29. März 2013

Werther – Jens Troester.
Großes Haus Gera.

18:45 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 6, Platz 2

















Unter uns: Oper ist schon was für Perverse. Dieses ewige voyeuristische Weiden am Gesterbe auf großer Bühne. Gibt es auch immense Unterschiede in den Operntraditionen und -Vorlieben der verschiedenen Nationen, eint sie doch alle diese Lust am zelebrierten Siechtum.

Auch in Gera wurde wieder schön gestorben, technisch gesehen verbringt der gute Werther den gesamten vierten Akt damit, aus dieser Welt zu scheiden – wobei er eigentlich schon ab seinem ersten Auftritt (innerlich) zu Vergehen beginnt. Diesen Umstand nutzt die Regie für eine interessante Sichtweise auf den Charakter der Hauptfigur und deutet deren fortwährendes Schwelgen und Leiden als Ausdruck eines romantisch verklärten Narzissmus. In dieser Inszenierung dreht sich Werthers Welt in erster Linie um – Werther. Die anderen Beteiligten sind dabei Statisten auf seiner selbstverliebten und selbst auferlegten Herzschmerz-Tournee mit von Anfang an einkalkuliertem großem Abgang als letztem Bühneneffekt. Unter diesen Vorzeichen gerät die unerfüllbare Liebe zu Charlotte weniger zum Auslöser seiner Tragödie, als vielmehr zum Mittel, seinen autoaggressiv-schwärmerischen Neigungen nachzugehen.

Folglich betritt der Werther dieser Inszenierung die Bühne bereits in der selben schmerztrunkenen Pose, die er den gesamten Abend beibehalten wird. Sein wichtigster Bezugspunkt ist nicht Charlotte, sondern sein zweites Ich, das ihm in Form eines Schauspieler-Doppelgängers Impulse seines Handelns zu geben scheint und auch in seinem Abgesang eine zentrale Rolle spielen wird. Eine wirkliche Entwicklung ist jedoch bei ihm nicht festzustellen. So taumelt er als eine Art Emo-Prototyp im Rausch der Gefühle durch das Geschehen, das Rot des Weines im edlen Kristall in Händen als einzigen, symbolhaften Farbtupfer seiner stets schwarz gewandeten, bleichen Gestalt.

Überhaupt dominiert die Produktion eine reduzierte Schwarzweiß-Ästhetik, die deutliche Bezüge zur Stummfilmzeit, aber auch zu Scherenschnitten bzw. Schattenrissen des 18. und 19. Jahrhunderts herstellt. Die Lichtregie sorgt immer wieder für Gegenlichtsituationen, die Zwielicht und beklemmende Schattenwirkungen erzeugen. Roland Schwab geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er das ganze Werk als „Moritat vom Schatten“ inszeniert bzw. umbenennt, angefangen bei typischen Zwischentiteln in Stummfilmoptik, die den einzelnen Akten vorausgestellt sind bis hin zur Umdeutung der Figuren Schmidt und Johann zu Moritatensängern, die den Verlauf der Handlung immer wieder auch pantomimisch kommentieren.

Gerade dieser Kunstgriff mag befremdlich klingen, erwies sich in der Anwendung auf das Stück jedoch als gelungene zweite Ebene, die dem mitunter vielleicht naiv-romantisch überzeichnet scheinenden Moment der Oper seine schmerzliche, dabei auch allgemeingültig menschliche Seite abgewann. Gelungen auch deshalb, weil trotz aller Ironie, ja beißender Häme in den Kommentaren der stummen Bänkelsänger dem Werk und seiner schwärmerischen Musik kein Leid angetan, sondern deren Tragik eher noch gesteigert wurde. Weitere sporadische Details wie ein stummer Selbstmörder oder der marionettenhaft tanzende Chor, bleich geschminkt mit dunklen Augenhöhlen, unterstreichen die morbide Grundstimmung.

