29. Juni 2019

Die Hugenotten – Stefan Soltész. Semperoper Dresden.

Premiere – 18:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 6, Platz 37



Es ist mir schon ein paarmal passiert, dass ich, vom Wunsch getrieben, einen Besuch besonders reflektiert festhalten zu wollen, einen Text auf die lange Bank geschoben habe. Meistens hab ich dann aber doch noch irgendwann die Kurve gekriegt, reflektiert oder nicht, Notizen sei Dank. Nicht so dieses Mal. Wir schreiben den September 2022 und die Hugenotten sind einfach auf der Strecke geblieben. Was umso bedauerlicher ist angesichts der Tatsache, dass ich den Abend damals musikalisch wie szenisch sehr genossen habe. So viel ist dann doch hängengeblieben.

Aber anstatt jetzt doch vielleicht noch in Dresdner Archiven oder im Netz nach den Puzzleteilen dieser Produktion zu forschen – bei der ich übrigens die Ehre hatte, einer Einführung der besonderen Art durch Herrn Konwitschny persönlich in kleinem Kreis lauschen zu dürfen – nehme ich eine andere Abzweigung und nutze diese Zeilen, um meiner Bestürzung über den Tod von Stefan Soltész zum Ausdruck zu bringen. Die Nachricht von seinem Zusammenbruch während der schweigsamen Frau in München ist erst einige Wochen alt. Ich konnte Herrn Soltész bei einigen Gelegenheiten erleben, ob an der Staatsoper Hamburg, im Konzert oder an seiner langjährigen Wirkungsstätte in Essen. Er war keiner der „Stardirigenten“, wenn es so etwas überhaupt gibt, aber bei mir als jemand abgespeichert, auf den man sich musikalisch verlassen konnte. Umso schöner – wenn man das in diesem Zusammenhang sagen darf – dass er mir mit diesen Dresdner Hugenotten mit seiner für mich stärksten Leistung in Erinnerung bleiben wird.


Die Hugenotten
Opéra in fünf Akten
Musik – Giacomo Meyerbeer
Text – Eugène Scribe, Gaetano Rossi und Émile Deschamps

Musikalische Leitung – Stefan Soltész
Inszenierung – Peter Konwitschny
Konzeptionelle Mitarbeit – Bettina Bartz
Bühnenbild und Kostüme –Johannes Leiacker
Licht – Fabio Antoci
Chor – Jörn Hinnerk Andresen
Dramaturgie – Bettina Bartz, Kai Weßler

Die Hugenotten
Raoul de Nangis, Edelmann – John Osborn
Marcel, sein Diener – John Relyea
Bois-Rosé, ein Soldat – Jürgen Müller

Die Katholiken

Catherine de Médicis, Regentin von Frankreich – Sabine Brohm
Marguerite de Valois, Königin von Navarra, ihre Tochter – Venera Gimadieva
Der Graf de St. Bris – Tilmann Rönnebeck
Valentine, seine Tochter – Jennifer Rowley
Der Graf von Nevers, Verlobter der Valentine – Christoph Pohl
Cossé, Edelmann – Simeon Esper
Tavannes, Edelmann – Aaron Pegram
De Retz, Edelmann – Chao Deng
Méru, Edelmann – Magnus Piontek
Maurevert, Edelmann – Mateusz Hoedt
Urbain, Page der Marguerite – Stepanka Pucalkova
Léonard, Diener von Nevers – Gerald Hupach
Erste Hofdame – Michal Doron
Zweite Hofdame – Grace Durham
Zwei Mädchen – Petra Havrankova, Brynne McLeod
Drei Mönche – Wooram Lim, Juan Carlos Navarro, Reinhold Schreyer-Morlock
Zwei Hofmusikerinnen – Kana Takenouchi (Flöte), Aline Khouri (Harfe)
Bassklarinette – Christoph Korn

Sächsische Staatskapelle Dresden
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Knaben des Kinderchors der Sächsischen Staatsoper Dresden Damen und Herren der Kamparserie






