder, den sie von den minutuös alles überwachenden Philister-Aufsehern erhalten. Dabei agiert jeder Chorist als Individuum, Mikrodramen im Wechselspiel zwischen ihnen und den Peinigern, die die Auszahlung klar als Machtbeweis und Demütigung aufziehen, spielen sich ab und füllen das Tableaux mit narrativer Handlung. Eine andere ausgedehnte Chorszene, die sonst rein kommentierenden Charakter hätte, findet sich beim Lobgesang der siegreichen Hebräer. Hat sich der Informationsgehalt relativ schnell vermittelt, stiftet die Idee, parallel dazu dem erschlagenen Feind ein würdiges Begräbnis zu schenken, eine kurze Atmosphäre der Güte und der Utopie von Frieden, die sehr ohrenfällig mit dem Idiom der sanften Musik in Einklang steht.

Aber wie schon mit der morgendlichen Dalila-Szene angedeutet, kommt diese sensible Integration sinnhafter Handlungen nicht allein den offenkundigsten Oratorienrudimenten, den Chorstellen, zu Gute. Das ganze Kammerspiel des zweiten Aktes, vor allem die Verhandlungen zwischen dem Hohepriester und Dalila, hätte ohne die individuelle szenische Vertiefung der Charaktere deutlich dröger ausfallen können. Hier die Femme Fatale, die als Anbieterin käuflicher Liebe gleichzeitig von der Geldfixiertheit des Ober-Dagoners angewidert ist, um dann doch aus persönlichen Rachegelüsten mit ihm zu paktieren, dort der besagte Vorstandsvorsitzende des Gold-Kultes, der über seine kaum zu unterdrückende Begierde auf sein erkorenes Lustwerkzeug fast den eigentlichen Antrieb des angestrebten Machterhaltes zu vergessen scheint. Da liegt ein wahrlich unheilvolles Knistern in der Luft.

3. Die Produktion liefert eine starke Interpretation der Geschehnisse, die das Potenzial des Stoffs über die individuelle Tragödie hinaus zum allgemein gültigen Lehrstück freilegt. Im Kern geht es Rechi um mehr als den Fall des biblischen Helden, es geht um die Mechanismen eines heute mehr denn je aktuellen Machtgefüges: Geld ist Macht, vielmehr ist Geld hier gleich Gott, wie es im ekstatischen Finale äußerst plakativ auf die Spitze getrieben wird – einem bizarren Amalgam aus Unternehmens-Convention, traditioneller christlicher Messe und Ami-Sekten-Budenzauber. Die Unterdrückung durch die reichen Pharisäer; das Thema der Prostitution und die Scheinheiligkeit, wie ihr begegnet wird – stellvertretend verkörpert durch den alten Hebräer, der die Dienste von Dalilas Damen ungeachtet seiner mahnenden Worte in Anspruch nimmt; die als Tarantino-Zitat inszenierte Folter und Verstümmelung Samsons, der darin eine Parallele zur Passion Jesu erfährt – all das gipfelt in jenem erschreckenden Versatzstück-Messe-Zerrspiegel. Dalila als Medium des verzückten Rausches, Samsons Augen als Reliquien des Kultes, und alles wird durch die Macht des Geldes zusammengehalten, ob als Kollekte eingezogen oder schließlich als Kommunion im wahrsten Sinne verinnerlicht. Diese Umformung der vertrauten Elemente unserer westlich-christlichen Kultur hat somit eine ungeahnt eindringlichere Wirkung, als irgendein pseudo-exotischer Mummenschanz. Zumal das orgiastische ja deutlich in der Musik zu vernehmen ist.

Womit wir auch schon bei 4. wären – der hohen musikalische Qualität des Werkes selbst. Eingängigkeit, Melodienseligkeit, Klangfarbenreichtum – Saint-Saëns Werk bringt alles mit, um bereits bei der ersten Begegnung großen Eindruck zu hinterlassen. Und ich möchte betonen, dass sich diese Qualität nicht etwa in den bekannteren Solostücken erschöpft, namentlich der überaus bekannten Arie Dalilas, mit der sie Samsons Widerstand letztlich bricht – ohne Zweifel ein Höhepunkt der Oper – sondern gleich vom Start weg mit der Introduktion und dem Chor der Hebräer gegeben ist und bis zur überbordenden Harmonik des Finales gehalten wird. Ich mag den Komponisten des Danse macabre, des Marche héroïque oder der Orgelsinfonie sehr gern, heute kam ein weiterer, gewichtiger Grund dafür hinzu.

5. die Qualität der Beteiligten. Die Düsseldorfer Oper hat einfach eine gute Crew. Ramona Zaharia, die ich bislang nur in der kleinen Partie als Rheintochter im Hilsdorf-Ring erlebt hatte, füllt die co-titelgebende Figur nicht nur bezüglich der bereits angesprochenen darstellerischen Tiefe in der gebührenden Ambivalenz zwischen hassgetriebener Energie und sinnlicher Erotik aus, sondern weiß ihrem Tun Kraft ihrer in jeder Facette ausdrucksstarken, betörenden Stimme gleichermaßen akustisch Gestalt zu geben. Ihre Ring-Kollegen Michael „Siegfried“ Weinius und Simon „Wotan“ Neal glänzen ihrerseits als zerrissener, in die Rolle des Helden gedrängter Samson und verschlagener, bigotter Oberpriester, wobei man insbesondere letzterem einfach gern allein schon beim Schauspielen zusieht. Auch kleinere Rollen wie der alte Hebräer mit Sami Luttinen (vormals Hunding) sind gut besetzt, wobei der heimliche Hauptdarsteller – der Chor – ebenfalls keine Wünsche offenlässt. Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Marie Jacquot tragen ihren Teil dazu bei, diese traumhaft schöne Partitur zum Strahlen zu bringen.
 

Samson et Dalila
Oper in drei Akten
Musik – Camille Saint-Saëns
Text – Ferdinand Lemaire

Musikalische Leitung – Marie Jacquot
Inszenierung – Joan Anton Rechi
Bühne – Gabriel Insignares
Kostüme – Mercè Paloma
Licht – Volker Weimhart
Chor –Gerhard Michalski
Dramaturgie – Anna Grundmeier

Dalila – Ramona Zaharia
Samson – Michael Weinius
Oberpriester des Dagon – Simon Neal
Abimélech – Luke Stoker
Ein alter Hebräer – Sami Luttinen
Kriegsbote – Luis Fernando Piedra
1. Philister – David Fischer
2. Philister – Luvuyo Mbundu

Chor der Deutschen Oper am Rhein
Statisterie der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker

29. Oktober 2019

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks –
Mariss Jansons. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Wolfgang Amadeus Mozart – Konzert für Klavier und Orchester
A-Dur KV 488 (Rudolf Buchbinder)

Zugabe Solist:
Johann Sebastian Bach – Gigue aus: Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93

Zugabe Orchester:
Dmitri Schostakowitsch – Zwischenaktmusik aus der Oper »Lady Macbeth von Mzensk«



Endlich mal Mozart, den man gebrauchen kann – zumindest der langsame Mittelsatz liefert mit seiner Melancholie ein erfreuliches Gegengewicht zum gefälligen Virtuosentum der ihn umschließenden Nachbarn. Als Appetizer durchaus aushaltbar. Buchbinders Zugabe schien dann eher der Schublade Koordinations-Demonstration entsprungen. Bisschen nüchtern, aber ok. Das alles war ohnehin nur ein freundliches Warmwerden für Jansons und seine Truppe, um den Hauptgang nach der Pause zu servieren – Schostakowitschs Zehnte.

Was für ein Kopfsatz! In seinem stetigen Aufbau, der immensen Komplexität der Struktur und dem damit verbundenen Anspruch an die Konzentrationsfähigkeit kaum steigerungsfähig, aber in solch zwingender Darbietung einfach unbeschreiblich erhebend wie erschütternd. Die kurze Scherzo-Blendgranate im Anschluss fast wie das Drücken eines Reset-Knopfes der Rezeptoren. Elementar, unentrinnbar. Die folgenden beiden Sätze verlangen dem Hörer wieder einiges ab, auch das Finale sträubt sich lange gegen die erlernte Apotheose, liefert mit seinem skandierten D-Es-C-H eher trotzigen, denn befreienden Jubel.

Was für ein Werk, was für ein persönliches Bekenntnis. Stalin hin oder her, Schostakowitsch löst hier in jedem Fall große Ventile der Ohnmacht und der Ungewissheit. Die Interpretation durch Jansons und seine Münchner besitzt dabei wieder einmal absoluten Referenzcharakter. Es ist die pure Wonne, diesem Fluss der Unerbittlichkeit in Vollendung zu folgen, mit dem Sog hinfortgerissen zu werden. Das Konzert als intellektuelle wie physische Erfahrung. Das kompromisslose Lebendigmachen einer Partitur, die keine Kompromisse kennt. Die vielleicht beste Leistung einer an Höhepunkten wahrlich bereits reichen Saison. Einfach immer wiederkommen!

21. Oktober 2019

Royal Stockholm Philharmonic Orchestra –
Sakari Oramo. Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Katarina Leyman – Solar Flares

Felix Mendelssohn Bartholdy – Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64 (Alina Pogostkina)

Zugabe der Solistin:
Darius Milhaud – Suite op. 157b für Violine, Klarinette und Klavier

(Pause)

Edward Elgar – Sinfonie Nr. 1 As-Dur op. 55

Zugabe des Orchesters:
Edward Elgar – Pomp and Circumstance / Fünf Militärmärsche für Orchester op. 39 Nr. 1



Leyman: Sehr gefällige, tonal gefestigte Programm-Musik, der nur die Abwesenheit von nennenswerter Melodik den Eintritt in die Eumel-Gunst verwehrt. Orchesterklang wirklich beeindruckend. Facetten, Details, butterweiche Blechglissandi ohne Ansätze etc.

Mendelssohn: Diese Musik kann ich nur in Interpretationen ertragen, die aufs Ganze gehen, Kante, ja am besten spröden Verve an der Grenze zur Aggressivität reinbringen. Das war heute leider nicht der Fall. Zu konventionell, zu vorhersehbar – „Dramatik“ vom Reißbrett. Frau Kopatchinskaja, übernehmen Sie! Pogostkina mit durchaus schönem Ton, aber wenn dann nur fürs Sanfte zu gebrauchen. Oramo blass, und dann stets diese ekelhafte gemütliche Heiterkeit des Werks. Befremdlich: zweiter Satz mutiert durch ein recht schnelles Tempo und gebundene Phrasierung regelrecht ins wogend Tänzerische, daher null Emphase. Zugabe: Irgendein Satz aus irgendeiner Suite – ein nettes, unerhebliches Duett mit dem Solo-Klarinettisten. Passt irgendwie dazu.

