29. Oktober 2019

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks –
Mariss Jansons. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Wolfgang Amadeus Mozart – Konzert für Klavier und Orchester
A-Dur KV 488 (Rudolf Buchbinder)

Zugabe Solist:
Johann Sebastian Bach – Gigue aus: Partita Nr. 1 B-Dur BWV 825

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93

Zugabe Orchester:
Dmitri Schostakowitsch – Zwischenaktmusik aus der Oper »Lady Macbeth von Mzensk«



Endlich mal Mozart, den man gebrauchen kann – zumindest der langsame Mittelsatz liefert mit seiner Melancholie ein erfreuliches Gegengewicht zum gefälligen Virtuosentum der ihn umschließenden Nachbarn. Als Appetizer durchaus aushaltbar. Buchbinders Zugabe schien dann eher der Schublade Koordinations-Demonstration entsprungen. Bisschen nüchtern, aber ok. Das alles war ohnehin nur ein freundliches Warmwerden für Jansons und seine Truppe, um den Hauptgang nach der Pause zu servieren – Schostakowitschs Zehnte.

Was für ein Kopfsatz! In seinem stetigen Aufbau, der immensen Komplexität der Struktur und dem damit verbundenen Anspruch an die Konzentrationsfähigkeit kaum steigerungsfähig, aber in solch zwingender Darbietung einfach unbeschreiblich erhebend wie erschütternd. Die kurze Scherzo-Blendgranate im Anschluss fast wie das Drücken eines Reset-Knopfes der Rezeptoren. Elementar, unentrinnbar. Die folgenden beiden Sätze verlangen dem Hörer wieder einiges ab, auch das Finale sträubt sich lange gegen die erlernte Apotheose, liefert mit seinem skandierten D-Es-C-H eher trotzigen, denn befreienden Jubel.

Was für ein Werk, was für ein persönliches Bekenntnis. Stalin hin oder her, Schostakowitsch löst hier in jedem Fall große Ventile der Ohnmacht und der Ungewissheit. Die Interpretation durch Jansons und seine Münchner besitzt dabei wieder einmal absoluten Referenzcharakter. Es ist die pure Wonne, diesem Fluss der Unerbittlichkeit in Vollendung zu folgen, mit dem Sog hinfortgerissen zu werden. Das Konzert als intellektuelle wie physische Erfahrung. Das kompromisslose Lebendigmachen einer Partitur, die keine Kompromisse kennt. Die vielleicht beste Leistung einer an Höhepunkten wahrlich bereits reichen Saison. Einfach immer wiederkommen!

21. Oktober 2019

Royal Stockholm Philharmonic Orchestra –
Sakari Oramo. Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Katarina Leyman – Solar Flares

Felix Mendelssohn Bartholdy – Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64 (Alina Pogostkina)

Zugabe der Solistin:
Darius Milhaud – Suite op. 157b für Violine, Klarinette und Klavier

(Pause)

Edward Elgar – Sinfonie Nr. 1 As-Dur op. 55

Zugabe des Orchesters:
Edward Elgar – Pomp and Circumstance / Fünf Militärmärsche für Orchester op. 39 Nr. 1



Leyman: Sehr gefällige, tonal gefestigte Programm-Musik, der nur die Abwesenheit von nennenswerter Melodik den Eintritt in die Eumel-Gunst verwehrt. Orchesterklang wirklich beeindruckend. Facetten, Details, butterweiche Blechglissandi ohne Ansätze etc.

Mendelssohn: Diese Musik kann ich nur in Interpretationen ertragen, die aufs Ganze gehen, Kante, ja am besten spröden Verve an der Grenze zur Aggressivität reinbringen. Das war heute leider nicht der Fall. Zu konventionell, zu vorhersehbar – „Dramatik“ vom Reißbrett. Frau Kopatchinskaja, übernehmen Sie! Pogostkina mit durchaus schönem Ton, aber wenn dann nur fürs Sanfte zu gebrauchen. Oramo blass, und dann stets diese ekelhafte gemütliche Heiterkeit des Werks. Befremdlich: zweiter Satz mutiert durch ein recht schnelles Tempo und gebundene Phrasierung regelrecht ins wogend Tänzerische, daher null Emphase. Zugabe: Irgendein Satz aus irgendeiner Suite – ein nettes, unerhebliches Duett mit dem Solo-Klarinettisten. Passt irgendwie dazu.