25. Juni 2019

Symphoniker Hamburg – Sylvain Cambreling.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 4, Platz 11



Anton Webern – Passacaglia d-Moll op. 1 für Orchester
Sergej Prokofjew – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 C-Dur op. 26

(Pause)

Piotr I. Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64

Symphoniker Hamburg
Martha Argerich – Klavier
Dirigent – Sylvain Cambreling



Ach Leute. Können wir uns darauf einigen, dass ich für jeden Huster, der in den Saal geblafft wird, einen Euro bekomme? Und für jedes Foto mit Blitz bzw. Auslösersound vielleicht zwei? Einen Heiermann für jedes Handyklingeln? Ich bräuchte mir dann bald keine Gedanken über meine Rente zu machen. Heute war das Publikum wieder besonders dümmlich, viele Bus-Pomeranzen, soweit ich das übersehen konnte. Einen Handy-Hattrick muss man erst mal hinbekommen, Chapeau! Ich glaube man könnte das sicher ausrechnen oder im Labor erforschen, wie viele Trottel pro Besucher die Saalatmosphäre verträgt, bis sie gesättigt ist und das Experiment umkippt. Natürlich kommt an solch einem Tag dann noch höhere Gewalt in Form eines Notarzteinsatzes hinzu (ja, ja, das Wetter), kurzum: Die Rahmenbedingungen hätten kaum rezeptionshemmender sein können.

Dass es dennoch ein lohnenswerter Abend wurde, ist in erster Linie Frau Argerichs Verdienst. Das Prokofjew-Konzert war mir unbekannt, löste aber unter ihrer stupenden Tastenbehandlung spontan den Reflex bei mir aus, es gleich nochmal hören zu wollen. Wirklich schade, dass während der kompletten Aufführungsdauer so viel Unruhe im Saal herrschte, da eine bedauernswerte Dame pünktlich zum Beginn kollabierte und danach versorgt wurde. Kann man nicht ändern, machte ein konzentriertes Zuhören jedoch weitgehend unmöglich. Umso bemerkenswerter, welchen starken Eindruck die wenigen Darbietungsfetzen machten, die ich verarbeiten konnte. Frau Argerichs Spiel zeichnet eine teils aberwitzig perlende, mühelos wirkende Geläufigkeit aus, zudem besitzt sie einen Anschlag der Kategorie zauberzart, so dass die Präsentation dieses komponierten Wirbelwinds voll keck-verschmitztem Feuer und melodisch verwunschenen Oasen allen Widrigkeiten zum Trotz aufhorchen ließ.

Das opus 1 von Webern hörte ich ebenfalls zum ersten Mal. Hatte ich gedanklich mit seiner spätromantischen Tondichtung „Im Sommerwind“ verwechselt, die allerdings gar keine Opuszahl trägt. Die Passacaglia von 1908 ist schon eine ganze Ecke progressiver als das vier Jahre zuvor entstandene Idyll, wandelt allerdings nach wie vor (noch) auf den Pfaden der Tonalität – wenn auch irgendwo auf halben Weg in die Moderne, dem späten Mahler einen Besuch in der Schrekergasse abstattend. Das Werk hat etwas Unheimliches, Beunruhigendes, gleichzeitig fasziniert es durch eine entrückt betörende Melodik und Harmonik; grelle, gellend expressive Ausbrüche erwachsen aus einem subtilen, mitunter fast kargen Gespinst. Definitiv eine Entdeckung.

Definitiv eine Enttäuschung war für mich dann leider der Tschaikowsky nach der Pause. Was keinesfalls an den Symphonikern Hamburg lag, das Orchester klingt nach wie vor mehr als überzeigend, vor allem der Streichersound hätte die Sinfonie theoretisch zu einem Erlebnis werden lassen können, theoretisch, wohlgemerkt. Nach den äußerst vielversprechenden Begegnungen mit Cambrelings Beethoven (Generalprobe 9.) und Cambrelings Debussy (Link), musste ich heute feststellen, dass sich Cambrelings Tschaikowsky so gar nicht mit der Sicht vereinbaren lässt, in der sich mir dieses Werk darstellt.