Elgar: Nicht mein Stück (leider, mag ich doch Elgar und hatte ich mich ehrlicherweise einzig auf diesen Programmpunkt gefreut), aber Oramo ist doch wohl kein Langweiler. Problem: Mir gefällt, was er macht, mir gefällt, was Elgar macht – nur leider nicht woraus Elgar es macht. Das die Sinfonie durchziehende Motto-Thema finde ich nur semi-spannend, was im Wesentlichen das weitere melodische Material meist ebenfalls betrifft (Adagio-Thema). Trotzdem ein interessantes Stück, dem ich sicher noch weitere Chancen einräumen werde. Ein Bombenfinale (auch hier: bezogen auf Instrumentation und Verarbeitung, weniger auf das Verarbeitete), und Stockholm mit unbestreitbarem Weltklassesound. Vgl. allein die Hörnersektion mit den traurigen NDR-Ergebnissen letzte Woche – seufz.

Fazit: Aus einer durchwachsenen Erfahrung sticht die überraschende Entdeckung eines absoluten Spitzen-Klangkörpers heraus.

17. Oktober 2019

NDR Elbphilharmonie Orchester –
Herbert Blomstedt. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 4, Platz 19



Joseph Haydn – Sinfonie D-Dur Hob. I:104 „Londoner“

(Pause)

Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 6 A-Dur



Also bis auf den Klangeffekt, den die tiefen Hörner zu Beginn des Finales in Kombination mit den über sie hinweg tanzenden Figuren der Streicher und Holzbläser schaffen, bietet Haydns Letzte mir leider bitter wenig. Dabei möchte ich diesem Komponisten gern gewogen sein, wo ich mich bei Mozart schon fasst mit meiner Gleichgültigkeit abgefunden habe. Auf theoretischer Basis kann ich durchaus nachvollziehen, wie die Sinfonie von für ihre Zeit sicher interessanten Ideen und Eigenheiten durchzogen ist, die letztlich auch Haydns Handschrift ausmachen. Und wahrscheinlich liegt das Hauptproblem in meiner Aversion gegen diesen spezifisch unbekümmert heiteren Ton, der weite Teile des Werkes dominiert.

So oder so, es hilft nichts – der Einstieg in den Abend gerät heute für mich zur Geduldsprobe. Daran ändert auch Blomstedts Zugang wenig, dem eine frische, durchaus lebendige Sicht auf das Ganze nicht abzusprechen ist. Der NDR klingt von meinem umgetopften Aboplatz aus sehr honorig, wenn auch gelegentlich wahrgenommene oder eingebildete Verschwommenheiten in der Präzision des Zusammenspiels ein wenig das Bild trüben. Randnotiz: Das NDR Abopublikum scheint zum Klischee des Altersdurchschnittes bei klassischen Konzerten noch einmal eine Schippe draufzulegen, oder bilde ich mir das ebenfalls nur ein?

Der erste Satz von Bruckners Sechster geht mehr oder weniger als Gewöhnungsphase für den NDR drauf, dessen Ausbaufähigkeit in Sachen Klang und Technik von diesem schönen Platz tatsächlich noch etwas unschöner zu Tage treten. Spätestens jedoch mit Beginn des wahrlich nichts weniger als himmlisch zu bezeichnenden Adagios übernimmt das Phänomen Blomstedt das Kommando über die Wirksamkeit dieser im allgemeinen Konzertzirkus maßlos unterschätzten Sinfonie.

Wie der Maestro sanft und mit genau dem richtigen Atem das Geflecht tastend, aber unaufhaltsam zur Entfaltung bringt. Es mag nicht Bruckners gewaltigster langsamer Satz sein, aber mit Sicherheit einer seiner schönsten. Allein der Einsatz der Streicher nach der Horngruppe gehört zum Besten aus der Feder des Kathedralen-Sinfonikers, zum Besten überhaupt. Es kommt natürlich heute noch hinzu, dass ich genau dieses Adagio nach Mahlers 9. wirklich gebraucht habe – Trost, ehrlicher, gütiger Trost, nach dem großen Fragezeichen. Aber auch jenseits des Zustandes, der die Zeit anzuhalten scheint, hat Blomstedt heute die richtigen Mittel, mir diese Sinfonie noch einmal mehr als Herz zu legen.

Das Scherzo keck und zackig – einfach das perfekte Timing, ergo eine perfekte Interpretation. Und schließlich der letzte Satz: vielleicht nicht das Überfinale, aber ebenfalls auf seine Art vollkommen. Besonders anrührend dabei für mich die immer wiederkehrenden „Mild und leise“-Zitate – hier jedoch eher Güte und Wärme denn Weltabschied verströmend. Dennoch ein Satz der Brüche, der Vielseitigkeit mit seinen stetigen Stimmungswechseln. In Blomstedt fand sich exakt der richtige Anwalt für diese Musik, das Konzert brachte für mich noch einmal eine (eigentlich peinlich einzugestehende) enorme Aufwertung der Sechsten, die bei mir unsinniger Weise auch immer etwas unter dem Radar lief. Doch wie heißt es so schön: besser spät als nie.

7. Oktober 2019

City of Birmingham Symphony Orchestra –
Mirga Gražinytė-Tyla. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 1



Benjamin Britten– Sinfonia da Requiem op. 20

(Pause)

Michael Tippett – A Child of Our Time / Oratorium für Soli, Chor und Orchester

City of Birmingham Symphony Orchestra
CBSO Chorus
Claire Booth – Sopran
Felicity Palmer – Alt
Joshua Stewart – Tenor
Brindley Sherratt – Bass
Dirigentin – Mirga Gražinytė-Tyla



Frau Gražinytė-Tyla eilt ja aktuell ein ziemlicher vielversprechender Ruf voraus, da war mit Brittens „Sinfonia da Requiem“ im Programm die Gelegenheit gegeben, ihren Stil anhand eines sehr vertrauten, vielmehr innig verehrten Werkes zu überprüfen. Da ist es natürlich weder unwahrscheinlich noch abschließend aussagekräftig, enttäuscht zu werden. Frau Gražinytė-Tyla spult die Partitur keinesfalls herunter (was ich wohl keinem Dirigenten verzeihen könnte), sondern bringt im Gegenteil ihre Version der drei Sätze zur Entfaltung – die dummerweise nur bedingt mit meiner Sicht auf das Stück korrelieren. Britten selbst hat da ja auch bereits gut vorgelegt, seine Einspielung darf getrost als Referenz angesehen werden, an der man erst mal vorbeikommen muss.

Das gelang heute für meine Begriffe nicht: Während der erste Satz, die Wehklage, etwas zu glatt und getragen, ja teilweise schleppend vorgetragen wurde, legte die Dirigentin für das tröstliche Finale, gewissermaßen die Verklärung, ein deutlich zu schnelles Tempo an den Tag, welches die Phrasierung der wirklich himmlischen Melodiebögen fast schon hastig und kurzatmig vollziehen ließ. Dem aufgewühlten, zornerfüllten Mittelteil fehlte es mitunter an Schärfe, wobei ich mit diesem Satz noch am ehesten mitgehen konnte. Das Orchester aus Birmingham klingt gut bis sehr gut – der Eindruck früherer Gastspiele bestätigt sich hier.

Nun gut, für die Nicht-Britten-Fanboys unter uns stand ja der Hauptgang noch bevor, in Form von Tippetts großem Oratorium. Um es kurz zu machen: Ich mag das Stück nicht sonderlich. Habe es vor Jahren einmal live gehört, das müsste im Gasteig gewesen sein. Heute der zweite Anlauf. Meine Probleme mit dem Werk sind die gleichen geblieben: Einerseits finde ich weder Tippetts Harmonik noch Melodik besonders fesselnd, zu konservativ tonal ist mir das. Da bin ich durch Britten und Schostakowitsch verdorben. Andererseits befremdet mich die eigentliche Haupttat des Komponisten, die die Partitur zu etwas fraglos Besonderen macht, bis ins Mark – die Integration der Spirituals. Ich möchte nicht abstreiten, dass ihre Einbindung mit größter Kunstfertigkeit vollzogen ist, dennoch bekomme ich dieses „Crossover“ aus Bach 2.0 und den Slavengesängen nicht unter ein Ohr. Wobei ihr unmittelbarer Wiedererkennungswert sicher zur Massentauglichkeit des komplexen Ganzen nicht unwesentlich beiträgt.

Ich habe dem CBSO Chorus so oder so gern und gebannt zugehört, und auch die Solisten ließen kaum zu Wünschen übrig. Einzig die Sopran-Einspringerin Claire Booth hatte hier und da offenbar Probleme mit der Höhe bzw. den Spitzentönen, wobei ich ihre Stimme an sich als sehr passend empfunden habe. Meine beiden Favoriten waren Joshua Stewart, der mit absolutem Feuereifer bei der Sache war und über einen wirklich strahlenden Tenor verfügt, sowie die Altistin Felicity Palmer, die sich auch mit ihrem leicht fortgeschrittenen Alter eine unglaubliche stimmliche Frische und Präsenz bewahrt hat. Brindley Sherratt komplettierte mit vollem, sonoren Bass das wunderbare Ensemble.

Fazit: Am Ende vielleicht nicht der richtige Rahmen, um die junge Dirigentin kennenzulernen, aber sicher kein vertaner Abend.

1. Oktober 2019

Philharmonia Orchestra – Esa-Pekka Salonen.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 9 D-Dur


Mahlers Neunte – in schöner Regelmäßigkeit ein Garant für Hyperventilation und Herzklabaster, eben was sich halt so Schönes und Erbauliches aus Musik mitnehmen lässt. Nach den letzten beiden Volltreffern mit Jonathan Nott (Link) und dem mittlerweile leider verstobenen Jeffrey Tate (Link), beide auch schon wieder einige Jahre her, sollte sich diese Spielzeit gleich mehrfach die Gelegenheit ergeben, mich meiner absoluten Lieblingssinfonie in der Elbphilharmonie auszusetzen. Neben dem Philharmonia Orchestra haben noch der SWR mit Currentzis, das Royal Concertgebouw Orchestra, die San Francisco Symphony sowie das NDR Residenzorchester die Neunte als Beitrag für Hamburg im Gepäck – die reinste Weltschmerzinflation. Da will es wohl überlegt sein, wie oft und mit wem man sich in diesen emotionalen Abgrund stürzt.

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra sind eine Kombination, auf die ich seit jeher schwöre. Ob Bruckner-Entschlackung, Dampfhammer-Sacre oder subtiler Sibelius – die Liste außergewöhnlicher Konzerterlebnisse wächst mit den Jahren. Heute sollte sich keine Ausnahme davon einreihen. Bereits nach dem gewaltigen Kopfsatz war ich mehr als bedient. Brutaler, zerrissener, erdrückender kann man einem dieses heißgeliebte, halbstündige Monstrum aus Seufzermotiven, Erinnerungsfetzen und Niederschlägen kaum entgegenschleudern. Der eigentliche Clou des Abends war jedoch fraglos die Präsentation der beiden Mittelsätze. Im Nachhinein hätte ich mir vielleicht denken können, das Salonen gerade diese grotesken Ruinen des Tänzerischen besonders liegen müssen, ist er doch immer ein Experte für alles rhythmisch Forcierte gewesen.