Elgar: Nicht mein Stück (leider, mag ich doch Elgar und hatte ich mich ehrlicherweise einzig auf diesen Programmpunkt gefreut), aber Oramo ist doch wohl kein Langweiler. Problem: Mir gefällt, was er macht, mir gefällt, was Elgar macht – nur leider nicht woraus Elgar es macht. Das die Sinfonie durchziehende Motto-Thema finde ich nur semi-spannend, was im Wesentlichen das weitere melodische Material meist ebenfalls betrifft (Adagio-Thema). Trotzdem ein interessantes Stück, dem ich sicher noch weitere Chancen einräumen werde. Ein Bombenfinale (auch hier: bezogen auf Instrumentation und Verarbeitung, weniger auf das Verarbeitete), und Stockholm mit unbestreitbarem Weltklassesound. Vgl. allein die Hörnersektion mit den traurigen NDR-Ergebnissen letzte Woche – seufz.

Fazit: Aus einer durchwachsenen Erfahrung sticht die überraschende Entdeckung eines absoluten Spitzen-Klangkörpers heraus.

17. Oktober 2019

NDR Elbphilharmonie Orchester –
Herbert Blomstedt. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 4, Platz 19



Joseph Haydn – Sinfonie D-Dur Hob. I:104 „Londoner“

(Pause)

Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 6 A-Dur



Also bis auf den Klangeffekt, den die tiefen Hörner zu Beginn des Finales in Kombination mit den über sie hinweg tanzenden Figuren der Streicher und Holzbläser schaffen, bietet Haydns Letzte mir leider bitter wenig. Dabei möchte ich diesem Komponisten gern gewogen sein, wo ich mich bei Mozart schon fasst mit meiner Gleichgültigkeit abgefunden habe. Auf theoretischer Basis kann ich durchaus nachvollziehen, wie die Sinfonie von für ihre Zeit sicher interessanten Ideen und Eigenheiten durchzogen ist, die letztlich auch Haydns Handschrift ausmachen. Und wahrscheinlich liegt das Hauptproblem in meiner Aversion gegen diesen spezifisch unbekümmert heiteren Ton, der weite Teile des Werkes dominiert.

So oder so, es hilft nichts – der Einstieg in den Abend gerät heute für mich zur Geduldsprobe. Daran ändert auch Blomstedts Zugang wenig, dem eine frische, durchaus lebendige Sicht auf das Ganze nicht abzusprechen ist. Der NDR klingt von meinem umgetopften Aboplatz aus sehr honorig, wenn auch gelegentlich wahrgenommene oder eingebildete Verschwommenheiten in der Präzision des Zusammenspiels ein wenig das Bild trüben. Randnotiz: Das NDR Abopublikum scheint zum Klischee des Altersdurchschnittes bei klassischen Konzerten noch einmal eine Schippe draufzulegen, oder bilde ich mir das ebenfalls nur ein?

Der erste Satz von Bruckners Sechster geht mehr oder weniger als Gewöhnungsphase für den NDR drauf, dessen Ausbaufähigkeit in Sachen Klang und Technik von diesem schönen Platz tatsächlich noch etwas unschöner zu Tage treten. Spätestens jedoch mit Beginn des wahrlich nichts weniger als himmlisch zu bezeichnenden Adagios übernimmt das Phänomen Blomstedt das Kommando über die Wirksamkeit dieser im allgemeinen Konzertzirkus maßlos unterschätzten Sinfonie.

Wie der Maestro sanft und mit genau dem richtigen Atem das Geflecht tastend, aber unaufhaltsam zur Entfaltung bringt. Es mag nicht Bruckners gewaltigster langsamer Satz sein, aber mit Sicherheit einer seiner schönsten. Allein der Einsatz der Streicher nach der Horngruppe gehört zum Besten aus der Feder des Kathedralen-Sinfonikers, zum Besten überhaupt. Es kommt natürlich heute noch hinzu, dass ich genau dieses Adagio nach Mahlers 9. wirklich gebraucht habe – Trost, ehrlicher, gütiger Trost, nach dem großen Fragezeichen. Aber auch jenseits des Zustandes, der die Zeit anzuhalten scheint, hat Blomstedt heute die richtigen Mittel, mir diese Sinfonie noch einmal mehr als Herz zu legen.