Die Bauchschmerzen fangen gleich mit dem Kopfsatz an, der in Cambrelings Interpretation nichts von der Dramatik, dem grimmigen Ringen zwischen Melancholie und Sehnsucht auf der einen und den mit Macht hereinbrechenden, namentlich vom Blech gestalteten Schicksalsschlägen auf der anderen Seite aufweist. Gerade dieses Disparate in der stetig voranschreitenden Struktur, seine Kontraste im Charakter haben mich immer an diesen Satz gefesselt. Cambreling setzt hingegen auf größtmögliche Homogenität, das Drama tritt für eine schön musizierte Rundreise ohne Ecken und Kanten in den Hintergrund. Alles klingt sauber und wohlig, ja geradezu lieblich – man könnte auch harmlos sagen – Gegensätze in Sachen Ausdruck werden ebenso vermieden wie potenzielle Tempokontraste. Die Blechepisoden werden ausnahmslos majestätisch zelebriert, haben nichts Aufrüttelndes oder gar Bedrohliches, nicht zuletzt weil die Einsätze stets abgefedert, alles andere als forsch gesetzt werden. Überhaupt scheint Herr Cambreling eine leichte Lesart zu verfolgen – ein Element, welches sich durch alle Sätze zieht, ist die Betonung des Tänzerischen. Gleichermaßen eher gediegen als rauschhaft. So entfaltet das wunderschöne gesangliche Thema des ersten Satzes in seiner Steigerung nicht die gewohnte Sogwirkung, sondern hastet kurzatmig vorüber.

Und immer wieder geht es um Ausdruck, um Klangfarben. Die fahle Wehmut des zweiten Satzes weicht einer sonnigen Belanglosigkeit, außerdem hätte ich nicht vermutet, dass ein Anwalt der neuen Musik für das breite Streicherthema derart auf die Kitschtube drückt – Tschaikowskys Melodien sind süß genug und bedürfen keiner Nachzuckerung. Das im Schlusssatz zum trotzigen Marsch und schließlich „Jetzt-erst-recht“-Finale getürmte Schicksalsmotiv lädt heute mehr zum Schunkeln ein, als dass es die Faust ballte. Die berührende, wehmütige Passage, in der das Drängen kurz zur Ruhe kommt, fällt nicht weiter auf, weil dort ebenfalls die Übergänge geglättet werden. Es tut mir leid, aber der letzte Satz sollte dem Zuhörer schon einiges mehr abverlangen als Glanz und Schmalz.

Auch wenn das jetzt alles vernichtend klingt, war diese Erfahrung alles andere als unergiebig. Vor allem, weil mir dadurch wieder klar wurde, wie sehr man mit Tschaikowsky bei mir landen kann. Oder halt so gar nicht. Ich schätze Sylvain Cambreling trotzdem weiter als großartigen Dirigenten, schließlich ist es ja nicht der Fall, dass er keine eigene Handschrift an den Tag gelegt hätte – nur eben eine für mich persönlich sehr unleserliche. Bleibt abzuwarten, ob ich bei anderen geliebten Sinfonikern – Bruckner oder Mahler kommen mir in den Sinn – dem sympathischen Franzosen wieder folgen kann.


21. Juni 2019

SWR Symphonieorchester – Teodor Currentzis. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2



Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 60 »Leningrader«


Es ist wirklich bemerkenswert, wie Herr Currentzis dem Hype, der zweifellos teilweise in den Medien über ihn geschürt wird, mit Substanz mehr als Gerecht wird. Schon meine erste Begegnung, damals noch in der Laeiszhalle (Link), ließ mich aufhorchen und seitdem waren Konzerte mit seiner Beteiligung immer etwas ganz Besonderes. Heute gab es eigentlich zwei Faktoren, die mich verblüfft haben. Zum einen hatte ich das SWR Symhonieorchester, seinerzeit noch in Form seines unfusionierten Teils SWR SO Baden-Baden und Freiburg unter Dirigenten wie Gielen oder Cambreling, durchaus als gutes Orchester abgespeichert – auf den hier präsentierten Spitzenklang war ich dann allerdings doch nicht vorbereitet. Respekt. Keine Ahnung, ob Currentzis als neuer Chef diesbezüglich schon Akzente setzen oder auf eine mir entgangene Entwicklung aufbauen konnte, so oder so ist das Ergebnis bestechend. Womit wir beim zweiten Faktor des bewegenden Konzerts wären: der von Currentzis gewählten Lesart dieser an emotionalen Extremen sicher ohnehin nicht armen Sinfonie, wobei „Gangart“ es noch besser trifft. Der Dirigent scheint ein Händchen dafür zu besitzen, sein Orchester in einen Zustand zu bringen, als ginge es bei der Aufführung sprichwörtlich um alles oder nichts. Keine schlechten Voraussetzungen für solch ein Schicksalswerk wie die Leningrader, und ich muss sagen, dass ich diese Sinfonie wohl kaum zuvor mit solch elementarer Wucht und Hingabe bis ins Extrem aufgenommen habe. In dieser Intensität nichts, dem man sich täglich aussetzen sollte, aber das triff ja schließlich auf alle höchsten Dinge zu.

17. Juni 2019

Liederabend – Christiane Karg / Thomas Quasthoff /
Justus Zeyen. Elbphilharmonie Hamburg, kleiner Saal.

Einführung 18:30 Uhr, 19:30 Uhr, Reihe 1, Platz 21



Belles Amours

Ausgewählte Lieder von Francis Poulenc und Claude Arrieu
Lesung von Texten von Louise de Vilmorin

Francis Poulenc – Trois poèmes de Louise de Vilmorin
Louise de Vilmorin – Leben und Lieben der Louise de Vilmorin
Claude Arrieu – Poèmes de Louise de Vilmorin
Louise de Vilmorin – Auszüge aus den Romanen "Madame de ..." und "Liebesgeschichte"
Francis Poulenc – Métamorphoses

(Pause)

Louise de Vilmorin – Auszug aus dem Roman "Belles Amours"
Claude Arrieu – Le sable du sablier
Louise de Vilmorin / Duff und Diana Cooper – Eine Liebe zu Dritt / Auszüge aus Briefen
Francis Poulenc – Fiançailles pour rire

Christiane Karg – Sopran

Thomas Quasthoff – Lesung
Justus Zeyen – Klavier



Hatte sich in der – überaus erfrischenden und vor allem in Bezug auf die Vortragsanweisungen Poulencs sehr erhellenden – Einführung durch Frau Pfister bereits angedeutet, dass der Gegenstand des Lesungsanteils des Abends mich nicht unbedingt immens fesseln würde, bestätigte sich dies dann im Vortrag Quasthoffs. An und für sich könnte ich mir durchaus vorstellen, diesem wohlig-warmen Timbre auch bei der Artikulation von Bedienungsanleitungen oder Telefonbüchern gebannt zu lauschen, was jedoch nichts daran ändert, dass mich weder der Einblick in die Privatheiten der Dichterin, noch ihre Arbeitsproben nachhaltig erreichten. Mag sein, dass die Begegnung mit „pikanten“ Einzelheiten aus Biographie und schmachtendem (Brief-)Verkehr dem geneigten bildungsbürgerlichen Publikum ein frivoles Kichern zu entlocken vermag, mir persönlich sagte das alles herzlich wenig. Was natürlich einfach daran liegen kann, dass mir Frau Vilmorin bis zum heutigen Tage gänzlich unbekannt war und ich für gewöhnlich wenig Erbauung aus der Schilderung intimer Details Fremder ziehe.