Diese Schärfe, diese Härte, diese elementare Wucht einer sich unbarmherzig in Auflösung befindlichen Musik – erschreckend und faszinierend zugleich. Ich muss Herrn Salonen in gewisser Weise dankbar sein, dass seine Interpretation des ins Unendliche hinausgezögerten, selbstzerfleischenden Abschieds vom Leben und der Welt, des ins Mark schneidenden Schluss-Adagios, vergleichsweise milde, fast schon nüchtern gefasst ausfiel, ansonsten hätte es wieder einmal noch böser für mich enden können. Es muss schon eine gewisse masochistische Grundlage gegeben sein, sich auf diese wonnigen Qualen sehenden Auges, Ohres und Herzens einzulassen. Aber was soll ich machen – das süße Gift, es brennt so tief.

28. September 2019

Falstaff – Fabrice Bollon.
Theater Freiburg.

19:30 Uhr, 1. Rang Mitte links, Reihe 5, Platz 160



Meinen zweiten Ausflug ans Breisgauer Theater habe ich leider weder rechtzeitig schriftlich gewürdigt, noch mir durch Notizen das Leben anderweitig erleichtert. So bleibt mir nun, beinahe 3 Jahre später, nur noch festzuhalten, dass mir seinerzeit Produktion und musikalische Leistung definitiv sehr zugesagt hatten – so viel ist zumindest haften geblieben. Was sonst bleibt sind Fetzen der Erinnerung an ein Bühnenbild mit gediegenem Wohnzimmer, 50er oder 60er vielleicht, bei dem die Protagonisten teilweise lange Blicke in Schränke und dergleichen tätigten, sowie eine Szene mit Falstaff im Unterhemd in einem Waschkeller. Nicht viel, aber genug Nachhall im Herzen, um diesen Abend als Gewinn abgespeichert zu wissen.


Falstaff
Komödie in drei Akten
Musik – Giuseppe Verdi
Text – Arrigo Boito nach William Shakespeares "Die lustigen Weiber von Windsor" und "Heinrich IV"

Musikalische Leitung – Fabrice Bollon
Regie – Anna-Sophie Mahler
Bühne – Duri Bischoff
Kostüme – Nic Tillein
Licht – Michael Philipp
Dramaturgie – Heiko Voss
Chorleitung – Norbert Kleinschmidt

Sir John Falstaff – Juan Orozca
Ford – Martin Berner
Fenton – Joshua Kohl
Doktor Cajus – Roberto Gionfriddo
Bardolfo – Junbum Lee
Pistola – Rossen Krastev
Alice Ford – Irina Jae-Eun Park
Nannetta – Samantha Gaul
Quickly – Anja Jung
Meg Page – Inga Schäfer

Philharmonisches Orchester Freiburg
Opernchor des Theater Freiburg

19. September 2019

Klavierabend – Igor Levit.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 2, Platz 5 



Ludwig van Beethoven – Sonate Fis-Dur op. 78
Ludwig van Beethoven – Sonate Es-Dur op. 7

(Pause)

Ludwig van Beethoven – Sonate E-Dur op. 14/1
Ludwig van Beethoven – Sonate G-Dur op. 14/2
Ludwig van Beethoven – Sonate Es-Dur op. 81a »Les Adieux«

Zugabe:
Schubert?



So sehr ich Igor Levit und die Möglichkeit schätze, ihn live unter perfekten akustischen Bedingungen hören zu dürfen, so frustrierend ist es unweigerlich, die mögliche Perfektion des Auftritts durch eine von schwachen, unmusikalischen Menschlein induzierte mittelprächtige Atmosphäre beschmutzt zu wissen. Abgesehen davon, dass mir das Programm gestern (Link) einfach auch mehr zugesagt hat als jenes heute, hätten mir die bekannt-berüchtigten Komponenten aus der Konzertfolterkammer ohnehin jeden Abend verleidet. Hörgeräte-Fiepsen (offenbar gerade wirklich im Trend), Rumgehuste, allgemeine Unruhe – einfach kein Umfeld für Kunst dieser Güte. Auch wenn es hart klingt, die übrigen Konzerte von Levits Sonaten-Reihe werde ich mir getrost schenken und lieber zu seiner Gesamteinspielung ins CD-Regal greifen. Meine Nerven werden es mir danken.

18. September 2019

Klavierabend – Igor Levit.
Elbphilharmonie Hamburg

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 5, Platz 5



Ludwig van Beethoven – Sonate f-Moll op. 2/1
Ludwig van Beethoven – Sonate As-Dur op. 26

(Pause)

Ludwig van Beethoven – Sonatine G-Dur op. 79
Ludwig van Beethoven – Sonate C-Dur op. 53 »Waldstein-Sonate«

Zugaben:
Dmitri Schostakowitsch – bizarrer Walzer?
Rodion Schtschedrin – Humoresque



Warum reagiere ich eigentlich so allergisch auf jenen Laut, den manche Teile gern unmittelbar nach jenen Stücken von sich geben, deren Charakter, oder zumindest deren Schluss ihnen offenbar irgendwie drollig vorkommt? Über die Existenz von Humor in der Musik lässt sich ja streiten, aber meist reichen ohnehin zwei, drei hingetupfte Akkorde oder Töne, um diesen Reflex auszulösen. Das Ende der G-Dur Sonatine zum Beispiel hatte heute für mich persönlich wenig Beschmunzelnswertes, sie verklingt einfach delikat. Vielleicht ist es aber auch vielmehr das produzierte Geräusch selbst, das meine Abscheu erregt. Eine Art Kombination aus Schnauben und parallel dazu vollführten, kurzen Tonabgabe, als habe man gerade eine witzige Anekdote realisiert. Es wohnt diesem Reflex etwas ungeahnt Naives, ja Unschuldiges, aber leider auch unsagbar Tumbes inne, dass es mich jedes Mal aufs Neue erschaudern lässt. Aber was weiß denn ich – ein Hoch auf die einfachen Freuden!

Viel wichtiger: Ein Hoch auf Igor Levit, den ungezwungenen Tastengott, der sich auch durch die dümmsten und strategisch ungünstigsten Störaktionen der schlichten Gemüter unter uns nicht aus der Ruhe und dem Fluss bringen lässt. Faszinierend, wie dieser ohnehin mit einer ungemein sprechenden Mimik beim Spiel zu erlebende Künstler quasi im Vorbeigehen, im vollen Lauf seines unüberbietbaren Vortrags ärgerliche Huster, Niesanfälle und Dergleichen mit äußerst vielsagenden Seitenblicken quittiert. Ganz so als huschte – wohlgemerkt zeitgleich zur Berserkerkonzentration auf Beethoven – ein Gedanke vorbei wie: „Hab ich schon gemerkt, Du Penner, dass Du gerade diese schöne Stelle verhusten musstest ...“

Es ging ja gleich gut los. Ein gut hörbarer Fotoauslöser-Ton direkt als Levit beginnen wollte, gefolgt von der fast schon Elphi-obligatorischen Handy-Bombe. Kopfschütteln und bitteres Schmunzeln des Solisten, Gelächter im Saal – darauf ein in den Saal gelittenes „Nicht lustig!“ eines empörten Empörers – was wiederum von Levit mit dem kurz angetäuschten Nokia-Klingelton quittiert wurde. Bis dann doch Beethoven zu seinem Recht kam. Und wie.

Auch dem Nicht-Beethoven-Experten wird hier schnell klar, dass er einem ganz besonderem Vortrag beiwohnen darf. Dieser Anschlag im Adagio der 1. Sonate! Diese Bandbreite der Dynamik und des Ausdrucks! Dabei sind die beiden Stücke vor der Pause gar nicht so meins, am ehesten der Kopfsatz der Nr. 12, da Variationssatz. Aber letzen Endes kommt es heute nicht auf Vorlieben und dergleichen an, Levit spielt wie vom anderen Stern. Der Kontrast im Ausdruck vom zweiten zum dritten Satz der Sonatine op. 79 – unglaublich. Und dann der unbestreitbare Höhepunkt des Abends, vielleicht der pianistischen Saison überhaupt: Die Waldstein-Sonate. Starkstrom, Drive, Gewalt und Zartheit im 1. Satz, tiefste Auslotung im Folgenden. Besser geht es nicht. Doch – im Finale: Der Übergang dahin gehört zum Herzerwärmendsten, das ich je jemanden einem Flügel entlocken hörte. Dieses fast schon penetrante, unbeirrbare Singen, erst ganz behutsam, wie es immer wieder bittersüß nach Moll gezogen wird, in einen triumphalen, in berührender Weise gleichzeitig melancholischen Schluss mündend. Himmlisch!

Mit den beiden Zugaben legt Herr Levit dann noch mal eine Transfer-Schippe drauf – meinen Respekt und Dank auch für diese Horizonterweiterung.

30. August 2019

Königliche Kapelle Kopenhagen –
Thomas Søndergård. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 12, Platz 2



Carl Nielsen – Helios-Ouvertüre op. 17

Edward Elgar – Konzert für Violoncello und Orchester e-Moll op. 85 (Andreas Brantelid – Violoncello)

Zugabe des Solisten:
Alexander Glasunow – Chant du ménestrel op. 71

(Pause)

Modest Mussorgsky / Maurice Ravel – Bilder einer Ausstellung

Zugaben des Orchesters:
Carl Nielsen – Ouvertüre aus Maskarade /
Komische Oper in drei Aufzügen

Hans Christian Lumbye – Champagne-Galop / Champagner-Galopp



Die Königliche Kapelle Kopenhagen ist wirklich ein Top-Orchester – hatte ich so gar nicht auf dem Zettel. Alles in allem war es ein sehr schönes Konzert, umso bedauerlicher, dass wahrscheinlich just der dümmste Moment mir nachhaltig im Gedächtnis bleiben wird. Aber gut, ein volltönendes Handy gerade an der Stelle im „Großen Tor von Kiew“, wenn das Orchester den Anlauf zur finalen Eruption nimmt, ist schon ein ordentlicher Tritt in die musikalischen Kronjuwelen. Sei’s drum, abgesehen davon gab es nichts zu meckern, auch nicht beim Solisten und Dirigat – einfach eine runde Sache.