Das Scherzo keck und zackig – einfach das perfekte Timing, ergo eine perfekte Interpretation. Und schließlich der letzte Satz: vielleicht nicht das Überfinale, aber ebenfalls auf seine Art vollkommen. Besonders anrührend dabei für mich die immer wiederkehrenden „Mild und leise“-Zitate – hier jedoch eher Güte und Wärme denn Weltabschied verströmend. Dennoch ein Satz der Brüche, der Vielseitigkeit mit seinen stetigen Stimmungswechseln. In Blomstedt fand sich exakt der richtige Anwalt für diese Musik, das Konzert brachte für mich noch einmal eine (eigentlich peinlich einzugestehende) enorme Aufwertung der Sechsten, die bei mir unsinniger Weise auch immer etwas unter dem Radar lief. Doch wie heißt es so schön: besser spät als nie.

7. Oktober 2019

City of Birmingham Symphony Orchestra –
Mirga Gražinytė-Tyla. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 1



Benjamin Britten– Sinfonia da Requiem op. 20

(Pause)

Michael Tippett – A Child of Our Time / Oratorium für Soli, Chor und Orchester

City of Birmingham Symphony Orchestra
CBSO Chorus
Claire Booth – Sopran
Felicity Palmer – Alt
Joshua Stewart – Tenor
Brindley Sherratt – Bass
Dirigentin – Mirga Gražinytė-Tyla



Frau Gražinytė-Tyla eilt ja aktuell ein ziemlicher vielversprechender Ruf voraus, da war mit Brittens „Sinfonia da Requiem“ im Programm die Gelegenheit gegeben, ihren Stil anhand eines sehr vertrauten, vielmehr innig verehrten Werkes zu überprüfen. Da ist es natürlich weder unwahrscheinlich noch abschließend aussagekräftig, enttäuscht zu werden. Frau Gražinytė-Tyla spult die Partitur keinesfalls herunter (was ich wohl keinem Dirigenten verzeihen könnte), sondern bringt im Gegenteil ihre Version der drei Sätze zur Entfaltung – die dummerweise nur bedingt mit meiner Sicht auf das Stück korrelieren. Britten selbst hat da ja auch bereits gut vorgelegt, seine Einspielung darf getrost als Referenz angesehen werden, an der man erst mal vorbeikommen muss.

Das gelang heute für meine Begriffe nicht: Während der erste Satz, die Wehklage, etwas zu glatt und getragen, ja teilweise schleppend vorgetragen wurde, legte die Dirigentin für das tröstliche Finale, gewissermaßen die Verklärung, ein deutlich zu schnelles Tempo an den Tag, welches die Phrasierung der wirklich himmlischen Melodiebögen fast schon hastig und kurzatmig vollziehen ließ. Dem aufgewühlten, zornerfüllten Mittelteil fehlte es mitunter an Schärfe, wobei ich mit diesem Satz noch am ehesten mitgehen konnte. Das Orchester aus Birmingham klingt gut bis sehr gut – der Eindruck früherer Gastspiele bestätigt sich hier.

Nun gut, für die Nicht-Britten-Fanboys unter uns stand ja der Hauptgang noch bevor, in Form von Tippetts großem Oratorium. Um es kurz zu machen: Ich mag das Stück nicht sonderlich. Habe es vor Jahren einmal live gehört, das müsste im Gasteig gewesen sein. Heute der zweite Anlauf. Meine Probleme mit dem Werk sind die gleichen geblieben: Einerseits finde ich weder Tippetts Harmonik noch Melodik besonders fesselnd, zu konservativ tonal ist mir das. Da bin ich durch Britten und Schostakowitsch verdorben. Andererseits befremdet mich die eigentliche Haupttat des Komponisten, die die Partitur zu etwas fraglos Besonderen macht, bis ins Mark – die Integration der Spirituals. Ich möchte nicht abstreiten, dass ihre Einbindung mit größter Kunstfertigkeit vollzogen ist, dennoch bekomme ich dieses „Crossover“ aus Bach 2.0 und den Slavengesängen nicht unter ein Ohr. Wobei ihr unmittelbarer Wiedererkennungswert sicher zur Massentauglichkeit des komplexen Ganzen nicht unwesentlich beiträgt.