Deutlich interessanter gestaltete sich jedoch die Einführung in das lyrische Werk der Künstlerin, wobei hier einerseits Herr Poulenc mit kompositorischer Hilfestellung der Ausschlag gebende Faktor gewesen sein dürfte, darüber hinaus Frau Kargs himmlische Stimme ihren Teil dazu beitrug. Musikalisch besonders fesselnd gestaltete sich vor allem der Zyklus „Fiançailles pour rire“, auch weil er unzweifelhaft nach dem Poulenc klingt, den ich aufgrund von Werken wie „Gloria“ oder den „Karmelitinnen“ sehr schätze. Die übrigen Lieder, ob nun von Poulenc oder seiner Kollegin Arrieu verfasst, konnten dieses Niveau zumindest nach erstmaligem Hören nicht halten. Ganz unabhängig davon ist die Leistung von Frau Karg allerdings nicht hoch genug zu bewerten. Ein lyrischer Sopran, wie er perfekt für Mahlers „Himmlisches Leben“ ist, zart und fein mit einer berührend unschuldigen Note, die bei Bedarf aber auch jederzeit ins keck Kokette oder auch feurig Dramatische umschlagen kann. Ihre stimmdarstellerische Wandelbarkeit beweist Frau Karg mit jedem einzelnen Beitrag, mal lässt sie die Noten fahl im Raum stehen, oder entrückt ersterben, dann wiederum erfüllt ihr glühendes Forte triumphierend den Saal. Macht es mich schon ein wenig wehmütig, Justus Zeyen mit seinem im klassischen Bereich leider verstummten Liedpartner Quasthoff auf einer Bühne zu sehen, wird dieser Umstand mehr als wett gemacht, wenn man erkennt, wie wunderbar das Duo Karg/Zeyen bei diesen duftigen Miniaturen harmoniert.

Fazit: Ein kleiner, feiner Abend, eine unwahrscheinliche Symbiose aus Melancholie und Leichtigkeit.

5. Juni 2019

Wiener Philharmoniker – Mariss Jansons.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Robert Schumann – Sinfonie Nr. 1 B-Dur op. 38 »Frühlingssinfonie«

(Pause)

Hector Berlioz – Symphonie fantastique /
Episode de la vie d'un artiste op. 14



Schockmoment gleich zu Beginn: Mariss Jansons müht sich sichtbar angestrengt mit unsicheren Tippelschritten zum Pult, wo eine Sitzgelegenheit auf ihn wartet. Von dieser macht er im Laufe des Abends zwar nur hin und wieder Gebrauch, doch den Maestro derart zerbrechlich zu sehen, ruft – auch angesichts seiner früheren gesundheitlichen Schicksalsschläge – wohl nicht nur bei mir tiefe Besorgnis hervor (Einige Tage später kam dann die wenig überraschende Meldung, dass er aufgrund einer ärztlich empfohlenen Regenerierungsphase alle Konzerte bis Ende August absagen müsse). Es bleibt mir nur, Herrn Jansons eine baldige Genesung und alles Gute für die Zukunft zu wünschen.

Wie sehr die Klassikwelt diesen Ausnahmedirigenten braucht, stellte er heute wieder eindrucksvoll unter Beweis. Zum Schumann kann ich zwar nicht viel sagen, da fehlen mir die Vergleichsmöglichkeiten, obwohl mir unter Umständen als jemand, der dieser Musik eher reserviert gegenübersteht, vielleicht mit einer etwas weniger kontrollierten, edlen Lesart mehr gedient wäre. Während die technische wie klangliche Meisterschaft der Wiener bereits hier ihre Wirkung entfaltete, schlug mit der heiß geliebten Symphonie Fantastique die Genialität der Konzeption Jansons’ voll durch.

Dabei war es besonders spannend zu erleben, dass aufgrund eingehender vorangegangener Rezeption angesammelte Lehren über Wirkungsweisen und Präferenzen bestimmter Parameter im Einzelnen und Ausführungen in der Gesamtheit jederzeit durch eine selbst beinahe gegenteilige Präsentation zumindest für die Dauer einer Aufführung egalisiert werden können – sofern diese Aufführung derart zwingend gestaltet ist, wie ich sie heute bestaunen durfte. Ein durchgehend langsames Grundtempo gehört in der Regel nicht zu den Faktoren, mir „meine“ Symphonie Fantastique entstehen zu lassen. Bei Jansons fügt sich dieses ungewohnte Tempo jedoch als eines von vielen Steinchen bei der Herstellung eines Mosaiks ein, dessen Detailtiefe und Dramatik kaum steigerungsfähig erscheinen.