26. August 2019

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg –
Kent Nagano. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich K, Reihe 5, Platz 18



Felix Mendelssohn Bartholdy – Die erste Walpurgisnacht op. 60

(Pause)

Hector Berlioz – Te Deum op. 22



Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Hamburger Alsterspatzen
Chor der KlangVerwaltung
Franz-Schubert-Chor Hamburg
Hamburger Bachchor St. Petri
Jugendkantorei Volksdorf
Kinder- und Jugendsingschule St. Michaelis
Kinderkantorei Bergstedt und Volksdorf
Cappella Vocale Blankenese
Compagnia Vocale Hamburg
Stimmwerk Hamburg
Vokalensemble conSonanz
Kammerchor Cantico

Annika Schlicht – Alt
Pavel Černoch – Tenor
Thomas E. Bauer – Bassbariton
Dirigent Kent – Nagano


Von der letzten Reihe eines Blockes aus hat man wirklich beste Sicht auf all die alten Säcke, die sich gern über die heutige Jugend aufregen und hier, natürlich ohnehin latent mit der Gerätschaft überfordert, keine Gelegenheit auslassen, während des Konzerts einfach mal dumm rumzuknipsen oder gleich ne Runde mitzufilmen – dabei das umsitzende weiße Resthaar gespenstisch illuminierend. Das allein wäre ja schon für sich eine formidable Ablenkung vom Geschehen auf der Bühne, aber zum Glück hat man das Hörgerät erfunden. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn mir nicht der permanent-penetrante Fiepton aus taubem Ohr einer tauben Nuss, umgeben von offenbar ausnahmslos tauben Nüssen, deren Gehör ebensowenig für diese Frequenzen wie ihr Gemüt für ungestörten Kunstgenuss empfänglich schien, die ganze erste Walpurgisnacht wahrlich zur Höllenfahrt machte.

Womöglich hätte ich noch Gefallen an dieser Musik gefallen, die ich bislang nur vom Tonträger kannte. Wobei, bleiben wir realistisch, dafür ist der gute Mendelssohn Bartholdy einfach zu sehr melodischer Biedermann und Butzenscheiben-Harmoniker. Brav, sauber, nein – porentief rein. Die opulenten Chormassen beeindrucken durch ihre akustische Präsenz und Wucht, weniger mit dem versungenen Material. Von den Solisten gefällt mir der Bariton am besten, Herr Bauer hat definitiv Charakter in der Stimme. Frau Schlicht macht ihre Sache ebenfalls gut, den Tenor des Herrn Černoch empfand ich eher als Schwachpunkt. Ein Vergleich der Interpretation durch Herr Nagano mit jener Harnoncourts von CD fällt heute mangels Konzentration aus. Die Bässe waren sehr präsent, soviel habe ich dann noch zwischen Gift und Galle mitbekommen.

Auch zum Berlioz lässt sich angesichts der miesen Rahmenbedingungen wenig Konkretes festhalten, obgleich selbst das dümmste Akustikhemmnis nicht zu verschleiern vermag, was für ein großartiges, in Ausmaß und Inhalt großes Werk das Te Deum doch ist. Hier musste ich geplättet realisieren, dass eine Einspielung, ich glaube bei mir ist es die mit Claudio Abbado, nur einen absolut unzureichenden Eindruck von den Klangwirkungen wiedergibt, die das Stück freisetzt. Ich kann mich darüber hinaus nicht erinnern, schon mal einer Aufführung mit mehr Choristen beigewohnt zu haben, in der Elbphilharmonie schon mal ganz sicher nicht. Beinahe die gesamte Ebene 13 hinter und neben der Bühne war den schwarz gewandeten Damen und Herren, Mädchen und Knaben vorbehalten. Auch wenn das Stück nicht die Ausdehnung seines Requiems besitzt, verfolgt Berlioz hier doch eine ähnliche Kontrastkonzeption, vielleicht etwas weniger ausgefeilt oder eben noch extremer im Wechselspiel von ganz Feinem und mehrheitlich kolossal Überwältigendem.

Schade, dass das Te Deum angesichts der erforderlichen Ressourcen so selten dargeboten wird, das müsste man sich deutlich häufiger geben können. Allein wie sich Orchester und Orgel ein geheimes Duell darin liefern, wer wohl die satteste Klangwand produzieren könne, die sich in wahre Rauschzustände steigernden Chormassen, dann wieder zeitweise gezähmt zur lieblichen Schar der Engel, die Modernität der Harmonik, die Frische und der Ideenreichtum der Melodik, und wie sich alles schließlich im wahrlich apokalyptisch voranschreitenden „Judex crederis“ krönt – Das Te Deum unterstreicht einmal mehr den Status des progressiven Franzosen als einen meiner absoluten Lieblingskomponisten.

Und wie schon im Finale von Mahlers 2. (Link) muss ich Herrn Nagano ein Kompliment aussprechen: Wenn Chöre ins Spiel kommen, scheint der Chef der Staatsoper in seinem Element. Ein wirklich bewegendes Erlebnis, von allen Beteiligten zur Vollendung getragen.

14. August 2019

National Youth Orchestra of the USA –
Sir Antonio Pappano.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 9



Tyson J. Davis – Delicate tension
Hector Berlioz – Les nuits d’été (Joyce DiDonato – Mezzosopran)

(Pause)


Richard Strauss – Eine Alpensinfonie op. 64

Zugaben:
Edward Elgar – Nimrod aus: Enigma-Variationen op. 36
Gioachino Rossini – Galopp aus: Ouvertüre zu »Guillaume Tell«



Man erlebt es nicht unbedingt alle Tage, dass sich Orchestermitglieder nach getaner Arbeit vor Freude weinend in die Arme fallen – so geschehen bei den jungen Damen und Herren des National Youth Orchestra of the USA nach der mit tosendem Applaus honorierten Herkulesaufgabe der Alpensinfonie und zweier weiterer Zugaben, die das Publikum der Elbphilharmonie zu stehenden Ovationen begeisterten. Doch der Reihe nach. Überraschte das Jugendorchester eingangs mit ganz eigenem Dresscode, bei dem für Männlein und Weiblein gleichermaßen rote Hosen die dunklen Sakkos ebenso komplettierten wie Chucks als bühnenungewohntes Schuhwerk, wurde jedoch schnell klar, dass das Teenager-Kollektiv durchaus auch akustisch in der Lage ist, Akzente zu setzen.

Gleich beim ersten Stück „Delicate tension“ des jungen Komponisten Tyson J. Davis präsentiert Antonio Pappano die volle Sound-Breitseite des Orchesters. Das Werk erinnert entfernt an Bernard Herrmann auf Steroiden und hält allerlei Gewaltiges und Eruptiv-Schillerndes bereit, Alarmsirene inklusive – womit allerdings gleich mal auch ein hübscher Bogen zur straussschen (Wind-)Klang-Maschinerie geschlagen wurde, wenn ich es genauer bedenke. Für mich persönlich folgte mit Berlioz’ „Les nuits d’été“ der erste Höhepunkt des Abends. Wer den Franzosen durch – wohlgemerkt allzu oberflächliche – Beschau seiner Symphonie Fantastique als Mann fürs Grobe und Grelle abgespeichert hat, sollte sich in die Zauberwelt dieses zarten Sommernachtstraumes begeben. Für mich einer der schönsten und berührendsten Liederzyklen überhaupt und wieder einmal eine enorme Inspiration für den großen Herrn Wagner, aber in gewisser Weise auch für meinen geliebten Britten und seine Beiträge zur Gattung. Obgleich ich mich weiterhin nicht hundertprozentig für Frau DiDonatos Stimme erwärmen kann, stellt sie doch hier eindrucksvoll unter Beweis, welche phänomenalen Nuancen sich aus dieser Partitur gewinnen lassen.

Bei der antichristlichen Seelenwanderung nach der Pause legt Pappano dann ein verblüffend flottes Marschtempo an den Tag. So richtig eingeordnet hatte ich diesen Dirigenten bislang nicht wirklich, aber warum auch immer hatte ich ihn gemütlicher eingeschätzt. Umso besser, so kann die existentielle Auseinandersetzung mit der Natur was werden – und sie wurde. Auch wenn uns im Eifer des Gefechts der ein oder andere kleinere, vorwiegend blechbezogene Schaden ereilte, bleibt doch festzuhalten, dass sich der stramme Ritt mehr als gelohnt hat. Manch schöne lyrische Phrase fiel mir in Pappanos Starkstromdirigat ein wenig zu sehr über die Klippen und Grate, aber alles in allem hatte ich eine richtig gute Zeit mit den jungen Wilden.

Zeit zum (Durch-)Atmen gab es dann eh noch im Nimrod genug, bevor man sich mit Rossini Hals über Kopf in den wohlverdienten Beifallsorkan warf. So hinterlässt man bleibenden Eindruck – Gratulation zum Debut!

6. Juli 2019

Pique Dame – Aziz Shokhakimov.
Opernhaus Düsseldorf.

19:30 Uhr, Orchestersitze links, Reihe 5, Platz 155 



So, so, da hat Frau Steier auf den letzten Metern doch noch ihre romantische Seite offenbart. Zu den sehrenden Klängen des Schlusses setzt der Geist Lisas dem soeben dahingeschiedenen Hermann in einer ebenso selbstbewussten wie berührenden Geste behutsam seine Hornbrille wieder auf, Chiffre ihrer erst im Tod wahrhaft verbundenen Außenseiter-Existenzen. Und ich hatte schon befürchtet, dass die Regisseurin an einer unheilbaren Pathos-Phobie leidet, die es ihr unmöglich macht, all jene Momente, in denen „die großen Gefühle“ aufwallen, ohne ironische Brechung zu präsentieren. Zu viel Misstrauen vor Emotion kann auf der Opernbühne zum Problem werden, oder in diesem Fall eine vom Start weg faszinierende, unbestreitbar intelligente und bis ins kleinste Detail mit liebevollem Ideenreichtum und handwerklicher Raffinesse gespickte Inszenierung um Haaresbreite an einer uneingeschränkt nachhaltigen und nachhallenden vorbeischrammen lassen.

Wie schon bei ihren Trojanern in Dresden (Link), lässt mich die Regiearbeit trotz (bzw. auch wegen) der Vielzahl an Gelungenem nach dem letzten Vorhang damit hadern, ob nicht doch noch mehr drin gewesen wäre. Wobei ich die Konzeption diesmal insgesamt viel geschlossener, zielgerichtet, vor allem verständlich empfand und meine Einwände, vielmehr Bedenken, ausnahmslos jene Szenen berühren, in denen die Regie das bereits angedeutete Stilmittel Humor zur Pathosbrechung einsetzt. Ich bin da selbst ein bisschen hin und hergerissen. Einerseits verstehe ich schon, dass manche Episode inhaltlich oder von der Wortwahl aus heutiger Sicht für den Betrachter arg aus der Zeit gefallen wirkt, wie etwa die inbrünstig schmachtende und gleichzeitig in Richtung Vernunftehe durchdachte Liebeserklärung Jeletskis an seine Braut. Ihn während dieser – musikalisch wunderschönen – Arie als blasierten Popanz darzustellen, der sein (theoretisch) intimes Geständnis als übertrieben effektvollen und in peinlicher Theatralik vor der versammelten Gesellschaft vollzogenen Auftritt „performt“, unterstellt ihm einerseits Kalkül (was man sicher so lesen kann), zerstört jedoch definitiv den Reiz der Musik, aus der nun mal in erster Linie Güte und Anteilnahme spricht.

