12. Dezember 2017

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen – Paavo Järvi.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich  Q, Reihe 2, Platz 31


Richard Wagner – Waldweben / Aus: Siegfried WWV 86 C
(Arrangement von Hermann Zumpe)
Sergej Prokofjew – Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 g-Moll op. 63 
(Viktoria Mullova)
Zugabe: Misha Mullov-Abbado – Brazil

(Pause)

Johannes Brahms – Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Zugaben:
Johannes Brahms – Ungarischer Tanz Nr. 3 F-Dur
Johannes Brahms – Ungarischer Tanz Nr. 10 F-Dur


Mein erstes Konzert hinter dem Orchester – gar nicht so übel. Der typisch duftige Klang, den man mit zunehmender Höhe erlebt, funktioniert auch aus dieser Perspektive. Allerdings macht sich von hier aus bisweilen eine Dominanz der Bläser bemerkbar, die gerade im Brahms das klassische sinfonische Gefüge, welches in der Regel von den Streichern getragen wird, teilweise auf den Kopf stellt – weiter unten sollte man wirklich nicht sitzen, es sei denn, man möchte bewusst beim Bläserapparat ganz dezidiert einen Blick unter die Haube bzw. die Ventile riskieren.

Trotzdem sind feinste Klangmischungen erlebbar – gleich im Waldweben erweisen sich Järvi und sein Orchester als ideale Fürsprecher des Delikaten. Das Prokofjew-Konzert hat mich auf den ersten Blick nicht so angemacht, trotz vieler interessanter Klangwirkungen (z.B. Trompeten plus Solistin). Da schien mir das erste Konzert, welches ich vor kurzem an gleicher Stelle erleben durfte, auf Anhieb spannender (Link). Mullova tadellos, sieht man einmal von leicht befremdlichen Koordinations-Schockmomenten ab (Das Ab- und wieder Anmontieren der Schulterstütze im laufenden Betrieb führte zu einer unfreiwilligen Hatz, bei der sie ihren Einsatz knapp verpasste, wobei Järvi netterweise wartete. Ebenso mutete die Dämpfer-Jonglage gleichsam riskant an). Generell bestätigt sich der Eindruck, dass der Saal Geiger nicht so glänzen lässt, eine gewisse Distanz ist nicht zu leugnen, zumindest auf diese Entfernung. Wobei es sich bei der Zugabe handelte, konnte ich angesichts der Äußerung Richtung Parkett nicht vernehmen – zaubern kann die Akustik halt auch nicht. Glücklicherweise wird das Programm in der Regel im Nachhinein noch auf der Elbphilharmonie-Seite um die Zugaben ergänzt, so konnte ich nachlesen, dass es sich dabei um ein Stück ihres Sohnes handelte.

Nun zu Järvi: Der Mann der kleinen Gesten (was für ein Kontrast zu Frau Hannigan gestern) – so kontrolliert sein Dirigierstil anmutet, so effektiv wie effektvoll ist er. Die Kammerphilharmonie Bremen lässt die Bezeichnung Kammerorchester nicht als Einschränkung gegenüber auf die reine Musikerzahl bezogen „großen“ Orchestern erscheinen, sondern definiert die Gattung mit vorbildlicher Transparenz und Flexibilität ohne dabei auch nur einen Funken Power zu vermissen. Und um Power ging es dann auch nach der Pause: Das war ohne Zweifel der knackigste, kompromissloseste Brahms, den ich je gehört habe. Wenn man ein Stück wie dieses, das man aufgrund seiner Allgegenwart im Konzertbetrieb wie seine Westentasche zu kennen glaubt, in derart neuem Licht präsentiert bekommt, ist das wahrhaftig ein elektrisierendes Erlebnis. Järvi bringt den Brahms, den ich von Solti erwartet hätte (nur dass Soltis Brahms tatsächlich eine eher bedächtige Angelegenheit ist) – schnelle Tempi, peitschende Leidenschaft, die mit inniger Romantik alterniert – Kontraste bis zum Abwinken. Hinzu kommt die Qualität des Orchesters, die sich nicht allein in traumhaften Streichern, sondern exzellenten Bläsern und saftigem Schlagwerk bemisst. So sollten die Solohornstellen klingen, so hört sich ein erhabener Posaunensound an! Dieser Klangkörper als Residenzorchester, und die leidige Suche nach hanseatischer Weltklasse hätte sich erledigt.

