25. Juni 2019

Symphoniker Hamburg – Sylvain Cambreling.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 4, Platz 11



Anton Webern – Passacaglia d-Moll op. 1 für Orchester
Sergej Prokofjew – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 C-Dur op. 26

(Pause)

Piotr I. Tschaikowsky – Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64

Symphoniker Hamburg
Martha Argerich – Klavier
Dirigent – Sylvain Cambreling



Ach Leute. Können wir uns darauf einigen, dass ich für jeden Huster, der in den Saal geblafft wird, einen Euro bekomme? Und für jedes Foto mit Blitz bzw. Auslösersound vielleicht zwei? Einen Heiermann für jedes Handyklingeln? Ich bräuchte mir dann bald keine Gedanken über meine Rente zu machen. Heute war das Publikum wieder besonders dümmlich, viele Bus-Pomeranzen, soweit ich das übersehen konnte. Einen Handy-Hattrick muss man erst mal hinbekommen, Chapeau! Ich glaube man könnte das sicher ausrechnen oder im Labor erforschen, wie viele Trottel pro Besucher die Saalatmosphäre verträgt, bis sie gesättigt ist und das Experiment umkippt. Natürlich kommt an solch einem Tag dann noch höhere Gewalt in Form eines Notarzteinsatzes hinzu (ja, ja, das Wetter), kurzum: Die Rahmenbedingungen hätten kaum rezeptionshemmender sein können.

Dass es dennoch ein lohnenswerter Abend wurde, ist in erster Linie Frau Argerichs Verdienst. Das Prokofjew-Konzert war mir unbekannt, löste aber unter ihrer stupenden Tastenbehandlung spontan den Reflex bei mir aus, es gleich nochmal hören zu wollen. Wirklich schade, dass während der kompletten Aufführungsdauer so viel Unruhe im Saal herrschte, da eine bedauernswerte Dame pünktlich zum Beginn kollabierte und danach versorgt wurde. Kann man nicht ändern, machte ein konzentriertes Zuhören jedoch weitgehend unmöglich. Umso bemerkenswerter, welchen starken Eindruck die wenigen Darbietungsfetzen machten, die ich verarbeiten konnte. Frau Argerichs Spiel zeichnet eine teils aberwitzig perlende, mühelos wirkende Geläufigkeit aus, zudem besitzt sie einen Anschlag der Kategorie zauberzart, so dass die Präsentation dieses komponierten Wirbelwinds voll keck-verschmitztem Feuer und melodisch verwunschenen Oasen allen Widrigkeiten zum Trotz aufhorchen ließ.

Das opus 1 von Webern hörte ich ebenfalls zum ersten Mal. Hatte ich gedanklich mit seiner spätromantischen Tondichtung „Im Sommerwind“ verwechselt, die allerdings gar keine Opuszahl trägt. Die Passacaglia von 1908 ist schon eine ganze Ecke progressiver als das vier Jahre zuvor entstandene Idyll, wandelt allerdings nach wie vor (noch) auf den Pfaden der Tonalität – wenn auch irgendwo auf halben Weg in die Moderne, dem späten Mahler einen Besuch in der Schrekergasse abstattend. Das Werk hat etwas Unheimliches, Beunruhigendes, gleichzeitig fasziniert es durch eine entrückt betörende Melodik und Harmonik; grelle, gellend expressive Ausbrüche erwachsen aus einem subtilen, mitunter fast kargen Gespinst. Definitiv eine Entdeckung.

Definitiv eine Enttäuschung war für mich dann leider der Tschaikowsky nach der Pause. Was keinesfalls an den Symphonikern Hamburg lag, das Orchester klingt nach wie vor mehr als überzeigend, vor allem der Streichersound hätte die Sinfonie theoretisch zu einem Erlebnis werden lassen können, theoretisch, wohlgemerkt. Nach den äußerst vielversprechenden Begegnungen mit Cambrelings Beethoven (Generalprobe 9.) und Cambrelings Debussy (Link), musste ich heute feststellen, dass sich Cambrelings Tschaikowsky so gar nicht mit der Sicht vereinbaren lässt, in der sich mir dieses Werk darstellt.

Die Bauchschmerzen fangen gleich mit dem Kopfsatz an, der in Cambrelings Interpretation nichts von der Dramatik, dem grimmigen Ringen zwischen Melancholie und Sehnsucht auf der einen und den mit Macht hereinbrechenden, namentlich vom Blech gestalteten Schicksalsschlägen auf der anderen Seite aufweist. Gerade dieses Disparate in der stetig voranschreitenden Struktur, seine Kontraste im Charakter haben mich immer an diesen Satz gefesselt. Cambreling setzt hingegen auf größtmögliche Homogenität, das Drama tritt für eine schön musizierte Rundreise ohne Ecken und Kanten in den Hintergrund. Alles klingt sauber und wohlig, ja geradezu lieblich – man könnte auch harmlos sagen – Gegensätze in Sachen Ausdruck werden ebenso vermieden wie potenzielle Tempokontraste. Die Blechepisoden werden ausnahmslos majestätisch zelebriert, haben nichts Aufrüttelndes oder gar Bedrohliches, nicht zuletzt weil die Einsätze stets abgefedert, alles andere als forsch gesetzt werden. Überhaupt scheint Herr Cambreling eine leichte Lesart zu verfolgen – ein Element, welches sich durch alle Sätze zieht, ist die Betonung des Tänzerischen. Gleichermaßen eher gediegen als rauschhaft. So entfaltet das wunderschöne gesangliche Thema des ersten Satzes in seiner Steigerung nicht die gewohnte Sogwirkung, sondern hastet kurzatmig vorüber.

Und immer wieder geht es um Ausdruck, um Klangfarben. Die fahle Wehmut des zweiten Satzes weicht einer sonnigen Belanglosigkeit, außerdem hätte ich nicht vermutet, dass ein Anwalt der neuen Musik für das breite Streicherthema derart auf die Kitschtube drückt – Tschaikowskys Melodien sind süß genug und bedürfen keiner Nachzuckerung. Das im Schlusssatz zum trotzigen Marsch und schließlich „Jetzt-erst-recht“-Finale getürmte Schicksalsmotiv lädt heute mehr zum Schunkeln ein, als dass es die Faust ballte. Die berührende, wehmütige Passage, in der das Drängen kurz zur Ruhe kommt, fällt nicht weiter auf, weil dort ebenfalls die Übergänge geglättet werden. Es tut mir leid, aber der letzte Satz sollte dem Zuhörer schon einiges mehr abverlangen als Glanz und Schmalz.

Auch wenn das jetzt alles vernichtend klingt, war diese Erfahrung alles andere als unergiebig. Vor allem, weil mir dadurch wieder klar wurde, wie sehr man mit Tschaikowsky bei mir landen kann. Oder halt so gar nicht. Ich schätze Sylvain Cambreling trotzdem weiter als großartigen Dirigenten, schließlich ist es ja nicht der Fall, dass er keine eigene Handschrift an den Tag gelegt hätte – nur eben eine für mich persönlich sehr unleserliche. Bleibt abzuwarten, ob ich bei anderen geliebten Sinfonikern – Bruckner oder Mahler kommen mir in den Sinn – dem sympathischen Franzosen wieder folgen kann.