Es gibt in dieser Regiearbeit immer wieder diese Momente, in der Frau Steier, deren außerordentliches Gespür für skurrile, witzige Details ich bereits in Dresden schätzte, für mein Empfinden einfach eine Spur – oder auch mehr – drüber ist. Die Szene mit den Freundinnen der Braut ist eine einzige Slapstickeinlage mit dem ganzen Geschenkegezicke und Draufrumgetrampel. Fragt sich, ob angesichts des Klamauks rüberkommt, dass ja tatsächlich auf etwas herumgetrampelt wird, nämlich auf Lisas unsicherer Gefühlslage, die durch Paulines „Romanze“ in dunkle Gefilde gedrängt wird. Ein anderes Beispiel für das von mir der Regie unterstellte Fremdeln mit dem Material stellt der Auftritt der Zarin dar. Auch wenn man für das Erscheinen einer echten Monarchin in der (sonst prima für mich funktionierenden) Hollywood-Verortung der Handlung eine probate Übertragung braucht, lässt mich die von Hermann zu erleidende Zwangs-Verkleidung doch leider weniger auf sein empfundenes Leid als auf den Schabernack-Effekt konzentrieren.

Stark ist die Inszenierung immer dann, wenn sie die emotionale Fallhöhe des Werkes ernst nimmt und intensive Bilder dafür findet. Der einzelne Indianerjunge in einer Gesellschaft aus lauter Cowboys – das Sehnen und Scheitern Hermanns in einem Motiv. Oder wie traumhaft umsichtig das Schäferspiel in die Hollywood-Party integriert wurde – um am Ende nur noch deutlicher zu machen, dass die Liebe nach dem Maskenball sehr wohl den Weg ins reiche und nicht ins reine Bett findet. Besondere Beachtung verdient die Ausgestaltung der Rolle der alten Gräfin. Von Hanna Schwarz mit einer Aura der Autorität und gleichsam des Vergangenen und Vergänglichen (Beauty-Behandlung durch die Dienerinnen) ausgestattet, wird die scheinbar kalte, harte Fassade im Umgang mit Hermann um eine ungewohnt verletzliche, sehnsüchtige Facette erweitert. Die Beischlafszene – ob Traum oder Wahn Hermanns – trägt auf wehmütig-verstörende Weise dem Umstand Rechnung, dass die Gräfin Zeit ihres Lebens mit „den Waffen einer Frau“ ihre Ziele erreichte, am Ende wohl aber auch nur auf der Suche nach Liebe gewesen sein mag, die ihr jedoch aufgrund des „Kartenfluchs“ verwehrt bleiben musste.

Musikalisch war es ein zwingender Abend. Sängerisch am eindringlichsten sicher auch hier die Leistung von Frau Schwarz, gerade in den nachdenklich-fragilen, Nahe der Auflösung befindlichen Momente. Aber auch die übrige Besetzung hinterließ einen geschlossenen Eindruck, gerade auch in den kleineren Rollen, wie etwa den Sängern des Schäferspiels. Die Hauptakteure, das unglückliche Nicht-Paar, wussten darstellerisch wie sängerisch zu überzeugen, Frau Strid hatte mir ja bereits als Sieglinge gut gefallen (Link). Dmitry Lavrov hatte in der angesprochenen Arie seinen musikalischen Gipfelpunkt zu bestehen und meisterte diese Aufgabe mit profundem Schmelz. Ein stimmlicher Ausfall wie der des nurmehr agierenden, durch Herrn Anderzhanov an der Seitenrampe vokal gedoubelten, Beniamin Pops ist für den Fluss einer Inszenierung immer hinderlich, fiel angesichts des geringen Umfangs der Rolle nicht allzu sehr ins Gewicht. An Dirigat und Orchesterleistung gab es – wie eigentlich immer in Düsseldorf – nichts zu meckern.

Fazit: Knapp vorbei inszeniert ist leider eben doch immer noch vorbei, so dass es heute bei einem intensiven und anregendem Abend blieb, der durchaus ein wahrhaft nachhallender hätte werden können.


Pique Dame
Oper in drei Akten
Musik – Pjotr I. Tschaikowsky
Text – Modest I. Tschaikowsky nach der gleichnamigen Novelle von Alexander Puschkin

Musikalische Leitung – Aziz Shokhakimov
Inszenierung – Lydia Steier
Bühne – Bärbl Hohmann
Kostüme – Ursula Kudrna
Licht – Stefan Bolliger
Chor – Gerhard Michalski
Kinderchor – Justine Wanat
Dramaturgie – Mark Schachtsiek

Hermann – Sergej Khomov
Graf Tomski / Slatogor – Alexander Krasnov
Fürst Jeletzki – Dmitry Lavrov
Die Gräfin – Hanna Schwarz
Lisa – Elisabet Strid
Polina / Milowzor – Maria Boiko
Mascha / Prilepa – Daria Muromskaia
Tschekalinski – Johannes Preißiger
Surin – Beniamin Pop (szenisch)/Baurzhan Anderzhanov
Tschaplitzki – Andrés Sulbarán
Narumow – Andrei Nicoara
Zeremonienmeister – Bohyeon Mun
Der Aufsteiger – Philipp Vorjohann
Das Kind – Feras Al-Husseini
Klavierspielerin – Laura Poe

Chor der Deutschen Oper am Rhein
Akademie für Chor und Musiktheater
Statisterie der Deutschen Oper am Rhein 
Düsseldorfer Symphoniker

29. Juni 2019

Die Hugenotten – Stefan Soltész. Semperoper Dresden.

Premiere – 18:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 6, Platz 37



Es ist mir schon ein paarmal passiert, dass ich, vom Wunsch getrieben, einen Besuch besonders reflektiert festhalten zu wollen, einen Text auf die lange Bank geschoben habe. Meistens hab ich dann aber doch noch irgendwann die Kurve gekriegt, reflektiert oder nicht, Notizen sei Dank. Nicht so dieses Mal. Wir schreiben den September 2022 und die Hugenotten sind einfach auf der Strecke geblieben. Was umso bedauerlicher ist angesichts der Tatsache, dass ich den Abend damals musikalisch wie szenisch sehr genossen habe. So viel ist dann doch hängengeblieben.

Aber anstatt jetzt doch vielleicht noch in Dresdner Archiven oder im Netz nach den Puzzleteilen dieser Produktion zu forschen – bei der ich übrigens die Ehre hatte, einer Einführung der besonderen Art durch Herrn Konwitschny persönlich in kleinem Kreis lauschen zu dürfen – nehme ich eine andere Abzweigung und nutze diese Zeilen, um meiner Bestürzung über den Tod von Stefan Soltész zum Ausdruck zu bringen. Die Nachricht von seinem Zusammenbruch während der schweigsamen Frau in München ist erst einige Wochen alt. Ich konnte Herrn Soltész bei einigen Gelegenheiten erleben, ob an der Staatsoper Hamburg, im Konzert oder an seiner langjährigen Wirkungsstätte in Essen. Er war keiner der „Stardirigenten“, wenn es so etwas überhaupt gibt, aber bei mir als jemand abgespeichert, auf den man sich musikalisch verlassen konnte. Umso schöner – wenn man das in diesem Zusammenhang sagen darf – dass er mir mit diesen Dresdner Hugenotten mit seiner für mich stärksten Leistung in Erinnerung bleiben wird.


Die Hugenotten
Opéra in fünf Akten
Musik – Giacomo Meyerbeer
Text – Eugène Scribe, Gaetano Rossi und Émile Deschamps

Musikalische Leitung – Stefan Soltész
Inszenierung – Peter Konwitschny
Konzeptionelle Mitarbeit – Bettina Bartz
Bühnenbild und Kostüme –Johannes Leiacker
Licht – Fabio Antoci
Chor – Jörn Hinnerk Andresen
Dramaturgie – Bettina Bartz, Kai Weßler

Die Hugenotten
Raoul de Nangis, Edelmann – John Osborn
Marcel, sein Diener – John Relyea
Bois-Rosé, ein Soldat – Jürgen Müller

Die Katholiken

Catherine de Médicis, Regentin von Frankreich – Sabine Brohm
Marguerite de Valois, Königin von Navarra, ihre Tochter – Venera Gimadieva
Der Graf de St. Bris – Tilmann Rönnebeck
Valentine, seine Tochter – Jennifer Rowley
Der Graf von Nevers, Verlobter der Valentine – Christoph Pohl
Cossé, Edelmann – Simeon Esper
Tavannes, Edelmann – Aaron Pegram
De Retz, Edelmann – Chao Deng
Méru, Edelmann – Magnus Piontek
Maurevert, Edelmann – Mateusz Hoedt
Urbain, Page der Marguerite – Stepanka Pucalkova
Léonard, Diener von Nevers – Gerald Hupach
Erste Hofdame – Michal Doron
Zweite Hofdame – Grace Durham
Zwei Mädchen – Petra Havrankova, Brynne McLeod
Drei Mönche – Wooram Lim, Juan Carlos Navarro, Reinhold Schreyer-Morlock
Zwei Hofmusikerinnen – Kana Takenouchi (Flöte), Aline Khouri (Harfe)
Bassklarinette – Christoph Korn

Sächsische Staatskapelle Dresden
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Knaben des Kinderchors der Sächsischen Staatsoper Dresden Damen und Herren der Kamparserie






25. Juni 2019

Symphoniker Hamburg – Sylvain Cambreling.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 4, Platz 11



Anton Webern – Passacaglia d-Moll op. 1 für Orchester
Sergej Prokofjew – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 C-Dur op. 26

(Pause)

Piotr I. Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64

Symphoniker Hamburg
Martha Argerich – Klavier
Dirigent – Sylvain Cambreling



Ach Leute. Können wir uns darauf einigen, dass ich für jeden Huster, der in den Saal geblafft wird, einen Euro bekomme? Und für jedes Foto mit Blitz bzw. Auslösersound vielleicht zwei? Einen Heiermann für jedes Handyklingeln? Ich bräuchte mir dann bald keine Gedanken über meine Rente zu machen. Heute war das Publikum wieder besonders dümmlich, viele Bus-Pomeranzen, soweit ich das übersehen konnte. Einen Handy-Hattrick muss man erst mal hinbekommen, Chapeau! Ich glaube man könnte das sicher ausrechnen oder im Labor erforschen, wie viele Trottel pro Besucher die Saalatmosphäre verträgt, bis sie gesättigt ist und das Experiment umkippt. Natürlich kommt an solch einem Tag dann noch höhere Gewalt in Form eines Notarzteinsatzes hinzu (ja, ja, das Wetter), kurzum: Die Rahmenbedingungen hätten kaum rezeptionshemmender sein können.

