18. März 2013

Junge Deutsche Philharmonie – Jonathan Nott.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 9


Krankenbericht.

Erneuter Ausbruch der gefürchteten Mahleritis ohne vorherige Anzeichen. Nach minimaler Inkubationszeit zeigte der Patient heftigste Symptome des bekannten Leidens, insbesondere nach Kontakt mit dem vierten Satz des Erregers: Bedenklicher Anstieg der Herzfrequenz; flache, stoßweise Atmung; das unvermittelt einsetzende Verlangen, sich jeglicher Tränenflüssigkeit zu entledigen; das schrittweise Ertauben der Hände, Arme und Beine, schließlich ergänzt durch Krämpfe in der muskulären Substanz der genannten Extremitäten.

Ferner klagte der Patient über einen stechenden Schmerz in der Brust sowie Schwindel mit einhergehender signifikanter Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinns (insbesondere bei den Bemühungen festzustellen, nach dem Verklingen des Bazillus den Saal zu verlassen). Das restlose Fernbleiben der Befähigung zu verstandesgemäßer Wahrnehmung für eine nicht zu unterschätzende Zeitspanne legt weiterhin den Verdacht nahe, daß diese Art der infektiösen Freizeitgestaltung einem gesunden Lebenswandel nach ärztlichem Ermessen aller Wahrscheinlichkeit nach in höchstem Maße abträglich gegenübersteht.

Um das konsequente Fernbleiben von Seufzermotiven jeglicher Art sowie Sinfoniesätzen über Haydn-Dimensionen hinaus wird im Hinblick auf das Wohl des Patienten nachdrücklichst ersucht und zwecks baldiger Genesung dringend zur Verbringung in ein nahegelegenes ruhiges Komponierhäuschen an einem Gebirgssee ihrer Wahl geraten.


Konzertbericht.

Wir halten fest: Die Junge Deutsche Philharmonie ist ein sehr gutes, wenn auch vielleicht nicht in allen Punkten überragendes Orchester, aber was der werte Herr Nott an diesem Abend im Glanz der alten Laeiszhalle mit den jungen Damen und Herren zu Gehör brachte, war buchstäblich unbeschreiblich.

Oder besser: es ließe sich schon vieles beschreiben – wenn man denn wollte. Angefangen bei Details der Ausführung, die gar nicht mal als perfekt im technischen Sinne zu bezeichnen wäre. Die üblichen Unsicherheiten hier, ein verspäteter Einsatz da, eine zu grob angemischte Klangfarbe in einer bestimmten Phrase dort – aber eben auch ein unerschütterliches Fundament für eine ganz besondere Darbietung voller Leidenschaft und Sensibilität.

Es ließe sich nachspüren, mit welchen Mitteln der Interpretation es Herrn Nott gelungen ist, ein derartiges Erlebnis zu schaffen – zumindest bezogen auf die ersten drei Sätze, in denen ich noch phasenweise bei Verstand war. Schärfste Kontraste in Dynamik und Tempo, energische Wechsel, ohne dabei je den Faden zu verlieren, dazu die ganze Ausdruckspalette in all ihren Schattierungen, kurz: Mahler, wie man ihn besser nicht bringen kann.

Aber all diese möglichen Beschreibungen vermöchten doch nicht die Summe des Konzerterlebnisses zu bilden. An einen solchen Abend gebührt es der ratio zu Schweigen, denn er gehört einzig und allein dem Mysterium der Empfindung.