Allein wie zart die Coda des ersten Satzes unter Jansons Führung verklingt, oder welch geradezu plastisch sprechende Wirkung die wehmütige Szene auf dem Lande erzielt – die Feinheiten der Partitur hat man live selten so minutiös ausgelotet erlebt. Der Gang zum Schafott wiederum bärbeißig, ohne zu eilen, desgleichen das ganze Hexensabbat-Finale, in dem es Jansons gelingt, eine immense Wucht zu entfesseln, ohne dabei, wie gesagt, besonders auf die Tube zu drücken. Gewaltig-gewaltsam Eruptives statt gnadenlose Hetze, wie ich sie beispielsweise an einem Solti schätze. Es gehört einfach zum Größten, gerade auf solche durch und durch wohlvertrauten Werke durch Ausnahmekönner wie Jansons und das Klangwunder aus Wien einen ganz neuen Blick beschert zu bekommen – einen Blick, der die Größe des Werkes und die Meisterschaft seines Urhebers frisch wie bei der ersten Begegnung unterstreicht. Meinen tiefsten Dank dafür.

4. Juni 2019

Mahler Chamber Orchestra – Teodor Currentzis.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Morton Feldman – Madame Press died last week at ninety

Johannes Brahms – Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53

(Pause)

Johannes Brahms – Ein deutsches Requiem op. 45

Mahler Chamber Orchestra
musicAeterna chorus of Perm Opera
Wiebke Lehmkuhl – Alt
Nadezhda Pavlova – Sopran
Tobias Berndt – Bariton
Dirigent – Teodor Currentzis



Feldman: statt 5 Stunden wie seinerzeit auf Kampnagel (Link) heute mal schlanke 5 Minuten als Appetizer. Nachdem bei verdunkeltem Saal Bachs „Jesu meine Freude“ per Fernchor das eigentliche Programm ebenso überraschend wie bewegend einleitete, folgte unmittelbar darauf das kurze Stück des Amerikaners, welches man als Klangvariationen über ein Intervall bezeichnen könnte. Eigentlich kein wirklicher Omaschreck, höchstens ungewöhnlich durch seine streng repetitive Form. Während die Flöte – nur an wenigen Stellen von der Trompete abgelöst – ein und das selbe Intervall für jedes der 90 Lebensjahre der verstorbenen Klavierlehrerin des Komponisten intoniert, wird es von den übrigen Instrumenten des schmal besetzten Kammerorchesters auf immer neue Weise begleitet bzw. harmonisiert. Die Celesta, Kraft ihres Namens ein himmlisches Instrument, klammert das Werk, bekam aber am Ende ärgerliche Konkurrenz durch ein die Stille zerstörendes Attentat eines weiteren Handy-Dümmlings. Currentzis hob mahnend den Finger, doch allein was hilft´s – wo kein Hirn ist, wird keines wachsen.

Rhapsodie: Was für ein feines Stück, äußerst zart dargeboten. Lemkuhl toll – rund und voll und doch innig. Currentzis stets darum bestrebt, nuanciert zu bleiben, nicht zu forcieren. Sehr stimmig und delikat.

Requiem: Abgesehen davon, dass Teodor Currentzis zu Recht über eine große Fangemeinde verfügt, die ihn frenetisch feiert und ein ganzes Publikum mitzuziehen vermag und davon, dass wir heute eine wirklich bestechende Aufführung des Brahms-Requiems erleben durften, kann ich dennoch nicht verhehlen, den Saal mit ambivalenten Gefühlen verlassen zu haben. Was soll man von Teilen des Publikums halten, die nach dem wahnsinnig fragilen Schlusssatz in die magische Stille übersprungartig hineinpoltern. Leute, die es nicht mal raffen, nachdem sie Currentzis bereits nach dem ersten Satz mit eindringlicher Geste darauf hingewiesen hat, dass das heute kein Arien-Potpourri wird. Denen es offenbar wirklich an jeglicher Form von Antenne dafür mangelt, warum der eben noch mit den Armen wedelnde Kauz nun zur Salzsäule erstarrt ist – ist doch jetzt aus, das Ganze, oder nicht? Da hilft auch kein Zischen der Wissenden, da ist die Atmosphäre schon perdu.