Dass es dennoch ein lohnenswerter Abend wurde, ist in erster Linie Frau Argerichs Verdienst. Das Prokofjew-Konzert war mir unbekannt, löste aber unter ihrer stupenden Tastenbehandlung spontan den Reflex bei mir aus, es gleich nochmal hören zu wollen. Wirklich schade, dass während der kompletten Aufführungsdauer so viel Unruhe im Saal herrschte, da eine bedauernswerte Dame pünktlich zum Beginn kollabierte und danach versorgt wurde. Kann man nicht ändern, machte ein konzentriertes Zuhören jedoch weitgehend unmöglich. Umso bemerkenswerter, welchen starken Eindruck die wenigen Darbietungsfetzen machten, die ich verarbeiten konnte. Frau Argerichs Spiel zeichnet eine teils aberwitzig perlende, mühelos wirkende Geläufigkeit aus, zudem besitzt sie einen Anschlag der Kategorie zauberzart, so dass die Präsentation dieses komponierten Wirbelwinds voll keck-verschmitztem Feuer und melodisch verwunschenen Oasen allen Widrigkeiten zum Trotz aufhorchen ließ.

Das opus 1 von Webern hörte ich ebenfalls zum ersten Mal. Hatte ich gedanklich mit seiner spätromantischen Tondichtung „Im Sommerwind“ verwechselt, die allerdings gar keine Opuszahl trägt. Die Passacaglia von 1908 ist schon eine ganze Ecke progressiver als das vier Jahre zuvor entstandene Idyll, wandelt allerdings nach wie vor (noch) auf den Pfaden der Tonalität – wenn auch irgendwo auf halben Weg in die Moderne, dem späten Mahler einen Besuch in der Schrekergasse abstattend. Das Werk hat etwas Unheimliches, Beunruhigendes, gleichzeitig fasziniert es durch eine entrückt betörende Melodik und Harmonik; grelle, gellend expressive Ausbrüche erwachsen aus einem subtilen, mitunter fast kargen Gespinst. Definitiv eine Entdeckung.

Definitiv eine Enttäuschung war für mich dann leider der Tschaikowsky nach der Pause. Was keinesfalls an den Symphonikern Hamburg lag, das Orchester klingt nach wie vor mehr als überzeigend, vor allem der Streichersound hätte die Sinfonie theoretisch zu einem Erlebnis werden lassen können, theoretisch, wohlgemerkt. Nach den äußerst vielversprechenden Begegnungen mit Cambrelings Beethoven (Generalprobe 9.) und Cambrelings Debussy (Link), musste ich heute feststellen, dass sich Cambrelings Tschaikowsky so gar nicht mit der Sicht vereinbaren lässt, in der sich mir dieses Werk darstellt.

Die Bauchschmerzen fangen gleich mit dem Kopfsatz an, der in Cambrelings Interpretation nichts von der Dramatik, dem grimmigen Ringen zwischen Melancholie und Sehnsucht auf der einen und den mit Macht hereinbrechenden, namentlich vom Blech gestalteten Schicksalsschlägen auf der anderen Seite aufweist. Gerade dieses Disparate in der stetig voranschreitenden Struktur, seine Kontraste im Charakter haben mich immer an diesen Satz gefesselt. Cambreling setzt hingegen auf größtmögliche Homogenität, das Drama tritt für eine schön musizierte Rundreise ohne Ecken und Kanten in den Hintergrund. Alles klingt sauber und wohlig, ja geradezu lieblich – man könnte auch harmlos sagen – Gegensätze in Sachen Ausdruck werden ebenso vermieden wie potenzielle Tempokontraste. Die Blechepisoden werden ausnahmslos majestätisch zelebriert, haben nichts Aufrüttelndes oder gar Bedrohliches, nicht zuletzt weil die Einsätze stets abgefedert, alles andere als forsch gesetzt werden. Überhaupt scheint Herr Cambreling eine leichte Lesart zu verfolgen – ein Element, welches sich durch alle Sätze zieht, ist die Betonung des Tänzerischen. Gleichermaßen eher gediegen als rauschhaft. So entfaltet das wunderschöne gesangliche Thema des ersten Satzes in seiner Steigerung nicht die gewohnte Sogwirkung, sondern hastet kurzatmig vorüber.

Und immer wieder geht es um Ausdruck, um Klangfarben. Die fahle Wehmut des zweiten Satzes weicht einer sonnigen Belanglosigkeit, außerdem hätte ich nicht vermutet, dass ein Anwalt der neuen Musik für das breite Streicherthema derart auf die Kitschtube drückt – Tschaikowskys Melodien sind süß genug und bedürfen keiner Nachzuckerung. Das im Schlusssatz zum trotzigen Marsch und schließlich „Jetzt-erst-recht“-Finale getürmte Schicksalsmotiv lädt heute mehr zum Schunkeln ein, als dass es die Faust ballte. Die berührende, wehmütige Passage, in der das Drängen kurz zur Ruhe kommt, fällt nicht weiter auf, weil dort ebenfalls die Übergänge geglättet werden. Es tut mir leid, aber der letzte Satz sollte dem Zuhörer schon einiges mehr abverlangen als Glanz und Schmalz.

Auch wenn das jetzt alles vernichtend klingt, war diese Erfahrung alles andere als unergiebig. Vor allem, weil mir dadurch wieder klar wurde, wie sehr man mit Tschaikowsky bei mir landen kann. Oder halt so gar nicht. Ich schätze Sylvain Cambreling trotzdem weiter als großartigen Dirigenten, schließlich ist es ja nicht der Fall, dass er keine eigene Handschrift an den Tag gelegt hätte – nur eben eine für mich persönlich sehr unleserliche. Bleibt abzuwarten, ob ich bei anderen geliebten Sinfonikern – Bruckner oder Mahler kommen mir in den Sinn – dem sympathischen Franzosen wieder folgen kann.


21. Juni 2019

SWR Symphonieorchester – Teodor Currentzis. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2



Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 60 »Leningrader«


Es ist wirklich bemerkenswert, wie Herr Currentzis dem Hype, der zweifellos teilweise in den Medien über ihn geschürt wird, mit Substanz mehr als Gerecht wird. Schon meine erste Begegnung, damals noch in der Laeiszhalle (Link), ließ mich aufhorchen und seitdem waren Konzerte mit seiner Beteiligung immer etwas ganz Besonderes. Heute gab es eigentlich zwei Faktoren, die mich verblüfft haben. Zum einen hatte ich das SWR Symhonieorchester, seinerzeit noch in Form seines unfusionierten Teils SWR SO Baden-Baden und Freiburg unter Dirigenten wie Gielen oder Cambreling, durchaus als gutes Orchester abgespeichert – auf den hier präsentierten Spitzenklang war ich dann allerdings doch nicht vorbereitet. Respekt. Keine Ahnung, ob Currentzis als neuer Chef diesbezüglich schon Akzente setzen oder auf eine mir entgangene Entwicklung aufbauen konnte, so oder so ist das Ergebnis bestechend. Womit wir beim zweiten Faktor des bewegenden Konzerts wären: der von Currentzis gewählten Lesart dieser an emotionalen Extremen sicher ohnehin nicht armen Sinfonie, wobei „Gangart“ es noch besser trifft. Der Dirigent scheint ein Händchen dafür zu besitzen, sein Orchester in einen Zustand zu bringen, als ginge es bei der Aufführung sprichwörtlich um alles oder nichts. Keine schlechten Voraussetzungen für solch ein Schicksalswerk wie die Leningrader, und ich muss sagen, dass ich diese Sinfonie wohl kaum zuvor mit solch elementarer Wucht und Hingabe bis ins Extrem aufgenommen habe. In dieser Intensität nichts, dem man sich täglich aussetzen sollte, aber das triff ja schließlich auf alle höchsten Dinge zu.

17. Juni 2019

Liederabend – Christiane Karg / Thomas Quasthoff /
Justus Zeyen. Elbphilharmonie Hamburg, kleiner Saal.

Einführung 18:30 Uhr, 19:30 Uhr, Reihe 1, Platz 21



Belles Amours

Ausgewählte Lieder von Francis Poulenc und Claude Arrieu
Lesung von Texten von Louise de Vilmorin

Francis Poulenc – Trois poèmes de Louise de Vilmorin
Louise de Vilmorin – Leben und Lieben der Louise de Vilmorin
Claude Arrieu – Poèmes de Louise de Vilmorin
Louise de Vilmorin – Auszüge aus den Romanen "Madame de ..." und "Liebesgeschichte"
Francis Poulenc – Métamorphoses

(Pause)

Louise de Vilmorin – Auszug aus dem Roman "Belles Amours"
Claude Arrieu – Le sable du sablier
Louise de Vilmorin / Duff und Diana Cooper – Eine Liebe zu Dritt / Auszüge aus Briefen
Francis Poulenc – Fiançailles pour rire

Christiane Karg – Sopran

Thomas Quasthoff – Lesung
Justus Zeyen – Klavier



Hatte sich in der – überaus erfrischenden und vor allem in Bezug auf die Vortragsanweisungen Poulencs sehr erhellenden – Einführung durch Frau Pfister bereits angedeutet, dass der Gegenstand des Lesungsanteils des Abends mich nicht unbedingt immens fesseln würde, bestätigte sich dies dann im Vortrag Quasthoffs. An und für sich könnte ich mir durchaus vorstellen, diesem wohlig-warmen Timbre auch bei der Artikulation von Bedienungsanleitungen oder Telefonbüchern gebannt zu lauschen, was jedoch nichts daran ändert, dass mich weder der Einblick in die Privatheiten der Dichterin, noch ihre Arbeitsproben nachhaltig erreichten. Mag sein, dass die Begegnung mit „pikanten“ Einzelheiten aus Biographie und schmachtendem (Brief-)Verkehr dem geneigten bildungsbürgerlichen Publikum ein frivoles Kichern zu entlocken vermag, mir persönlich sagte das alles herzlich wenig. Was natürlich einfach daran liegen kann, dass mir Frau Vilmorin bis zum heutigen Tage gänzlich unbekannt war und ich für gewöhnlich wenig Erbauung aus der Schilderung intimer Details Fremder ziehe.

Deutlich interessanter gestaltete sich jedoch die Einführung in das lyrische Werk der Künstlerin, wobei hier einerseits Herr Poulenc mit kompositorischer Hilfestellung der Ausschlag gebende Faktor gewesen sein dürfte, darüber hinaus Frau Kargs himmlische Stimme ihren Teil dazu beitrug. Musikalisch besonders fesselnd gestaltete sich vor allem der Zyklus „Fiançailles pour rire“, auch weil er unzweifelhaft nach dem Poulenc klingt, den ich aufgrund von Werken wie „Gloria“ oder den „Karmelitinnen“ sehr schätze. Die übrigen Lieder, ob nun von Poulenc oder seiner Kollegin Arrieu verfasst, konnten dieses Niveau zumindest nach erstmaligem Hören nicht halten. Ganz unabhängig davon ist die Leistung von Frau Karg allerdings nicht hoch genug zu bewerten. Ein lyrischer Sopran, wie er perfekt für Mahlers „Himmlisches Leben“ ist, zart und fein mit einer berührend unschuldigen Note, die bei Bedarf aber auch jederzeit ins keck Kokette oder auch feurig Dramatische umschlagen kann. Ihre stimmdarstellerische Wandelbarkeit beweist Frau Karg mit jedem einzelnen Beitrag, mal lässt sie die Noten fahl im Raum stehen, oder entrückt ersterben, dann wiederum erfüllt ihr glühendes Forte triumphierend den Saal. Macht es mich schon ein wenig wehmütig, Justus Zeyen mit seinem im klassischen Bereich leider verstummten Liedpartner Quasthoff auf einer Bühne zu sehen, wird dieser Umstand mehr als wett gemacht, wenn man erkennt, wie wunderbar das Duo Karg/Zeyen bei diesen duftigen Miniaturen harmoniert.

