19:00 Uhr, freie Platzwahl
Morton Feldman – For Philip Guston
Trio Nexus (Erik Drescher – Flöte, Sebastian Berweck – Klavier und Celesta, Matthias Engler – Schlagzeug)
Es entspricht sicher nicht der idealen Herangehensweise, gänzlich unvorbereitet und dazu mit einer ausgewachsenen Erkältung ein Konzert zu besuchen, in dem das einzige, mir völlig unbekannte, einsätzige Werk des Abends mit viereinhalb Stunden Dauer ohne Pause ausgelobt wird. Unter diesen erschwerten Bedingungen verlief jedoch alles überraschend reibungslos. Nun ja, sieht man einmal von Details ab, daß es beispielsweise der Konzentration mitunter recht abträglich sein kann, ab etwa Stunde zwei nicht mehr durch die Nase atmen zu können. Aber das ist ja unter selbst gewähltem Leid zu verbuchen. Ansonsten gelang es mir, nicht etwa durch Husten oder gar Niesen aufzufallen und konnte dem Werk angesichts einer weitgehend vorbildlichen Konzentration im Saal – Pardon, Halle – meine ungeteilte Aufmerksamkeit angedeihen lassen.
Das „weitgehend“ lag diesmal in der Anlage der Veranstaltung, die den allzu menschlichen Bedürfnissen der Zuhörer über die doch recht beeindruckende Dauer Rechnung zu tragen gewillt war. Der erwartungsfreudige Festivalleiter (offenbar ein ausgemachter Feldmanianer) brachte dann auch in einer kleinen Ansprache, die mehr den Charakter der Sicherheitseinweisung in Flugzeugen hatte, zum Ausdruck, wie man sich zu verhalten habe (!). Sitzverhalten, Flüssigkeitszufuhr, Pinkelpause – alles hübsch ordentlich durchorganisiert. Eben wie sich das für so einen alternativen Abend abseits des Mainstreams und sein erlesenes Publikum gehört. Das sollte man auch im klassischen Konzert und in der Oper einführen. „Wer knistert, fliegt!“ – oder etwas in der Art. Das wär doch ein Anfang. Mein Lieblingszitat: „das soll hier kein Wanderkonzert werden.“ Recht hat er, der Herr Festivalleiter, setzt sich in seinen Sessel (man konnte zwischen Sofas, Sesseln und Klappstühlen wählen) und verfiel daraufhin in den Feldman-Ehrerbietungsmodus. Unsereins hatte es sich auf einem Klappstuhl der Güte Bayreuth 2.0 bequem gemacht und konnte in den folgenden Stunden die Einhaltung des Regelwerks bewundern.
Ach ja, Musik gab's auch – aber dazu später mehr, das „Drumherum“ war an diesem Abend einfach zu faszinierend. Das Publikum bestand aus etwa vierzig Tapferen, die es sich auf ihrem um die zentral postieren Musiker angeordneten Mobiliar bequem gemacht hatten. Für einige wenige ganz verwegene (oder vorausschauende?) Besucher lagen Teppiche mit (Sitz-)Kissen bereit, die dann von geneigten Konzertliegern okkupiert wurden (an einer Stelle meinte man gar ein Schnarchen zu vernehmen ...). Das Verlassen des Saales war als Einbahnstraße konzipiert – durch den Vorhang heraus, einmal um das Gebäude herum, und durch die Hintertür auf Zehenspitzen (oder halt groben Stiefeln) wieder herein. Wobei im Laufe der Veranstaltung sich auf das „Heraus“ immer seltener ein „Herein“ anschloß. Ohne auf den Gehalt der Musik oder die Motivation der Besucher Rückschlüsse ziehen zu wollen, drängte sich mir unweigerlich der Eindruck auf, den inoffiziellen Kampnagel-Meisterschaften im Experimentalmusik-Pfahlsitzen beizuwohnen. Allerdings in Kombination mit dem beliebten Spiel „Reise nach Jerusalem“, denn nicht selten folgte dem „Heraus“ und „ Herein“ ein ungläubiges „Hallo“. In der Schule sagte man in solchen Fällen immer: „weggegangen – Platz vergangen!“ Dabei war man ja durch die Festivalleitung gewarnt – Stichwort Wanderkonzert. Wobei man sich da von offizieller Seite mit der Installation der Wasserstelle in einer Hallenecke selbst eine Hundetür ins Regelbollwerk geschnitzt hatte, von der das durstige Volk reichlich Gebrauch machte. Die Ankündigung, es gäbe dort „Stilles Wasser“(!), löste übrigens bei einer Dame einen Lachflash aus. Ungeachtet meiner despektierlichen Darlegung muß ich dem Publikum insgesamt mein Kompliment aussprechen. Vor allem vor dem Hintergrund der Aufführungsdauer war es eine äußerst konzentrierte, disziplinierte Angelegenheit.
Von den angesprochenen Umständen abgesehen war man mucksmäuschenstill und lauschte dem Dargebotenen. Kein Getuschel, kein Bonbongeraschel, kein Gehuste. Von solch einer Atmosphäre kann man im „normalen“ Konzertbetrieb nur träumen – wobei der Vergleich 2000, alle Interessegrade aufweisender Laeiszhallenbesucher mit diesen vierzig „Berufenen“ natürlich hinkt. Ich möchte meine Erörterungen der Begleitumstände mit der verblüfften Feststellung abschließen, daß die angesprochenen „Wanderungen“ nicht etwa mit fortschreitender Dauer zunahmen, sondern sich in Wellen vollzogen. Sehr putzig zu beobachten. Herdentrieb? Zufall? Darüber sind sicher bereits an anderer Stelle entsprechende Studien getätigt worden.