Das karussellartige Bühnenbild bietet durch die Drehungen viele Möglichkeiten der nahtlosen Szenenwandlungen und weckt mit seiner angedeuteten Weihnachtspyramiden-Anmutung Assoziationen zur heilen, gemütlichen Welt der Familie, die Werther gleichzeitig ersehnt und doch auch als Gegenentwurf auf seinem Weg als Märtyrer der Romantik zu brauchen scheint. Besonders beeindruckend wurde die Annäherung Werthers und Charlottes im dritten Akt realisiert. Die Steigerung der Musik fand hier in dem durch die Drehbühne endlos wirkenden, immer energischerem Nachsetzen Werthers, dem Charlotte unaufhörlich neue Absperrbänder in den Weg zu knüpfen versucht, eine starke visuelle Entsprechung.

Für das Orchesterzwischenspiel vor dem großen Sterbefinale wurde eigens ein kurzer Stummfilm angefertigt, der Werther auf seiner (Realitäts-)Flucht zeigt, verfolgt von Charlotte und den Dämonen des Hohns. Das Sterben an sich überläßt er dann seinem Doppelgänger, in dessen Brust das Nick Cave Zitat „Let Love in“ geritzt ist. Charlotte und der hinzukommende Damenchor schließlich rahmen als tableau vivant den Verstorbenen im Stile einer Pietà – Der Freitod als romantische Pose ist vollbracht. Werther selbst geht, wie er gekommen ist, mit dem Weinglas in der Hand. Er entzieht sich dem Geschehen durch die Tür des Theatersaales, so als wäre auch für ihn alles nur eine Inszenierung gewesen – seine Inszenierung.

Leider konnte die musikalische Umsetzung an diesem Abend nicht mit den Finessen der Regiearbeit mithalten. Sänger und Orchester lieferten eine ordentliche Leistung, insgesamt betrachtet liegen jedoch Welten zwischen heute und den Wonnen, die seinerzeit in Magdeburg der Partitur abgelauscht wurden (Link). Dennoch hat sich mein erster Eindruck bestätigt – Diese Oper ist eine Perle. Orchester und Dirigat stellten dies auch in Gera unter Beweis, wenn auch mit etwas weniger Nachdruck. Das heute vergleichsweise brav intonierte düstere Posaunenmotiv sei dafür nur ein kleines Beispiel. Intonation ist dann auch das Stichwort, wenn es um die Ensembleleistung geht. Die Sänger der Hauptpartien haben jeweils ihre Vorzüge, teilweise jedoch unüberhörbar mit dem Sitz der Töne zu kämpfen. Darüber hinaus neigt Herr Kim bei den Spitzentönen doch arg zum Forcieren – wobei er an sich eine recht schöne Stimme besitzt.

Nicht falsch verstehen – es gab diverse Momente musikalischer Schönheit an diesem Abend, namentlich in den innigen, ruhigen Passagen, auch und gerade in den Duetten des Paares und den solistischen Auftritten Frau Schneidereits, nur trauert ein Teil von mir dem nicht ganz umgesetzten Potenzial dieser Produktion nach, das vor allem in der verheißungsvollen Inszenierung begründet lag. So sind sie halt, die Perversen – halb schön gestorben reicht ihnen eben nicht.


Jules Massenet – Werther
Musikalische Leitung – Jens Troester
Inszenierung – Roland Schwab
Bühne, Kostüme, Video – Piero Vinciguerra
Dramaturgie – Felix Eckerle
Choreinstudierung – Ueli Häsler
Kinderchoreinstudierung – Susanne Hoch
Regieassistenz – Heike Kley
Studienleiterin – Claudia Gebauer

Werther – Bernardo Kim
Albert – Johannes Beck
Le Bailli, der Amtmann – Kai Wefer
Schmidt – Erik Slik
Johann – Heiko Retzlaff
Brühlmann – Gonzalo Diaz
Charlotte – Eva Schneidereit
Sophie – Katie Bolding
Kätchen – Annick Vettraino
Kinder des Le Bailli
Werthers Alter Ego – Marco Schmidt

Damen des Opernchores
Philharmonisches Orchester Altenburg-Gera