Als Zugabe gibt es noch zwei Ungarische Tänze, die das Bremer Brahms-Konzept nahtlos weiterführen – Elan, Verve, Frische, aber immer auch Eleganz, kein plumpes Gepolter. Und natürlich wählt man hier nicht die ausgenudelten Vertreter als Rausschmeißer, sondern zwei nicht so häufig gespielte Tänze. Brahms als Überraschungsgast, vertraut-unvertraut – eine Druckbetankung, die die Innovationskraft des Bekannten feiert.

11. Dezember 2017

Ludwig – Barbara Hannigan.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2


Claude Debussy – Syrinx für Flöte solo (Ingrid Geerlings)
Arnold Schönberg – Verklärte Nacht op. 4, Fassung für Streichorchester

(Pause)

Alban Berg – Lulu-Suite / Symphonische Stücke aus der Oper „Lulu“ (Barbara Hannigan – Sopran)
George Gershwin – Suite aus „Girl Crazy“ (Barbara Hannigan – Sopran)


Schon spannend zu erleben, wie eine einzelne Person einen ganzen Saal im Griff haben kann. In diesem Fall Frau Hannigan, die als „crazy girl“ mit Gershwin singend, swingend und dirigierend das Publikum spätestens mit ihrer gewollt theatralischen Schlussgeste ausflippen ließ – den Arm in bester Musical-Manier gen Himmel gereckt. Aber die Frau ist eben auch ohne Frage ein Phänomen, ob in ihrer Hamburger Lulu (Link) am Rande der Selbstauflösung, oder heute bei der Vermittlung einiger Klassiker der Moderne mit abschließender Broadway-Sahnehaube. Welch Kontrast zu dem weitgehend blutleeren Gershwin-Reigen (Link) der Abordnung aus Brügge im August, waren doch heute die rund zehn Minuten als Rausschmeißer mehr Wert als seinerzeit der ganze Abend. Wie Frau Hannigan als Lulu alles gibt, so spult sie auch den amerikanischen Liebling der Massen nicht einfach herunter, sondern sorgt gleichermaßen für Intensität und Tiefe. Da wird gehaucht, gegurrt, vor allem aber gegrooved, wie man es sich nicht mitreißender wünschen könnte.

Die Art und Weise, wie sie sich bei all dieser Stimmakrobatik zudem noch selbst mit dem hervorragenden Ensemble Ludwig begleitet, zeugt neben allem Showtalent vor allem von umfassendem musikalischen Verständnis, ja symbiotischer Vertiefung – Sängerdarstellerin und Pultschamanin. Letzteres wird vor allem da deutlich, wo Frau Hannigan „nur“ dirigiert – welch eine feingliedrige, intime, beseelte wie berauschende Verklärte Nacht. Wobei der Dirigierstil eben mehr Ritus als Pultalltag evoziert. Nur schade, dass hier Hans und Franz im Saal stückbedingt sehr schnell konzentrationstechnisch an ihre Grenzen gelangen, schade um so manch vehement zerbrechliches Pianissimo. Da ging es mit dem Berg nach der Pause überraschenderweise fast besser, wahrscheinlich ist die portionierte Aufnahme schwerer Kost doch banausenverträglicher.

Apropos, was liefert diese Nicht-Zielgruppe doch unentwegt und verlässlich für humoristische Perlen: „Das war jetzt ein Streichorchester, also nur Geigen, also fast.“ Hat nur das vom Gatten entgegnete „Ach was.“ gefehlt, um einen lupenreinen Loriot zu bauen. Der Einstieg mit Debussys Flötentönen bei heruntergedimmter Saalbeleuchtung sorgte ebenfalls mehr für Wendehalsmanöver auf der Suche nach der Geräuschquelle denn meditative Einstimmung, aber sei's drum. Was bleibt, ist ein Konzert der Spitzenklasse für Feinschmecker und die gern wahrgenommene Gelegenheit, das Multitalent Hannigan einmal mehr bestaunen zu dürfen. Man sieht sich in der Staatsoper bei der Lulu-Wiederaufnahme.