Ich habe dem CBSO Chorus so oder so gern und gebannt zugehört, und auch die Solisten ließen kaum zu Wünschen übrig. Einzig die Sopran-Einspringerin Claire Booth hatte hier und da offenbar Probleme mit der Höhe bzw. den Spitzentönen, wobei ich ihre Stimme an sich als sehr passend empfunden habe. Meine beiden Favoriten waren Joshua Stewart, der mit absolutem Feuereifer bei der Sache war und über einen wirklich strahlenden Tenor verfügt, sowie die Altistin Felicity Palmer, die sich auch mit ihrem leicht fortgeschrittenen Alter eine unglaubliche stimmliche Frische und Präsenz bewahrt hat. Brindley Sherratt komplettierte mit vollem, sonoren Bass das wunderbare Ensemble.

Fazit: Am Ende vielleicht nicht der richtige Rahmen, um die junge Dirigentin kennenzulernen, aber sicher kein vertaner Abend.

1. Oktober 2019

Philharmonia Orchestra – Esa-Pekka Salonen.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 9 D-Dur


Mahlers Neunte – in schöner Regelmäßigkeit ein Garant für Hyperventilation und Herzklabaster, eben was sich halt so Schönes und Erbauliches aus Musik mitnehmen lässt. Nach den letzten beiden Volltreffern mit Jonathan Nott (Link) und dem mittlerweile leider verstobenen Jeffrey Tate (Link), beide auch schon wieder einige Jahre her, sollte sich diese Spielzeit gleich mehrfach die Gelegenheit ergeben, mich meiner absoluten Lieblingssinfonie in der Elbphilharmonie auszusetzen. Neben dem Philharmonia Orchestra haben noch der SWR mit Currentzis, das Royal Concertgebouw Orchestra, die San Francisco Symphony sowie das NDR Residenzorchester die Neunte als Beitrag für Hamburg im Gepäck – die reinste Weltschmerzinflation. Da will es wohl überlegt sein, wie oft und mit wem man sich in diesen emotionalen Abgrund stürzt.

Esa-Pekka Salonen und das Philharmonia Orchestra sind eine Kombination, auf die ich seit jeher schwöre. Ob Bruckner-Entschlackung, Dampfhammer-Sacre oder subtiler Sibelius – die Liste außergewöhnlicher Konzerterlebnisse wächst mit den Jahren. Heute sollte sich keine Ausnahme davon einreihen. Bereits nach dem gewaltigen Kopfsatz war ich mehr als bedient. Brutaler, zerrissener, erdrückender kann man einem dieses heißgeliebte, halbstündige Monstrum aus Seufzermotiven, Erinnerungsfetzen und Niederschlägen kaum entgegenschleudern. Der eigentliche Clou des Abends war jedoch fraglos die Präsentation der beiden Mittelsätze. Im Nachhinein hätte ich mir vielleicht denken können, das Salonen gerade diese grotesken Ruinen des Tänzerischen besonders liegen müssen, ist er doch immer ein Experte für alles rhythmisch Forcierte gewesen.

Diese Schärfe, diese Härte, diese elementare Wucht einer sich unbarmherzig in Auflösung befindlichen Musik – erschreckend und faszinierend zugleich. Ich muss Herrn Salonen in gewisser Weise dankbar sein, dass seine Interpretation des ins Unendliche hinausgezögerten, selbstzerfleischenden Abschieds vom Leben und der Welt, des ins Mark schneidenden Schluss-Adagios, vergleichsweise milde, fast schon nüchtern gefasst ausfiel, ansonsten hätte es wieder einmal noch böser für mich enden können. Es muss schon eine gewisse masochistische Grundlage gegeben sein, sich auf diese wonnigen Qualen sehenden Auges, Ohres und Herzens einzulassen. Aber was soll ich machen – das süße Gift, es brennt so tief.