Fazit: Ein kleiner, feiner Abend, eine unwahrscheinliche Symbiose aus Melancholie und Leichtigkeit.

5. Juni 2019

Wiener Philharmoniker – Mariss Jansons.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Robert Schumann – Sinfonie Nr. 1 B-Dur op. 38 »Frühlingssinfonie«

(Pause)

Hector Berlioz – Symphonie fantastique /
Episode de la vie d'un artiste op. 14



Schockmoment gleich zu Beginn: Mariss Jansons müht sich sichtbar angestrengt mit unsicheren Tippelschritten zum Pult, wo eine Sitzgelegenheit auf ihn wartet. Von dieser macht er im Laufe des Abends zwar nur hin und wieder Gebrauch, doch den Maestro derart zerbrechlich zu sehen, ruft – auch angesichts seiner früheren gesundheitlichen Schicksalsschläge – wohl nicht nur bei mir tiefe Besorgnis hervor (Einige Tage später kam dann die wenig überraschende Meldung, dass er aufgrund einer ärztlich empfohlenen Regenerierungsphase alle Konzerte bis Ende August absagen müsse). Es bleibt mir nur, Herrn Jansons eine baldige Genesung und alles Gute für die Zukunft zu wünschen.

Wie sehr die Klassikwelt diesen Ausnahmedirigenten braucht, stellte er heute wieder eindrucksvoll unter Beweis. Zum Schumann kann ich zwar nicht viel sagen, da fehlen mir die Vergleichsmöglichkeiten, obwohl mir unter Umständen als jemand, der dieser Musik eher reserviert gegenübersteht, vielleicht mit einer etwas weniger kontrollierten, edlen Lesart mehr gedient wäre. Während die technische wie klangliche Meisterschaft der Wiener bereits hier ihre Wirkung entfaltete, schlug mit der heiß geliebten Symphonie Fantastique die Genialität der Konzeption Jansons’ voll durch.

Dabei war es besonders spannend zu erleben, dass aufgrund eingehender vorangegangener Rezeption angesammelte Lehren über Wirkungsweisen und Präferenzen bestimmter Parameter im Einzelnen und Ausführungen in der Gesamtheit jederzeit durch eine selbst beinahe gegenteilige Präsentation zumindest für die Dauer einer Aufführung egalisiert werden können – sofern diese Aufführung derart zwingend gestaltet ist, wie ich sie heute bestaunen durfte. Ein durchgehend langsames Grundtempo gehört in der Regel nicht zu den Faktoren, mir „meine“ Symphonie Fantastique entstehen zu lassen. Bei Jansons fügt sich dieses ungewohnte Tempo jedoch als eines von vielen Steinchen bei der Herstellung eines Mosaiks ein, dessen Detailtiefe und Dramatik kaum steigerungsfähig erscheinen.

Allein wie zart die Coda des ersten Satzes unter Jansons Führung verklingt, oder welch geradezu plastisch sprechende Wirkung die wehmütige Szene auf dem Lande erzielt – die Feinheiten der Partitur hat man live selten so minutiös ausgelotet erlebt. Der Gang zum Schafott wiederum bärbeißig, ohne zu eilen, desgleichen das ganze Hexensabbat-Finale, in dem es Jansons gelingt, eine immense Wucht zu entfesseln, ohne dabei, wie gesagt, besonders auf die Tube zu drücken. Gewaltig-gewaltsam Eruptives statt gnadenlose Hetze, wie ich sie beispielsweise an einem Solti schätze. Es gehört einfach zum Größten, gerade auf solche durch und durch wohlvertrauten Werke durch Ausnahmekönner wie Jansons und das Klangwunder aus Wien einen ganz neuen Blick beschert zu bekommen – einen Blick, der die Größe des Werkes und die Meisterschaft seines Urhebers frisch wie bei der ersten Begegnung unterstreicht. Meinen tiefsten Dank dafür.

4. Juni 2019

Mahler Chamber Orchestra – Teodor Currentzis.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Morton Feldman – Madame Press died last week at ninety

Johannes Brahms – Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53

(Pause)

Johannes Brahms – Ein deutsches Requiem op. 45

Mahler Chamber Orchestra
musicAeterna chorus of Perm Opera
Wiebke Lehmkuhl – Alt
Nadezhda Pavlova – Sopran
Tobias Berndt – Bariton
Dirigent – Teodor Currentzis



Feldman: statt 5 Stunden wie seinerzeit auf Kampnagel (Link) heute mal schlanke 5 Minuten als Appetizer. Nachdem bei verdunkeltem Saal Bachs „Jesu meine Freude“ per Fernchor das eigentliche Programm ebenso überraschend wie bewegend einleitete, folgte unmittelbar darauf das kurze Stück des Amerikaners, welches man als Klangvariationen über ein Intervall bezeichnen könnte. Eigentlich kein wirklicher Omaschreck, höchstens ungewöhnlich durch seine streng repetitive Form. Während die Flöte – nur an wenigen Stellen von der Trompete abgelöst – ein und das selbe Intervall für jedes der 90 Lebensjahre der verstorbenen Klavierlehrerin des Komponisten intoniert, wird es von den übrigen Instrumenten des schmal besetzten Kammerorchesters auf immer neue Weise begleitet bzw. harmonisiert. Die Celesta, Kraft ihres Namens ein himmlisches Instrument, klammert das Werk, bekam aber am Ende ärgerliche Konkurrenz durch ein die Stille zerstörendes Attentat eines weiteren Handy-Dümmlings. Currentzis hob mahnend den Finger, doch allein was hilft´s – wo kein Hirn ist, wird keines wachsen.

Rhapsodie: Was für ein feines Stück, äußerst zart dargeboten. Lemkuhl toll – rund und voll und doch innig. Currentzis stets darum bestrebt, nuanciert zu bleiben, nicht zu forcieren. Sehr stimmig und delikat.

Requiem: Abgesehen davon, dass Teodor Currentzis zu Recht über eine große Fangemeinde verfügt, die ihn frenetisch feiert und ein ganzes Publikum mitzuziehen vermag und davon, dass wir heute eine wirklich bestechende Aufführung des Brahms-Requiems erleben durften, kann ich dennoch nicht verhehlen, den Saal mit ambivalenten Gefühlen verlassen zu haben. Was soll man von Teilen des Publikums halten, die nach dem wahnsinnig fragilen Schlusssatz in die magische Stille übersprungartig hineinpoltern. Leute, die es nicht mal raffen, nachdem sie Currentzis bereits nach dem ersten Satz mit eindringlicher Geste darauf hingewiesen hat, dass das heute kein Arien-Potpourri wird. Denen es offenbar wirklich an jeglicher Form von Antenne dafür mangelt, warum der eben noch mit den Armen wedelnde Kauz nun zur Salzsäule erstarrt ist – ist doch jetzt aus, das Ganze, oder nicht? Da hilft auch kein Zischen der Wissenden, da ist die Atmosphäre schon perdu.

Was soll man von parfümgetränkten Schicksen halten, die beim Schlussapplaus unmittelbar in die Begeisterungssimulation wechselnd standing ovations geben, nachdem man die Hälfte des Konzerts damit verbracht hat, gelangweilt aufs Handy zu glotzen und dabei ihre Umgebung zu illuminieren. Ich sag ja gar nicht, dass einen das Konzert unbedingt angesprochen, gar umgehauen oder berührt haben muss, aber warum zur Hölle sollte man das dann schauspielern? Da bekommen der hübsch inszenierte Applausreigen und der bebende Saal leider einen schalen Beigeschmack. Eigentlich völlig bizarr diese Gedanken/Gefühle, da es ohne Frage ein richtig, richtig gutes Konzert war.

Und den größten Anteil daran hat tatsächlich Herr Currentzis. Das Brahms-Requiem verschnarcht nach hinten raus ja gern mal, diese Gefahr besteht hier nie. Wie seinerzeit Haitink mit den Bayern (Link) schaffen es heute Currentzis und seine Kollegen ebenfalls, dem Werk eine gleichbleibend fesselnde Dramaturgie zu entlocken, den Fluß nicht abreißen zu lassen – wenn auch mit deutlich anderen Akzenten. So ist der fast beispiellos atmosphärische Beginn zwar zart, aber doch ein gutes Stück von dem überirdisch ätherischen Einstieg Haitinks entfernt. Während dessen Interpretation fraglos spannungsvoll und kontrastreich war, geht es heute gerade an den Kulminationspunkten extrem knackig, ja explosiv zur Sache. Mit welchem Biss der Chor im zweiten Satz sein Vergänglichkeitsbild entfesselnd würde, deutete bereits die Vehemenz der Pauke bei der Vorbereitung des Ausbruchs an. Der vorletzte Satz mit seinem ungezügelt skandierten „Tod, wo ist dein Stachel“gerät Dank des flotten Tempos, mehr jedoch noch aufgrund der scharf akzentuierten, punktierten Rhythmik wahrhaft zu einem trotzigen Triumph der Lebenden über Trauer und Verzweiflung. So radikal ist mir das Stück an dieser Stelle wohl noch nie begegnet.

Gleichsam entfalten die leisen Töne unter Currentzis’ unentwegt mäandernd formenden Händen ihre anrührende Wirkung. Die Sopranistin bewegte mit betörend inniger Stimme, entsprach jedoch nicht zu 100 % meinen Vorstellungen einer lupenreinen Intonation. Der Einspringer-Bariton war mir persönlich etwas zu schwach auf der Brust, klanglich in Ordnung, aber für meine Sicht auf die Partie mit zu wenig Charakter, oder besser narrativer Intensität. Akustisch war der Gesamteindruck, wie bei einem Kammerensemble zu erwarten, durchweg transparent, wobei ich gerade in Kombination mit dem starken Chor eine größere Streicherbesetzung bevorzuge, um ein breiteres, satteres Fundament zu realisieren. Auf der anderen Seite sorgte der sonore Einsatz der Orgel für fundamentale Gänsehautmomente. Der Chor aus Perm nutzt seinerseits die klare Akustik und besticht durch ausgezeichnete Textverständlichkeit.

Fazit: Currentzis ist unabhängig des Hypes um ihn der Dirigent für die besondere Sicht auf Gewohntes und findet, wie schon vor Jahren in der Laeiszhalle erlebt (Link), für diese Mission glücklicherweise die richtigen Mitstreiter.