Kommen wir also zur Musik. Die Kompositionen Feldmans waren mir bis dahin vollkommen unbekannt, der Name ist mir zwar hier und da begegnet, mehr aber auch nicht. Ich kann daher nicht sagen, inwiefern dieses Werk stellvertretend für seine Arbeit ist, angesichts der ausgedehnten Dauer konnte ich mir zumindest hiervon ein Bild machen. Erst einmal wird das gewaltige Ausmaß nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, dazu genutzt, großformatige Strukturen zu realisieren. Lange Bögen, große Steigerungen oder Ähnliches sind offenbar nicht Feldmans Sache. Darüber hinaus gibt es kaum Variation in Tempo und Dynamik. Das Werk besteht vielmehr aus vielen, meist recht kurzen, mehr oder weniger miteinander verbundenen Einheiten, die sehr getragen im piano, maximal mezzoforte vorbeiziehen. Bei den einzelnen Segmenten sind allerdings durchaus unterschiedliche Prinzipien, sagen wir mal Charakterzüge zu erkennen. Diese verschiedenen Prinzipien werden über den Abend hin variiert, häufig auch wiederholt, infolge dessen man schließlich immer wieder „Vertrautes“ hört.
Freunde der Melodie, gar der thematischen Entwicklung, kommen allerdings nicht auf ihre Kosten. In der Regel besteht die Musik aus einzelnen, getrennten Akkorden oder Intervallen, die ein Musiker „vorgibt“(häufig der Pianist), auf die die anderen Musiker ebenfalls mit einzelnen, kargen Äußerungen antworten. Dabei wechselt das „tonangebende“ Instrument immer wieder. Andere Einheiten bestehen im Kern aus Ostinatofiguren, die diesen Stellen ein rudimentäres Philip-Glass-Gepräge geben. Dies sind auch die einzigen Momente der Partitur, in denen das Spiel leicht Fahrt aufnimmt. Wobei wir hier von Abstufungen zwischen „nahezu Stillstand“, „sehr breit, zerfasert“ über „langsam“ bis maximal „gemächlich“ sprechen. Zerfasert trifft es insgesamt ganz gut. Ein wirkliches „Entstehen“ ist nicht zu beobachten, ist offenbar auch nicht intendiert.
Worin liegt also der Reiz in dieser Musik? – Um dies vorwegzunehmen: mir hat er sich nicht erschlossen. Zum einen geht es wie gesagt nicht um die große, komplexe Form, die den Hörer fordert. Die einzelnen Zutaten sind dafür – neben der Strukturfrage – zu simpel, ja zum Teil regelrecht gefällig. Die Ton- und Akkordfolgen sind weitgehend harmonisch, unkompliziert – nur eben sehr zerdehnt. Der Hörer wird nicht mit Dissonanzen (oder überhaupt interessanten Kombinationen ...) konfrontiert. Auf der anderen Seite scheint es Feldman aber auch nicht darum zu gehen, die Zeit zu nutzen, um den Zuhörer in einen Fluß kommen zu lassen. Dazu sind die einzelnen Segmente viel zu kleinteilig und darüber hinaus rhythmisch zu komplex, um fließen zu können. Ein wiederkehrendes Element besteht beispielsweise darin, daß die Musiker „asynchron“, dabei stetig verlangsamend spielen. Als pseudospiritueller Trip für Trancejünger ist die Musik daher auch denkbar ungeeignet.
Welches Konzept steht also hinter dieser Musik? Nun, ich bin nicht dahinter gekommen. Ich bin insbesondere überfragt, was den Komponisten bewogen hat, die beschriebenen Prinzipien über viereinhalb Stunden auswalzen zu müssen. Angesichts einer unleugbaren Nicht-Großform, vor allem auch in Betracht der Fülle an Wiederholungen, nähme das Material, der Gehalt des Stückes meiner Ansicht nach keinerlei Schaden, wenn er auf sagen wir mal zwanzig bis dreißig Minuten eingedampft präsentiert würde. Womit ich nicht das musikalische Material als solches schlecht machen möchte. Ich gebe zwar zu, daß wohl insgesamt wenig für mich dabei rum kommt, da ich am Ende des Tages kein Freund der rein – ich betone rein – experimentellen Musik bin. An Experimenten als solchen habe ich wenig Interesse. Trotzdem habe ich durchaus interessante Passagen erlebt, die ich jetzt ganz sicher nicht wie die Stecknadel im Heuhaufen in etwaigen CD-Mitschnitten suchen werde. Dafür gibt es dann doch für mich ergiebigere Quellen.
Über die Qualität der Aufführung kann ich nicht viel sagen, außer, daß die Musiker allein für die Durchführung Respekt verdienen. Der Pianist besitzt einen differenzierten Anschlag, dem Flötisten (der stetig zwischen drei Instrumenten zu wechseln hatte) war zum Ende hin durchaus die Anstrengung anzumerken – da half auch sein Flötenständer offenbar nur bedingt. Ganz kalt gelassen hat mich das Konzert in keinem Fall. Vielleicht müßte ich mich mal mit jemandem unterhalten, der mir etwas zu Feldmans Vita und Beweggründen erzählen kann. Im Zweifel hätte das einer der vierzig Tapferen sein können. Denn bei aller Witzelei hoffe ich inständig, daß die Motivation bei den meisten unter den Besuchern sich nicht allein darin erschöpft hat, beim nächsten Intellektuellentreff die Runde zu beeindrucken: „ach ja, und dann war ich noch auf diesem Festival für experimentelle Musik, ein Konzert viereinhalb Stunden ohne Pause – Feldman, ihr wisst schon ...“