10. Dezember 2017

Orgel pur – Iveta Apkalna.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 4, Platz 8


Franz Liszt – Legende Nr. 1 S 175/1 
„St. François d’Assise: La prédication aux oiseaux“ 
(Transkription für Orgel von Günther Berger)

Thierry Escaich – Evocation III

Johann Sebastian Bach – Passacaglia c-Moll BWV 582

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Passacaglia aus der Oper 
„Lady Macbeth von Mzensk“

Arturs Maskats – Präludium, Choral und Variationen über J. S. Bach 
„Uns ist ein Kindlein heut’ gebor’n“ BWV 414

Franz Liszt – Präludium und Fuge über den Namen „B-A-C-H“ S 260

Zugabe: Thierry Escaich – Evocation II


Leider wieder recht viele musikferne Schichten im Konzert – Konzernausflug und dergleichen. Orgelkonzert gabs wohl günstiger. Die Vogelpredigt zur Vorstellung der Register und Klangfarben – für ganz Doofe sogar mit Hinterleuchtungs-Dramaturgie. Aber ok, das Auge hört ja mit. Musikalisch ein erstes Ausrufezeichen: Leises, Feines, der einzelne Kuckucksruf, dann wieder das Aufrauschen im Orgelpfeifen-Gefieder – hier schlummert wirklich Imposantes hinter der Röhrentropfsteinhöhlen-Dekoration.

Das zweite Stück überfordert die Eumel-Fraktion vollends – was sind das für fremde Tone? ... Sehr eindrucksvolle, wenn man mich fragt – Kaskaden, Echowirkungen, krasse Cluster, ganz viel Druck – herrlich! Mein Lieblingsbach, die Passacaglia, hätte hingegen durchaus noch etwas mehr Dampf vertragen, zumal sich der Richtersche Sog nicht so ganz einstellte. Ein, zwei Unsicherheiten? Insgesamt aber ein fabelhaftes Klangbild. Vielleicht fehlt auch ein bisschen der sakrale Nachhall. So ist das Moment ganz auf der Präzision.

Mein Platz könnte besser nicht sein – leicht versetzt hinter der Organistin, die am mobilen Spieltisch auf der Bühne Platz genommen hat, der Blick über die Schulter bietet perfekte Einsicht auf die spielenden Hände. Die Solistin auf die Bühne zu bringen, hat schon was, außerdem wissen dann die Honks, wo sie hinschauen müssen – oh, erst ganz in Weiß, dann nach der Pause ganz in Schwarz gewandet.

Die Schostakowitsch-Passacaglia entfaltete dann endlich jene Sogwirkung, den ich beim Bach noch etwas vermisst hatte – in solch einer mächtigen Steigerung kann die Orgel ihr ganzes Wucht-Potenzial entfalten. Das Stück von Maskats legte den Schwerpunkt dann wieder mehr auf die Vielseitigkeit des Instruments.

Den Höhepunkt des Abends markierte für mich jedoch ohne Zweifel die Lisztsche Reverenz an Bach. Ich liebe dieses Stück und habe damit zigmal die heimischen Wände zum Erzittern gebracht – es heute so vollendet in dieser Akustik zu erleben, hatte etwas Erhebendes. Apkalna kostet die Kontraste zwischen inniger Verklärung und bombastischen Eruptionen bestmöglich aus – was für ein Klang-Trip!

Ein weiteres Escaich-Stück beschloss als Zugabe den fulminanten Einstand in mein Orgel-Abo. Die Messlatte für die nächsten Konzerte liegt in himmlischen Höhen. Leider scheint die Wahrnehmung vieler anderer Besucher wieder mal in profaneren Gefilden hängen zu bleiben. Zwar traut sich diesmal kaum jemand, während des Konzertes die Biege zu machen, aber gleich mit dem Schlussapplaus nehmen nicht wenige die Beine in die Hand.

Was für eine respektlose Bände, aber das kennt man hier ja schon. Ein auf dem Weg zur U-Bahn aufgeschnappter Kommentar fasst die Geisteshaltung des typischen Elphi-Touristen zusammen: „Also, das war schon ein Erlebnis ... aber die Musik war nicht schön“. Ich halte es da lieber mit Frau Apkalna, applaudiere der Orgel, großen Kompositionen und, nicht zuletzt, einer großartigen Solistin.

1. Dezember 2017

Orchestre Métropolitain de Montréal –
Yannick Nézet-Séguin.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Pierre Mercure – Kaléidoscope

Hector Berlioz – Les nuits d’ été (Marie-Nicole Lemieux – Alt)

(Pause)

Camille Saint-Saëns – Konzert für Violoncello und Orchester
Nr. 1 a-Moll op. 33 (Jean-Guihen Queyras)

Edward Elgar – Enigma-Variationen op. 36

Zugabe: Maurice Ravel – Pavane pour une infante défunte


Das Fazit diesmal vorweg: Immer wieder schön, wenn man positiv überrascht wird. Nachdem mich das erste Konzert, dass ich mit Herrn Nézet-Séguin und seinem Klangkörper aus Rotterdam (Link) erleben durfte, relativ kalt gelassen hatte, erschloss sich mir heute mit Nachdruck, warum dieser Mann zu den führenden jungen Dirigenten gezählt wird. Aber zunächst ein paar Worte zu den einzelnen Programmpunkten.