24. Mai 2019

Orchestre de Paris – Daniel Harding.
Gasteig München

20:00 Uhr, Block G, Reihe 4, Platz 13



Benjamin Britten – War Requiem op. 66

Orchestre de Paris
Chœur de l’Orchestre de Paris
Emma Bell – Sopran
Andrew Staples – Tenor
Christian Gerhaher – Bariton
Dirigent – Daniel Harding



Gemischte Gefühle nach einem Abend, der etwas ganz besonderes hätte werden können – aber nicht hier, nicht in diesem Saal. Ernüchterung angesichts der Erkenntnis, dass der Gasteig selbst auf einem theoretisch idealen Platz für ein Werk dieser Dimensionen mit großer Chorbesetzung eine einzige akustische Enttäuschung bot. Wehmut angesichts der (ganz bewusst) ausgelassenen Gelegenheit, dieses Herzensstück am Dienstag in der heimischen Elbphilharmonie zu erleben – wohl wissend um den dort immer noch vorherrschenden Faktor eines unberechenbaren (Touri-)Publikums, dass gerade bei „modernen“ Stücken die Atmosphäre in schöner Regelmäßigkeit vergällt. Da ist die Münchner Stammhörerschaft offenbar schon etwas geschulter – wenn auch, je nachdem wie man es sieht, gleichgültiger bzw. hypefrei, was an den vielen, vielen leeren Plätzen des in Hamburg lange ausverkauften Konzerts abzulesen war. Das Abopublikum der Reihe „Große Orchester“ (in das sich übrigens auch die NDR Elbphilharmonie als eines von „8 Weltklasseorchestern“ verirrt hat) scheint dem Werk des Briten nicht recht zu trauen, sah sie Auslastung online doch um einiges weniger schütter aus. So ist es letzten Endes müßig darüber zu spekulieren, welches Gastspiel meiner Britten-Liebe zuträglicher gewesen wäre. Fest steht nur, dass die Angelegenheit heute meinen Hoffnungen nicht gerecht wurde.

Was sicher nicht an den beteiligten Künstlern lag. Von der Güte des Orchestre de Paris und dem inspirierten Dirigat seines Chefs konnte ich mich erst Anfang der Woche in Hamburg (Link) überzeugen, Herr Gerhaher ist als einer der versiertesten Baritone unserer Zeit über jeden Zweifel erhaben, Herr Staples mit seiner feinen, Kantaten-Tenorstimme und die für Frau Shagimuratova eingesprungene Sopranistin Emma Bell mit einem beeindruckend kräftigen, mitunter vielleicht die letzte Lyrik (Lacrimosa) entbehrenden Organ, sowie die angereisten Chöre komplettierten eine Besetzung, wie man sie sich für ein Werk dieser Komplexität und seines Gehalts wünschen kann. Abgesehen von einem mir persönlich hier und da etwas zu langsamen Grundtempo Hardings kann ich kein negatives Wort über die Beteiligten und ihre Ausführung fallen lassen. Umso tragischer, dass der einzige große Spielverderber und Verursacher einer weitgehend kaltlassenden Wirkung im Gasteig selbst und seiner miserablen Akustik zu finden ist.

Der Höreindruck insgesamt ist grundsätzlich seltsam gedämpft und schwammig, eine differenzierte Wahrnehmung der Partitur ist angesichts dieses Klangbreis – ob im Piano oder Fortissimo – schlicht unmöglich. Jegliche Form von Intimität – im War Requiem viel mehr noch als die gewaltigen Eruptionen das alles bestimmende Moment – ist in diesem Saal-Monstrum ein Ding der Unmöglichkeit. Die kammermusikalischen, verletzlichen Passagen verpuffen an der Grenze des Hörbaren ohne jede Präsenz, das Gleiche gilt für die teilweise als Ausdruck höchster Verletzlichkeit komponierten Gedichte Owens, bei denen man hier kam ein Wort von dem versteht, was Staples und Gerhaher sicher durchaus nuanciert von sich geben. Welche Präsenz eine einzige, zarte Stimme in einem großen Konzertsaal haben kann, beweist die in letzter Zeit oft so dümmlich angegriffene Akustik der Elbphilharmonie immer wieder auf das Bewegendste.

Aber auch die Wirkung von Lautem ist im Gasteig eine Katastrophe. Es lärmt und fasert, ohne dass sich wirklicher Druck entwickeln würde. Die einzelnen Schichten der Musik verkleistern zu einer hässlichen Masse, hinter der die eigentlichen Fähigkeiten der Orchestermusiker und Stimmen zur Unkenntlichkeit verschwinden. Der riesige Chor scheint Mühe zu haben, sich Gehör zu verschaffen, die erschütternden harmonischen Rückungen (z.B. Libera Me) gehen im gigantischen Akustik-Weichzeichner unter, verpuffen. Den Knabenchor zu separieren und gewissermaßen als Engel von Fern erklingen zu lassen, ist theoretisch eine gute Idee, hat hier jedoch zum Effekt, dass die Stimmen von einem alten, sehr sehr weit entfernt postierten Grammophon in den Saal mumpfen. Es ließen sich noch viele Einzelaspekte dieser akustischen Zumutung anprangern, es fragt sich nur wozu, scheint der Gasteig doch zumindest bis zu seiner geplanten Sanierung/Überarbeitung ein Ort zu sein, den es als Freund des empathischen Musikerlebnisses zu meiden gilt. Wer allen Ernstes noch nicht verstanden hat, warum sich München neben dieser Ohrenversündigung einen weiteren Konzertsaal leisten will und wird – Konzerte wie dieses sprechen Bände.

21. Mai 2019

Orchestre de Paris – Daniel Harding.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 16, Bereich W, Reihe 1, Platz 34



Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 »Pastorale«

(Pause)

Hector Berlioz – Harold in Italien / Sinfonie in vier Sätzen mit Soloviola op. 16

Orchestre de Paris
Antoine Tamestit – Viola
Dirigent – Daniel Harding



Neue Perspektiven auf Vertrautes: Dass dieser Saal nach beinahe 100 Konzerten immer noch neue Facetten für mich bereithält – heute den verblüffend intensiven Appell an meine latente Höhenangst – ist und bleibt wahrlich faszinierend, zumal die luftige Vogelperspektive von 16W auch akustische Neuheiten zu Tage förderte. Man sitzt tatsächlich so weit über dem Orchester, in meinem Fall exakt mittig Vis-à-vis zum Dirigenten, dass sich (wie schon so oft auf andere Weise) ein Klangeindruck ergibt, der mir in dieser Form aus keinem anderen Konzerthaus bekannt ist: Das Orchester unter dem Mikroskop, ein gleichsam transparenter wie homogener Klang, der sich da unter einem emporschwingt, vielleicht etwas leiser als auf näher gelegenen Plätzen, dafür ungemein fein, ja duftig, und ungeachtet der beachtlichen Distanz bzw. des aberwitzigen Höhenunterschiedes doch viel präsenter als erwartet.

Und richtig spannend wird es, wenn das räumliche Element innerhalb des Orchesters ins Spiel kommt. Wie beispielsweise die ersten und zweiten Violinen miteinander interagieren, ja duettieren, hat von oben besehen und belauscht eine ganz eigene Wirkung. Hinzu kommt, dass die Streicher aufgrund der von hier nurmehr indirekt wahrgenommenen Bläser im Tutti nicht ins Hintertreffen geraten, wie ich es schon auf anderen „billigen Plätzen“ auf der gegenüber liegenden Saalseite erlebt habe – das Klangbild bleibt ausgewogen, dementsprechend ergibt sich ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Plätze, die ich all jenen wirklich ans Herz legen kann, die sich von der ersten Kategorie, nicht aber luftigen Höhen abschrecken lassen.

Zum Konzert selbst gibt es gar nicht viel zu sagen, außer dass es sich nahtlos in die Reihe musikalischer Sternstunden einreiht, die ich hier bereits erleben durfte. Das Orchestre de Paris ist das in der kurzen Anmoderation der Programmumstellung angekündigte Spitzenorchester, wovon ich mich bereits vor Jahren in der Laeiszhalle bei einer wirklich unvergessenen 5. Beethoven unter Christoph Eschenbach und einem Heimspiel in der französischen Kapitale (Link) überzeugen konnte. Der spontane Tausch der Werke ist schlüssig, um auf den reduziert/klassisch besetzten Beethoven seinen opulenten Sinfoniker-Erben Berlioz folgen und möglichst viele Kollegen am (tosenden) Schlussapplaus teilhaben zu lassen. Hardings Pastorale ist durch und durch zart und elegant mit Liebe für klangliche Feinheiten (Gedämpfte Streicher in Kombination mit den Hörnern zu Beginn des zweiten Satzes!), alles wirkt rund und fließend. Nicht unbedingt der flott-knackige Ansatz, den ich gewöhnlich bei Beethoven bevorzuge, aber gerade bei dieser Sinfonie und ihrem Charakter zu hundert Prozent zwingend. Zumal Harding sehr wohl das beethovensche Stürmen und Drängen zu entfesseln weiß, namentlich im Gewitter.

Die Harold-Sinfonie – eine meiner liebsten Schöpfungen des verehrten Franzosen – habe ich selten bis nie so fesselnd präsentiert erlebt. Von dem sich zögerlich entwickelnden, dann wahrlich dramatischen Kopfsatz über die verletzliche Lyrik des zweiten und das südliche Flair des dritten bis zur Ekstase des Finales nehmen uns Harding und sein Orchester mit auf eine schillernde Reise durch ein Kaleidoskop der Emotionen und die Möglichkeiten der Instrumentation. Kongenial bekrönt durch den Beitrag Antoine Tamestits, welcher nicht allein durch sein beseeltes Spiel, sondern gleichermaßen eine Art „Personenregie“ den Violapart zum nicht rein akustisch, sondern szenisch teilnehmenden Charakter umformt. So betritt der Solist erst nach der Orchestereinleitung die Bühne, vielmehr nähert er sich zögerlich dem Geschehen, bis er in der Harfe eine erste Kommunikationspartnerin findet.

In der Folge der Sätze variiert Tamesit mehrfach die Position, umkreist die Bühne, um sich immer wieder an Schlüsselstellen der Partitur mit den dort entsprechend zum Einsatz kommenden Orchestergruppen einzubringen, seiner vor allem in Form des Harold-Themas repräsentierten „Rolle“ durch das Stück auch visuell Rechnung tragend – ohne dass dieser „Kniff“ affig oder gar störend wirken würde. Im Gegenteil. Als der Solist dann schließlich mit einigen Kollegen aus dem Orchester die Bühne komplett verlässt, um gemeinsam aus dem Auditorium heraus das Streichquartett zu bilden, welches gewissermaßen als Gegenpol zur Tutti-Raserei des Finales (ein besonderes Kompliment an Harding für dessen gepfefferte Lesart!) aufblitzt, finden das ungewöhnliche Konzept und ein Konzert der Extraklasse seinen effektvollen wie würdigen Abschluss.