Was soll man von parfümgetränkten Schicksen halten, die beim Schlussapplaus unmittelbar in die Begeisterungssimulation wechselnd standing ovations geben, nachdem man die Hälfte des Konzerts damit verbracht hat, gelangweilt aufs Handy zu glotzen und dabei ihre Umgebung zu illuminieren. Ich sag ja gar nicht, dass einen das Konzert unbedingt angesprochen, gar umgehauen oder berührt haben muss, aber warum zur Hölle sollte man das dann schauspielern? Da bekommen der hübsch inszenierte Applausreigen und der bebende Saal leider einen schalen Beigeschmack. Eigentlich völlig bizarr diese Gedanken/Gefühle, da es ohne Frage ein richtig, richtig gutes Konzert war.

Und den größten Anteil daran hat tatsächlich Herr Currentzis. Das Brahms-Requiem verschnarcht nach hinten raus ja gern mal, diese Gefahr besteht hier nie. Wie seinerzeit Haitink mit den Bayern (Link) schaffen es heute Currentzis und seine Kollegen ebenfalls, dem Werk eine gleichbleibend fesselnde Dramaturgie zu entlocken, den Fluß nicht abreißen zu lassen – wenn auch mit deutlich anderen Akzenten. So ist der fast beispiellos atmosphärische Beginn zwar zart, aber doch ein gutes Stück von dem überirdisch ätherischen Einstieg Haitinks entfernt. Während dessen Interpretation fraglos spannungsvoll und kontrastreich war, geht es heute gerade an den Kulminationspunkten extrem knackig, ja explosiv zur Sache. Mit welchem Biss der Chor im zweiten Satz sein Vergänglichkeitsbild entfesselnd würde, deutete bereits die Vehemenz der Pauke bei der Vorbereitung des Ausbruchs an. Der vorletzte Satz mit seinem ungezügelt skandierten „Tod, wo ist dein Stachel“gerät Dank des flotten Tempos, mehr jedoch noch aufgrund der scharf akzentuierten, punktierten Rhythmik wahrhaft zu einem trotzigen Triumph der Lebenden über Trauer und Verzweiflung. So radikal ist mir das Stück an dieser Stelle wohl noch nie begegnet.

Gleichsam entfalten die leisen Töne unter Currentzis’ unentwegt mäandernd formenden Händen ihre anrührende Wirkung. Die Sopranistin bewegte mit betörend inniger Stimme, entsprach jedoch nicht zu 100 % meinen Vorstellungen einer lupenreinen Intonation. Der Einspringer-Bariton war mir persönlich etwas zu schwach auf der Brust, klanglich in Ordnung, aber für meine Sicht auf die Partie mit zu wenig Charakter, oder besser narrativer Intensität. Akustisch war der Gesamteindruck, wie bei einem Kammerensemble zu erwarten, durchweg transparent, wobei ich gerade in Kombination mit dem starken Chor eine größere Streicherbesetzung bevorzuge, um ein breiteres, satteres Fundament zu realisieren. Auf der anderen Seite sorgte der sonore Einsatz der Orgel für fundamentale Gänsehautmomente. Der Chor aus Perm nutzt seinerseits die klare Akustik und besticht durch ausgezeichnete Textverständlichkeit.

Fazit: Currentzis ist unabhängig des Hypes um ihn der Dirigent für die besondere Sicht auf Gewohntes und findet, wie schon vor Jahren in der Laeiszhalle erlebt (Link), für diese Mission glücklicherweise die richtigen Mitstreiter.