Mercures Kaleidoskop ist Programmmusik, wie sie im Buche steht. Sehr eingängig, abwechslungsreich, die rhythmischen Passagen erinnern entfernt an Copland oder Bernstein, insbesondere was den Drive angeht. Dann geht es wieder sehr passioniert, schwelgend zu – Filmmusik, könnte man meinen. Das Orchester ist bestens aufgelegt, minimale Schwachstellen im Blech, dafür ausgesprochen feines Holz und gute Streicher – einzig die Bässe ungewöhnlich wenig präsent – mag das an der Positionierung (mittig hinten) liegen? Dirigierte Nézet-Séguin den Mercure ohne Taktstock, aber mit Partitur, griff er für Berlioz wieder zum Stöckchen.

Ja, der Berlioz: Ein Wahnsinns-Zyklus. Diese Klangfarben, diese Innigkeit, somnambule Entrückheit – der Tristan vorausgedacht, ebenso wie die Liebesnacht von Dido und Aeneas. Die Sängerin war anfangs gar nicht mein Fall, ihre Stimme erschien mir etwas säuerlich (Alt ist aber ja häufig „problematisch“). Doch mit fortlaufender Dauer erkannte ich, was in dieser Kehle schlummert: Technisch wunderbar, Phrasierung topp und vor allem in den ganz leisen, intimen Passagen unglaublich sensibel. Eben genau passend zu Nézet-Séguins Lesart, die alles aus der Akustik herausholt. In dieser Form sind solche musikalischen Zärtlichkeiten wohl nur hier unter diesem Dach umsetzbar. Streicher und Holz feinfühligst, die Hörner jetzt tadellos – ein wahrer Traumklangteppich. Hypersensibel, ich muss es wiederholen.

Was man vom Publikum leider weniger behaupten konnte – Mitfilmen, Unruhe, Huster, Dummbatz-Applaus zwischen den Berlioz-Sätzen. Aber zum Glück, wenn es akustisch drauf an kam, dann doch halbwegs gesittet. Das Cellokonzert von Saint-Saëns erweist sich als äußerst kurzweilig, der Solist ohne Fehl und Tadel, wenn auch etwas blass. Hätte bisschen mehr Druck und Saft vertragen können, dafür sehr edel, schlank, ätherisch.

Und dann kam Elgar und Nézet-Séguins große Stunde. Wenn man gemein sein möchte, könnte man den jungen Stardirigenten als hoffnungslosen Softie bezeichnen. Nein, im Ernst, der Bursche ist potenzierter Feinsinn, kostet jede Phrase bis ins letzte Detail aus, ohne dabei zu schleppen – im Gegenteil: Nimrod relativ flott und trotzdem zaubert er eine Bombensteigerung hin. Und wenns sein muss, kann der Kanadier auch Kante – Blech-Einsätze mit ordentlich Knack, im Finale wird die dynamische Reserve ausgekostet, dass der britische Pomp den ganzen Saal erbeben lässt. 

Bei der im Anschluß daran gegebenen Ravel-Zugabe wird, wie schon im Elgar, ein ganz zentraler Punkt der Handschrift Nézet-Séguins bestätigt: Transparenz. Ist es hier beispielsweise die Harfe, welche ganz klar das feine Klanggewebe durchglitzert, waren es im Nimrod die Celli, die ich so präsent als Teil des Streichergefüges noch nie wahrgenommen hatte. In jedem Fall ist der Mann prädestiniert für das Sanfte, Schwebende, „Französische“ – ich bin mehr als gespannt auf das baldige Wiedersehen mit seinen Kollegen aus Philadelphia und Bernstein sowie Tschaikowsky im Gepäck – damit hätte ich dann auch Nézet-Séguins aktuelles Orchesterportfolio komplett.

Laut der kleinen Ansprache seines Chefdirigenten handelt es sich um die erste (Europa?-)Tournee des Orchestre Métropolitain de Montréal seit seinem Bestehen – ich will doch schwer hoffen, dass der Reisewille nach umjubelten Konzerten wie diesem für die Zukunft endgültig geweckt ist.